Читать книгу Kein Weg ist lang - Joe Schlosser - Страница 4

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Prolog

Es verdiente ohne Zweifel die Bezeichnung „Anwesen“, was er sich vor Jahren hier außerhalb von Lilienthal gebaut hatte. Oder besser: errichten ließ. Inmitten eines 30.000 Quadratmeter großen Parks stand seine Villa. Zweigeschossig mit ausgebautem Dach. Einst Landsitz eines zu Wohlstand gekommenen Bremer Getreidehändlers und jetzt ergänzt durch einen gewaltigen, modernen Anbau. Blaue Pfannen und geschwungene Gauben schwebten seiner Frau vor. Und sie setzte sich damit durch, die alte Kaufmannsvilla um einen ihrer Ansicht nach architektonisch perfekt angeordneten Anbau zu erweitern, der das alte Haus an drei Seiten umgab. Andere Stimmen sprachen von einer Verschandelung des schönen, ehemaligen Landsitzes. Neureich und unkultiviert, spotteten alteingesessene Anwohner und verwehrten ihm den wirklichen Zugang in ihre Kreise der ehemaligen Dorfgemeinschaft. Aber zwischen den Tönen war auch Neid zu hören, auf einen, der es geschafft hatte und nun Eigentümer dieses Prachtbaus war und damit selbstbewusst machte, was er wollte. Der Putz strahlte weiß zwischen all dem Grün hervor. Rhododendren, Bäume und Bäumchen. Ausgedehnte Grasflächen, auf denen so allerlei Gerät der Bauern aus dem vergangenen Jahrhundert ausgestellt war und die einem großen Swimmingpool Raum boten. Das Haus sah nach Platz aus. Viel Platz. Die Vierergarage war geschickt an das Haupthaus angeschlossen und wirkte wie ein riesiger Wintergartenanbau. Statt der Garagentore hatte er große, breite Glastüren einbauen lassen, die sich automatisch hoben, wenn sie mittels der Fernbedienung in Gang gesetzt wurden. Durch die Scheiben konnte jeder einen Blick auf die englische Luxuslimousine, seinen edlen Geländewagen und den weißen Maserati werfen. Das Porschecabriolet seiner Frau war noch das günstigste unter diesen Karossen. Das Grundstück wurde von einer halbhohen weißen Mauer umgeben und ließ den Blick auf all die Wohlhabenheit auf dem Gelände zu. Ein Fehler. Während er eingangs allen zeigen wollte, was er geschafft hatte, bereute er später, dass viele missgünstige Blicke ihn nun unbehelligt auf seinem Anwesen ausmachen konnten. Immer wieder dachte er daran, die Mauer erhöhen zu lassen. Aber er konnte sich letztendlich nie dazu entschließen. Er war hin und her gerissen zwischen dem vermeintlichen Genuss, neidische Blicke zu erhaschen, und einem unzweifelhaft bestehenden Sicherheitsinteresse. Für sich und seine Familie.

Vor Jahren war das Bürogebäude seines Firmenimperiums noch mit auf dem Gelände angesiedelt gewesen. Er wollte seine Mitarbeiter wenigstens optisch an seinem Reichtum teilhaben lassen. Aber die Diskrepanz zwischen seinem Einkommen und den knauserigen Gehältern, die er seinen Angestellten zahlte, wuchs so sehr, dass er sich entschloss, in Bremen eigens ein Bürohaus bauen zu lassen. Ein paar Kontakte, die Ankündigung, einige seiner Firmen steuerlich wirksam in Bremen anzusiedeln, und schon verkaufte ihm die Stadt ein zentral gelegenes Grundstück zu einem Spottpreis. So lief das eben. Das hiesige Bürogebäude ließ er entkernen und umbauen, um darin seinem Hobby nachgehen zu können. Der Sammlung historischer Automobile. Eine stattliche Anzahl Oldtimer hatte er schon beisammen. Echte Raritäten befanden sich darunter. Und wenn er Gäste aus der Geschäftswelt einlud, war ein Gang durch diese heiligen Hallen ein obligatorischer Zeitvertreib. Und auch so mancher hohe Beamte oder Politiker, dessen Loyalität er sich versichern wollte, konnte die erlesenen Restaurationen bewundern und hier einen Umschlag mit dem erforderlichen Geld zugesteckt bekommen. Und er wurde auch noch öffentlich gelobt für sein Engagement zum Erhalt automobiler Kultur. Aber in Wirklichkeit interessierte ihn nur der gegenwärtige Wiederverkaufspreis des jeweiligen Automobils. Denn der spekulative Zugewinn der Veräußerung eines seiner Schätze war steuerfrei.

Er war also einer, der es nicht nur zu einigem Reichtum gebracht hatte. Er wollte auch immer mehr. Geld und Einfluss, Macht. Die Jagd nach Gewinn war sein Lebenselixier. Und er wollte unbedingt auch steuerlich irrelevanten Gewinn. Das war das Schönste für ihn. Die Beschaffung von Schwarzgeld war das Salz in der Suppe seines Lebens. Was konnte man damit nicht alles machen. Leute bestechen, unter der Hand Immobilienpreise drücken und so Steuern sparen. In schwierigen Zeiten mal jemanden bezahlen, der wieder für Klarheit am Markt sorgte. Uneinsichtige bezähmen und überzeugen. Ja, natürlich hatte er es nicht immer leicht. Er musste seinen Kuchen schon verteidigen. Nicht nur das Finanzamt drohte von außen, auch im Inneren seines kleinen Imperiums führte seine Affinität zur Halbwelt und zu obskuren Persönlichkeiten einer ebenso obskuren Geschäftswelt immer wieder zu Schwierigkeiten, die er nicht mit Hilfe staatlicher Organe lösen konnte. Während er zu Beginn seiner Karriere auch schon mal selbst die Dinge in die Hand nehmen und riskant agieren musste, erlaubte ihm seine heutige finanzielle Situation, fremde Dienste in Anspruch zu nehmen. Das kostete zwar, aber er brauchte sich selbst die Hände nicht mehr schmutzig zu machen. Was nicht bedeutete, dass er, wenn es im Notfall erforderlich sein würde, seine Angelegenheiten nicht auch selbst regeln konnte. Aber er versuchte seine Weste frei von Flecken zu halten. Mittlerweile war er ein angesehener und umworbener Bürger geworden. Durch die Verlagerung seiner Firmen nach Bremen bescherte er der Stadt trotz seiner Gegenmaßnahmen einen nicht unerheblichen Steuersegen, galt als Investor und Wohltäter. Er war im Rathaus genauso gern gesehen wie auf den vielen gesellschaftlichen Anlässen, die die Stadt beging. Und auf seinen eigenen Partys tauchten schon lange keine Zuhälter und Barbesitzer mehr auf. Er achtete schon sehr genau darauf, wen er mit wem zusammenbrachte und wen er beeindrucken wollte. Er bevorzugte Konstellationen, die ihm später einmal hilfreich und somit einträglich sein konnten. Er war ein charismatischer Heuchler geworden. Viele ließ er in dem Glauben, mit ihnen befreundet zu sein. Aber wenn es hart auf hart ging, kannte er nur sich. Wenn es an der Zeit war, ließ er Menschen einfach fallen. Wenn es erforderlich war, zerstörte er sie. Es waren wirklich zwei Welten, in denen er sich bewegte, und es gelang ihm, diese peinlich genau zu trennen und voneinander fernzuhalten. Jedenfalls meistens.

Doch jetzt war geschäftlich wie privat einiges aus dem Ruder gelaufen. Zwischen diesen beiden Bereichen unterschied er innerlich eigentlich nicht. Egal, woher die Probleme kamen: Sie gingen ihn immer persönlich an. Und er löste sie immer auf die gleiche Art und Weise: konsequent und zielgerichtet. Er hatte sie auch diesmal wieder in den Griff bekommen. Aber es war nicht leicht gewesen. Und es war ihm klargeworden, dass die bloße Erhöhung der Mauer um sein Grundstück keinen Sinn machen würde.

***

„Eine Million. Das ist nicht wenig“, sagte er, ohne dass eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen war. Vor ihm saß eine Frau in den Fünfzigern mit geröteten Augen, und durch die Blässe ihres Gesichtes schimmerten rote Flecken. Hektische Flecken, dachte er und hoffte, dass sie durchhalten und nicht in Kürze zusammenklappen würde. Zuerst brauchte er die notwendigen Informationen. Dann konnte sie von ihm aus abkippen in einen hysterischen Anfall, Nervenzusammenbruch oder was auch immer, und sich eine Beruhigungsspritze verpassen lassen. Er blickte auf die goldene Rolex mit dem Brillantenkranz an ihrem Handgelenk.

„Ist die Beschaffung dieser Summe für Sie ein Problem?“ fragte er betont nüchtern. Mitgefühl war in seinem Geschäft störend. Wie jede andere Emotion auf seiner Seite. Unkontrollierte Gefühle hatten seine Geschäftspartner zumeist in dieser Situation reichlich.

Sie schüttelte den Kopf und ignorierte den feinen Faden, der aus ihrer Nase lief und auf den Tisch tropfte. Es wunderte ihn nicht, dass genügend Geld zur Verfügung stand. Wenn er engagiert wurde, war Geld nicht das Problem.

„War der Anrufer nervös oder ruhig, und haben Sie noch andere Stimmen gehört?“

„Sie glauben, dass es mehrere sind?“ Endlich sagte sie wieder etwas. Reden war wichtig. Für sie und ihn. Sie konnte sich also schon zusammenreißen, wenn sie wollte.

„Eine Million hört sich nach Teilen an. Wenn der Anrufer ruhig und sachlich war, arbeitet er nicht alleine.“

„Er war ruhig.“

„Das ist ein gutes Zeichen“, erwiderte er, obwohl er es noch gar nicht genau wusste. Aber er brauchte sie. Gefasst. Dann musste sie noch einmal versuchen, das Telefonat wiederzugeben.

„Ich saß im Büro, und die Zentrale stellte das Gespräch durch. Ich meldete mich mit meinem Namen, und ein Mann erklärte mir, dass unser Sohn in seiner Obhut wäre.“

Es drängte ihn, sie hier schon zu unterbrechen. Aber er zügelte sich. Jetzt bloß nicht ihren Redefluss stoppen.

„Dann sagte er nur noch, dass wir ihn für eine Million zurückbekommen. Und wir sollten nicht auf die Idee kommen, die Polizei einzuschalten. Und dass er sich wieder melden würde. Ich dachte, das ist ein gemeiner Scherz, und rief sofort auf dem Handy unseres Sohnes an. Aber es meldete sich nur ganz kurz dieselbe Stimme. Er wollte nur noch eine Durchwahl direkt in unser Haus haben, die er zukünftig anrufen konnte. Da wusste ich, dass es stimmte.“

Als Erstes wollte er wissen, ob der Anrufer wirklich das Wort „Obhut“ benutzt hatte, oder sie sich nur kultivierter ausdrücken würde als er. Er hatte „Gewalt“ gesagt. Das war kein gutes Zeichen. Aber er sagte ihr nichts davon. Dann spulte er seinen Fragenkatalog herunter, bis sie nicht mehr konnte. Er hatte für seine Unterhaltung mit ihr den Esstisch gewählt. Form- und haltgebende Stühle mit hohen Lehnen und eine Tischplatte zum Aufstützen der Arme. So hielten seine Gesprächspartner einfach länger durch. Aber jetzt war Schluss. Wie fast immer in diesen reichen Haushalten stand ein vertrauter Arzt bereit, der ihr jetzt vom Stuhl half und sie irgendwo in diesem riesigen Haus nach oben in eines der Schlafzimmer brachte. Dort bekam sie dann ihre erste Beruhigungsspritze und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, von dem sie später glaubte, es hätte ihn nie gegeben. Er rekapitulierte die erhaltenen Informationen und begann sich erste Notizen in seinen kleinen Taschenkalender zu schreiben. Der Anrufer: männlich, geschätztes Alter der Stimme: zwischen dreißig und vierzig. Hintergrundgeräusche: keine. Kurze, präzise Aussprache des Nötigsten. Dieselbe Stimme am Handy des Sohnes. Der Entführer wusste, dass die Mutter zuallererst dort anrufen würde. War das schon gut vorausschauend? Nein, es war einfach naheliegend. Aber das nachdrückliche „keine Polizei“ war in einer verschärften Stimmlage gekommen. Angsterzeugend, meinte sie, erschrocken habe sie sich.

Er wusste, dass sie selbst zwei Unternehmen in der Firmengruppe ihres Mannes führte. So leicht zu erschrecken war sie gewiss nicht. Auf diesem Sektor hatte sie bestimmt schon so einiges erlebt.

Täter entschlossen und gefährlich, schrieb er weiter. Und: Sicherheit geben, Vertrauen aufbauen. Geschäftsbeziehung begründen.

Er klappte sein Mobiltelefon auf und wählte die Nummer seines Büros. Seine Angestellte war nach dem zweiten Klingeln schon am Apparat. Sie erwartete seinen Anruf. Er gab ihr die Telefondaten von Stefan, und sie versprach, sich schnell zurückzumelden. Es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder meldete. Er wusste, dass das bedeutete, dass eine Handyortung nicht mehr möglich war. Es war also längst abgeschaltet. „Letzter Standort war der Parkplatz am Weserstadion. Vor elf Stunden.“ Diesen Hinweis konnte er vergessen.

Durch die Fenster des großen Erkers sah er neben einem weißen Garagenkomplex mit vier strahlenden Glastoren ein schwarzes Bentleycoupé halten. Ein sehr gepflegter, breitschultriger Mann Mitte fünfzig, leichter Bauchansatz, dunkelblond getöntes, volles Haar, stieg ruhig und gelassen aus dem Wagen. Ein teures, blaues Wollsakko unterstrich seine Erscheinung und seine Klassenzugehörigkeit. Wenig später kam er ihm im Esszimmer entgegen und reichte ihm die Hand. „Gut, dass Sie gleich zur Verfügung stehen konnten.“

Er erhob sich und ergriff die große, warme Hand des anderen. Auch er stellte sich vor und nickte kurz und zackig. So wie er es bei allen seinen Kunden tat.

„Gehen wir ins Arbeitszimmer“, schlug der Hausherr vor und wies ihm mit einer einladenden Geste den Weg. Er registrierte, wie gefasst dieser Mann war. Der Umstand, dass sein Sohn entführt worden war, schien ihn nicht zu erreichen. Sie durchschritten ein mit teuren, modernen Möbeln geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, in dem man auch drei Schulklassen gleichzeitig hätte unterrichten können, gelangten über einen Flur in den hinteren Teil des Hauses, und in jedem, der diesen Weg gehen würde, musste das Gefühl aufkommen, dass der Flur als Verbindungsglied zu einer anderen Welt diente. Vom riesigen, lichtdurchfluteten und in Weiß gehaltenem Wohnzimmer gingen sie in einen mit grüngoldenen Brokattapeten tapezierten, engen Flur mit hohen Wänden und dann in eine Art Raucherzimmer. Hier standen schwere braune Ledersessel und Sofas. Die Wände mit dunklem Holz vertäfelt. Tageslicht fiel nur durch die an einer Seite gelegenen Fenster. An einigen Stellen wurde die Vertäfelung durch in die Wand eingelassene Bücherschränke unterbrochen. Obwohl auch dieser Raum sehr hoch war, drückte die schwere, hölzerne Kassettendecke nach unten. Sein Gastgeber durchschritt den Raum und zog zwei Flügel einer weit über Kopfhöhe hinausragenden Tür auf und ließ ihm den Vortritt. Das Arbeitszimmer war ebenso konservativ eingerichtet. Viel dunkles Leder, braunes Holz, massiver Schreibtisch aus Eiche. Aber Fenster zu drei Seiten. Ihm wurde bewusst, dass sich im vorderen Teil des Hauses die Ehefrau seines neuen Geschäftspartners wohlfühlte, er aber den alten Teil des Hauses vorzog. Er wollte die Entführung seines Sohnes in seinem Arbeitszimmer besprechen. Wie einen der vielen anderen Termine in seinem Tagesgeschäft. Problem erkennen, Problem lösen. Nächstes Vorhaben. Eine Situation, die, sofern sie sich bestätigen würde, ihm selbst sehr angenehm war. Keine Hysterie, keine Hektik. Nüchternes Abwickeln. Ihm wurde ein Clubsessel in einer Besprechungsecke zugewiesen. Auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen stand ein Humidor. Sein Gegenüber entnahm ihm eine Zigarre und bot ihm auch eine an. Er schüttelte den Kopf. „Ich rauche nicht.“ Mit einem langen Streichholz entzündete der Hausherr seine Zigarre und zog ein paar Mal kräftig an ihr. Dann schaute er beruhigt auf die Glut an ihrer Spitze und begann.

„Sie sind mir von Geschäftsfreunden empfohlen worden. Eigentlich bin ich in der Lage, meine Probleme selbst zu lösen. Aber in diesem Fall ... Meine Frau findet es besser, Sie einzuschalten. Also gut: Das Lösegeld steht ab morgen zur Verfügung. Spätestens übermorgen. Man sagte mir, Ihr Honorar beläuft sich auf zehn Prozent? Ganz schön viel. Kann man darüber noch mal sprechen?“

Er brauchte nicht zu überlegen. „Nein. Das Honorar ist nicht verhandel-bar.“

Mit mürrischem Blick zog der ihm gegenüber sitzende Mann an seiner Zigarre. Er schien es nicht gewohnt zu sein, auf preisdrückende Verhandlungen verzichten zu müssen. „Nun gut. Aber es trifft zu, dass Sie mir in der Höhe Ihres Honorars eine Rechnung für mein Geschäft schreiben?“

„So ist es. Es wird als Honorar für Leistungen meiner Firma in Rechnung gestellt. Ganz offiziell. Damit Sie es absetzen können. Und die Rechnungssumme wird vorab von Ihnen gezahlt. Entweder übergeben Sie mir morgen einen bankbestätigten Scheck oder veranlassen eine Blitzüberweisung, so dass das Geld übermorgen bei mir gutgeschrieben ist. Ich habe Ihnen die entsprechende Rechnung mit den erforderlichen Unterlagen für Ihre Buchhaltung mitgebracht.“

Er überreichte einen Plastikhefter, der ein vorgefertigtes Manuskript enthielt. Die Rechnung lag obenauf. Sein Geschäftspartner zog die Mundwinkel nach unten und griff sich den Hefter. Ein kurzer, prüfender Blick: Rechnungsnummer, Kontodaten, Steueridentifikationsnummer. Alles da, was das Finanzamt wollte.

„Wie geht es jetzt weiter?“

Endlich waren die Formalitäten für diese Geschäftsanbahnung erledigt. Er klappte sein Notizbüchlein auf. „Die Telefonnummer, die Ihre Frau dem Entführer gegeben hat, wird umgeleitet auf ein Handy, das ich ausschließlich für diesen Auftrag betreiben werde. Beim nächsten Anruf übernehme ich das Gespräch. Ich erkläre dem Entführer, in welcher Funktion ich agiere und gebe ihm Garantien.“

Dann erläuterte er, dass er sozusagen Notar beider Seiten dieses Geschäftes sei. Er sorge für die Rückkehr des entführten Sohnes und dafür, dass die Entführer sicher ihr Geld bekämen. Alles ohne Polizei, alles ruhig und gesittet. Eine Geschäftsabwicklung eben.

„Sorgen Sie dafür, dass dieser Anschluss nicht unnötig blockiert wird. Und richten Sie mir ein Gästezimmer hier im Haus ein. Wenn alles vernünftig funktioniert, wird die Abwicklung unseres Vorhabens nur wenige Tage in Anspruch nehmen. Ich erwarte von Ihnen vollstes Vertrauen, keine Maßnahmen, die ohne Rücksprache mit mir getroffen werden, keine Polizei, keine Einmischung und das Befolgen aller meiner Anordnungen.“

Der Hausherr paffte aggressiv an seiner Zigarre. Er war es schon lange nicht mehr gewohnt, Weisungen anderer zu befolgen. Das behagte ihm nicht. Das fiel ihm schwer. Es war ihm zuwider. Er spuckte ein kleines Stückchen Tabak aus und nickte widerwillig.

Der neue Gast im Haus bezog ein kleines Zimmer mit engem Duschbad in der oberen Etage der Villa. Es war nur spärlich eingerichtet und drängte dem Besucher das Gefühl auf, nur möglichst kurz bleiben zu sollen. Dauergäste wollte man hier im Hause nicht.

Noch am Abend klingelte sein Telefon. Er nannte seinen Namen. Der Anrufer schwieg einen Moment. Das kannte er. Die Anrufer in diesem Metier waren immer erst überrascht, machten sich Gedanken, wenn sie eine Stimme hörten, die ihnen nicht vertraut war. Aber eines war klar: Ihre Gier nach dem Geld ließ sie zögern, einfach wieder aufzulegen. Er wartete kurz, dann fuhr er fort. „Sie sind richtig verbunden. Ich bin nicht von der Polizei, sondern von der Familie hinzugezogen worden, die nervlich nicht in der Lage ist, diesen Vorfall ruhig und gewissenhaft abzuarbeiten.“ Er schob eine Pause ein, um seinem Gesprächspartner Zeit zu geben, sich auf diese Situation einstellen zu können. Aber er wartete nicht zu lange. „Ich bin dafür da, dass Sie Ihr Geld bekommen“ – das Wichtigste wie immer zuerst –, „und dass das Kind wieder unversehrt nach Hause zurückkommt. Können wir auf dieser Ebene zusammenarbeiten?“

„Sind Sie Privatdetektiv oder so etwas?“ Er registrierte, dass er gesiezt wurde. Ein Zeichen von Respekt und Akzeptanz.

„Nein. Ich bin Vermittler. Ich arbeite wie ein Notar. Ich achte darauf, dass beide Seiten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Spezialisiert auf Geschäftsvorhaben wie dieses. Die betroffenen Familienangehörigen sind meistens zu nervös, um ein solches Geschäft ruhig und zur Zufriedenheit aller Beteiligten abzuwickeln. Dafür gibt es mich. Möglicherweise haben wir schon einmal zusammengearbeitet. Wenn Sie neu im Geschäft sind, werden Sie die Erfahrung machen, dass alles reibungslos verlaufen wird. Ich vertrete also nicht alleine die Interessen der Familie, sondern auch Ihre. Können wir auf dieser Basis zusammenarbeiten?“ Er fragte noch einmal. Er war bei der entscheidenden Frage angekommen. Er brauchte ein klares „Ja“. Doch sein Gesprächspartner war noch unentschlossen.

„Sie meinen also, Sie machen das alles. Ich kriege mein Geld, ich gebe Ihnen den Jungen. Und das warʼs dann?“ Ungläubigkeit sprach aus dieser Stimme. Es war also das erste Mal für ihn. Das machte es schwieriger.

„Genau so wird es sein. Falls Sie in der Branche Kontakte haben, erkundigen Sie sich nach mir. Man wird mich kennen. Jedenfalls in der gehobenen Kategorie, in der Sie sich bewegen.“ Ein wenig Schmeichelei war nicht falsch.

„Und wie geht das jetzt weiter?“ Endlich. Er hatte gewonnen.

„Notieren Sie sich eine Handynummer. Sie wird nur für dieses Geschäft benutzt werden. Danach nie wieder. Es gibt keine Fangschaltung. Keine Aufzeichnungen. Rufen Sie mich nur noch auf dieser Nummer an. Ich möchte in Kürze persönlich mit dem Kind sprechen und mich vergewissern, dass es ihm gutgeht. Danach können wir die Übergabe absprechen. Falls Ihre Vorschläge dafür nicht zu abwegig sind, werde ich auf alles eingehen. Ich übergebe das Geld persönlich. Ohne Begleitung. Keine Bewaffnung. Gewalt liegt mir fern und hat in unserem Geschäft nichts zu suchen. Sie können sich maskieren oder nicht. Das ist mir gleichgültig. Alles, was ich über Sie erfahre, wird von mir nicht weitergegeben. Das garantiere ich. Sonst wäre ich längst nicht mehr in diesem Geschäft. Kommen wir so überein?“

„Ich weiß noch nicht. Ich muss darüber nachdenken. Ich melde mich wieder.“

Er gab dem Entführer die Handynummer weiter und beendete das Gespräch. Alles war nach Plan gelaufen. Der Kontakt lief nur noch über ihn. Die Familie war ausgeschaltet. Risikominimierung. Einziger Wermutstropfen war, dass er es mit einem Ersttäter zu tun hatte. Da er wahrscheinlich nicht über einschlägige Kontakte verfügte, konnte er sich auch kein Bild von ihm und seiner Vertrauenswürdigkeit machen. Sein persönliches Risiko lag in der Geldübergabe. Wenn der Entführer keine Zeugen haben wollte, war nicht nur der Junge tot, sondern auch er selbst. Bei der Übergabe würde er sicher noch lebend präsentiert werden. Aber dann? Doch er machte sich darüber weiter keine Gedanken. Er hing nicht am Leben. Wenn es vorbei war, dann war es eben so. Und bislang hatte er noch jedes seiner diesbezüglichen Vorhaben zur Zufriedenheit aller gelöst. Tote oder Verletzte hatte es noch nie gegeben. Und nachträgliche Ermittlungen der Behörden auch noch nicht. Dafür war seine Tarnung einfach zu perfekt.

Manchmal, wenn Entführer auf die Hinzuziehung seiner Person bestanden, hatte er schon das Gefühl, dass der von ihm garantierte reibungslose Verlauf eines solchen Geschäfts den einen oder anderen Täter motivierte, gefahrlos eine weitere Entführung planen zu können, wenn das Geld mal wieder zu Ende war. Aber diese Gedanken belasteten ihn nicht wirklich. Entführer entführten eben. Und wenn er dafür sorgen konnte, dass alles einigermaßen glimpflich verlief, war er mit seiner Arbeit zufrieden. Das Geld interessierte ihn schon lange nicht mehr. Er hatte genug davon. Und nebenbei sorgte er dafür, dass die deutsche Kriminalstatistik nicht mit weiteren, besorgniserregenden Kapitalverbrechen belastet wurde. Und so hatten alle etwas davon. Die Politik eine funktionierende Sicherheit, die Angehörigen der Entführten ihre Lieben heil zurück. Sein Honorar konnten sie von der Steuer absetzen; er versteuerte es regulär. Und für die eigentliche Lösegeldsumme konnte in diesen Kreisen meist eine Regelung mit dem Finanzamt getroffen werden, falls sie nicht sowieso von einem Schwarzgeldkonto beglichen wurde. Und die Entführer führten das Lösegeld meistens gleich wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück, an dem das Gemeinwohl wenigstens mit der Mehrwertsteuer beteiligt war. Und Kriminalbeamte, die bei der Involvierung in solche Fälle das Leben der Entführten alleine schon durch ihre Einbeziehung gefährdeten, konnten sich um andere Dinge kümmern, die bestimmt auch wichtig waren. Nein, er hatte keinen Zweifel daran, dass er eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft übernommen hatte und irgendwo auch der Allgemeinheit diente. Im Kleinen wie im Großen.

Kein Weg ist lang

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