Читать книгу Einführung Ernährungspsychologie - Johann Christoph Klotter - Страница 8

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1 Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten der Ernährung

Im Folgenden werden zunächst einige gesellschaftlich-kulturelle Determinanten der Ernährung kurz abgehandelt. Hierbei werden auch geschichtliche Bezüge dargestellt. Dies ermöglicht einerseits eine Einschätzung unserer derzeitigen Ernährungssituation. Nur über den Blick in die Geschichte wird klar, wo wir heute stehen. Andererseits soll ersichtlich werden, dass Essverhalten nicht nur durch körperliche oder psychische Einflussgrößen bestimmt wird. Es ist also nicht nur das Individuum, das sagt: „Heute möchte ich Fleisch essen, morgen Fisch“. Vielmehr gibt es hierzu eine Vielzahl gesellschaftlicher und kultureller Vorgaben, die, ohne dass wir dies so genau wissen, uns stark beeinflussen.

Bei einem nur oberflächlichen Blick in die Geschichte wird klar, dass wir (Bewohnerinnen und Bewohner westlicher Industrienationen) in einer fast einzigartigen Situation leben: in der Epoche des Nahrungsüberflusses.

Ernährungstraditionen

Die Ernährungsweise, die in Deutschland üblich ist, entstammt nicht einer Ernährungstradition, sondern zweier, die überdies noch widersprüchlich sind: der mediterranen und der „barbarischen“. Ist die erstere eher maßvoll und vegetarisch, so ist die andere tendenziell maßlos und fleischorientiert. Dass dies zu Konflikten führt, ist naheliegend.

Beim Blick auf die Geschichte wird ebenfalls klar, dass Lebensmittelpräferenzen – unabhängig der genannten beiden Ernährungstraditionen – starken gesellschaftlich-kulturellen Einflüssen unterliegen. Warum verbietet die eine Kultur den Genuss von Katzen und die andere nicht? Wie ist es zu erklären, dass die Kartoffel in unserer Kultur lange verpönt war, sich dies aber dann änderte?

Essen und Macht

Nahrungsaufnahme ist nicht nur Physiologie, ist nicht nur Psychologie, sie ist auch mit gesellschaftlicher Macht verwoben. Durch fast die gesamte Geschichte hindurch wird z. B. mit Festgelagen oder mit dem Verspeisen von luxuriösen Lebensmitteln gezeigt, in welchen Händen die gesellschaftliche Macht liegt. Die Nahrungsaufnahme ist ein Indikator dafür, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe eine Person gehört. Mit ihrer Hilfe grenzt sich die eine gesellschaftliche Gruppe von der anderen ab. Vielleicht mag eine Person, die heute lebt, kein japanisches Essen. Da es aber „in“ ist, muss sie es sozusagen essen und vielleicht sogar auch noch gut finden. Damit teilt diese Person mit, dass sie zur gesellschaftlichen Elite gehören will.

Essstörung und Kultur

Eine bestimmte Kultur determiniert nicht nur das Essverhalten. Sie nimmt auch Einfluss darauf, was als Essstörung gilt und was nicht. Im spätantiken Rom wurde bei einem Gelage, um möglichst viel essen zu können, zwischenzeitlich das Vomitorium aufgesucht, in dem man sich durch Erbrechen erleichtern konnte. Die Römer haben dies aber nicht als Krankheit begriffen. Wir tun dies hingegen.

Nach den gesellschaftlich-kulturellen werden die sozialen Determinanten vorgestellt. Zu Kultur und Sozialem gibt es zahlreiche und unterschiedliche Definitionen. Hier soll eine einfache Unterscheidung getroffen werden. In Abgrenzung zu den kulturellen Faktoren, die im Prinzip eine ganze Gesellschaft in einer bestimmten Epoche betreffen, werden mit sozialen Faktoren Determinanten gemeint, die die Binnenstruktur einer Gesellschaft bestimmen. Es geht hierbei auch um die Unterschiede in einer Gesellschaft, um z.B. unterschiedliche soziale Schichten. Die Frage nach den sozialen Faktoren stellt sich also, weil eine Gesellschaft nicht homogen ist. Auch die Lebensbedingungen unterscheiden sich in einer Gesellschaft gravierend. Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ernähren sich ebenfalls unterschiedlich – und das nicht unbedingt aus freien Stücken, sondern häufig auch aus ökonomischer Not.

Zunächst soll betrachtet werden, welchen Einfluss die soziale Lage grundsätzlich auf die Gesundheit hat. Anschließend ist zu erörtern, wie speziell die soziale Lage die Ernährung beeinflusst. Des Weiteren ist zu fragen, welche unterschiedlichen Sozialisationstypen zu möglicherweise unterschiedlichen Typen von Ernährungsverhalten führen. Das Kapitel soll abgeschlossen werden mit allgemeinen, eine ganze Gesellschaft betreffenden, soziologischen Modellen zum Ernährungsverhalten. Diese Modelle befassen sich mit dem Thema, welche sozialen Funktionen die Ernährung und das Essen haben.

1.1 Schlaraffenland

der Hunger der Vorfahren

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Personen mit einem geringeren sozioökonomischen Status höhere Morbiditäts- und Mortalitätsraten aufweisen. Gesundheit ist also deutlich mit sozialer Ungleichheit verbunden (Mielck 2000, 2012; Helmert 2003; Kroll 2010). In einer historischen Perspektive relativiert sich diese Ungleichheit dahingehend, dass es uns allen vor dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte erstaunlich gut geht. Menschen, die z. B. vor 15.000 Jahren gelebt haben, hätten unsere Lebenssituation als Schlaraffenland gepriesen. Diese Menschen, die mitunter tagaus tagein auf der Suche nach Nahrung waren und immer wieder mehr schlecht als recht überlebten und häufig von Hungersnöten – aber auch permanent von Raubtieren – bedroht waren, diese Menschen hätten sich vermutlich nichts sehnlicher gewünscht, als vom Staat monatlich eine bestimmte Summe an Geld zu bekommen, mit der man ohne weiteres überleben kann.

höhere Lebenserwartung

Vielleicht hätten uns unsere Vorfahren auch um unsere Lebenserwartung beneidet. Diese lebten im Schnitt nur ca. 30 Jahre lang. Unsere Lebenserwartung dagegen ist auch aufgrund der sehr guten Lebensmittelversorgung stetig steigend. Kinder, die heute geboren werden, haben sehr gute Chancen, 90 bis 100 Jahre alt zu werden.

Schlaraffenland bedeutet auch, dass wir heute nicht tagaus tagein ausschließlich mit der Nahrungssuche beschäftigt sind. Unsere Vorfahren hatten vielfach zu nichts anderem Zeit, als sich Nahrung zu beschaffen. Heute hingegen arbeiten wir etwa acht Stunden pro Tag und geben keineswegs alles Geld nur für das Essen aus: Es reichen heute in der Bundesrepublik ca. 13 % des Durchschnittseinkommens aus, um die Ernährung sicherzustellen. Vor 40 Jahren mussten die Deutschen noch 30 % in die Ernährung investieren.

vergiftetes Paradies

Das menschliche Gedächtnis eignet sich eventuell nicht dazu, sich zu vergegenwärtigen, dass es uns heute in Europa, was die Nahrungsversorgung betrifft, ganz ungewöhnlich gut geht. Im Ge -genteil: Das Schlaraffenland begünstigt offenbar Vergiftungsfantasien. Bestseller wie „Iss und stirb“ (Kapfelsperger/Pollmer 1982) greifen diese Fantasien auf und füttern sie. Mit diesen Fantasien verleugnen wir möglicherweise kollektiv, wie gut es uns eigentlich geht. Vielleicht haben wir auch gegenüber den Menschen ein schlechtes Gewissen, die in den Entwicklungsländern unter der Armutsgrenze leben und hungern oder verhungern. Wenn wir dann annehmen, die Qualität unserer Lebensmittel sei nicht gut, dann wähnen wir uns quasi selbst in einem Entwicklungsland.

1.2 Zwei Ernährungstraditionen: die mediterrane und die „barbarische“

Maß oder Maßlosigkeit

Die ersten Menschen lebten ungefähr vor zwei Millionen Jahren. Vor 300.000 Jahren begannen Menschen damit, das Feuer bei der Nahrungszubereitung zu nutzen. Aber erst vor 150.000 Jahren gelang es den Menschen, systematisch das Feuer selbst herzustellen (Hirschfelder 2001). Um 10.000 v. Chr. begann das agrarische Zeitalter und damit eine im Prinzip bessere Absicherung menschlichen Überlebens. Damit verbunden war eine eher vegetarische Ernährung. Diese war vor allem ein Merkmal für die griechische und römische Antike. Der durch seine Kargheit und geringe Ergiebigkeit gekennzeichnete mediterrane Raum erlaubte keine umfangreiche Produktion von Fleisch. Aber gerade durch die Schwierigkeit, im Mittelmeerraum zu überleben, entstanden Hochkulturen, die sich u. a. in einer ausgeprägten Kunstfertigkeit in Naturbeherrschung äußerten. Korn, Wein und Ölbäume sind die Leitpflanzen dieser Kultur. Von den Körnern wiederum ist der Weizen die typische Kulturpflanze des mediterranen Raumes.

Die von Griechen und Römern als Barbaren bezeichneten Kelten und Germanen dagegen nutzten die unberührte Natur und jagten und sammelten dort, was sie zum Leben brauchten. Die Figuren aus „Asterix und Obelix“ legen hiervon Zeugnis ab. Die „Barbaren“ haben keine typische Kulturpflanze, stattdessen aber ein typisches Tier: das Schwein. Steht die griechisch-römische Antike unter dem ethischen Gebot der Mäßigung, das die Nahrungsaufnahme mit einschließt, so dominiert bei den „Barbaren“ die gegenteilige Vorstellung: Ein wahrer Mann zeichne sich darüber aus, dass er so viel wie möglich an Fleisch und Alkohol zu sich nehmen könne.

„Eine tiefe Kluft trennte die ‚römische‘ Welt von der ‚barbarischen‘ . . . und tatsächlich müssen wir eingestehen, daß zwei Jahrtausende gemeinsamer Geschichte nicht ausgereicht haben, ihre Spuren zu beseitigen.“ (Montanari 1993, 22)

Diese Feststellung von Montanari besitzt noch immer ihre Gültigkeit. Dies lässt sich daran erkennen, dass z. B. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die mediterrane Kost als ideale Nahrungsform begreift und mit diesem Ideal gegen die maßlose und fleischorientierte „barbarische“ Kostform zu Felde zieht. Das bedeutet auch, dass wir heutzutage noch immer im Konfliktfeld dieser beiden Kostformen leben.


In einer prototypischen Familie mag es noch immer vorkommen, dass der Vater auf dem täglichen Fleischgericht besteht. Für ihn ist dies Ausdruck von Wohlstand und Sozialprestige. Die Tochter giftet ihn mit ökologischen Argumenten an und ernährt sich vegetarisch. Dem Sohn ist dies alles ziemlich gleichgültig, und die Mutter versucht, Grünkernbratlinge einmal die Woche in den Speiseplan zu integrieren.

Die beiden Ernährungstraditionen spiegeln sich auch in unterschiedlichen Arten von Restaurants wider. Je nobler ein Restaurant ist, umso kleiner sind die Portionen, je ländlicher ein Gasthaus ist, umso stärker müssen die Teller beladen sein.

Kirche contra „Barbaren“

Eigentlich hätte die mediterrane Kost an Bedeutung verlieren müssen, da die „Barbaren“ Rom besiegten und bekanntlich der Sieger sich auch kulturell durchsetzt. Wenn da nicht die römischkatholische Kirche die antike Tradition fortgeführt hätte und auf ihrem Siegeszug durch Europa Brot, Wein und Öl zu den Symbolen des neuen Glaubens gemacht hätten.

1.3 Kulturelle und soziale Lebensmittelpräferenzen


In seinem Klassiker „Wohlgeschmack und Widerwillen – Die Rätsel der Nahrungstabus“ (1988) ist Harris der Frage nachgegangen, warum in einigen Kulturen Kühe nicht gegessen werden dürfen, in anderen keine Schweine. In unserer Kultur neigen wir dazu, weder die Hauskatze noch den Haushund zu verspeisen. Auch Insekten haben es uns nicht angetan. Harris sieht die jeweiligen Nahrungstabus nicht als willkürliche und irrationale Setzungen einer Kultur an, sondern begreift sie als höchst rational, auch wenn diese Rationalität nicht bewusst ist. Sein Resümee lautet: Eine Kultur verbietet das, was das Überleben dieser Kultur erschwert, was ihre Ernährungssituation beeinträchtigen würde (alternative Theorien zu der von Harris werden weiter unten aufgezeigt).


Wenn jemand in unserer Kultur einer westlichen Industrienation den kleinen Pudel am Sonntagmittag als Festbraten nicht verzehren will, so handelt es sich hierbei nicht um einen individuellen Tick, sondern um das Einhalten einer kulturellen Norm. Harris führt das europäische Tabu des Verbots, Haustiere zu verspeisen, u. a. darauf zurück, dass Haustiere in unserer Kultur wichtige andere Funktionen erfüllen und als Proteinlieferanten weniger Bedeutung haben.

identitätsstiftende Zivilisation

Von Montanari (1993) stammt das eben skizzierte Beispiel zweier Ernährungstraditionen und damit verbundener Lebensmittelpräferenzen (mediterran vs. „barbarisch“), die sich ungemein beharrlich über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende, aufrechterhalten. Von der Mentalitätsgeschichtsschreibung wird diese „Schwerfälligkeit“ einer Kultur als spezifisches Charakeristikum einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Zivilisation begriffen. Eine Zivilisation zeichnet sich gerade dadurch aus, dass bestimmte Werte und Strukturen die Jahrhunderte überdauern. Ernährung ist insofern auch zivilisationsstiftend, und diejenigen Menschen, die sich auf eine bestimmte Weise ernähren, fühlen sich so einer bestimmten Kultur zugehörig. In dieser Perspektive könnte man den geschichtlichen Prozess als sehr langsam begreifen, wenn man diesbezüglich dann überhaupt noch von Prozess sprechen kann.


Von dieser Langsamkeit zeugt auch die Einführung neuer Lebensmittel, die z. B. aus der Neuen Welt nach Europa gebracht wurden. Kartoffel und Mais wurden, obwohl sie bereits sehr viel früher als genügsame und ertragreiche Pflanzen den Hunger erheblich hätten lindern können, von der Bevölkerung nur sehr zögerlich angenommen (Prahl/Setzwein 1999). Es dauerte Jahrhunderte, bis sie akzeptiert waren. Und der Mais hat sich, weil er den Geruch, die Nahrung der armen Leute zu sein, nie ablegen konnte, bei uns nicht richtig durchgesetzt (Montanari 1993).

Was soll uns das Beispiel der Einführung von Kartoffel und Mais sagen? Vor den individuellen Lebensmittelpräferenzen liegen die kulturellen, die kollektiven. Vor den individuellen Präferenzen liegen aber auch die sozialen. Diejenigen Lebensmittel sind attraktiv, die die oberen sozialen Schichten konsumieren. Die unteren Schichten imitieren häufig das, was „oben“ geschieht (Elias 1978). Also auch hier ist die individuelle Präferenz sekundär.

kollektives Trinken – einsamer Zecher

Beim Drogenkonsum lassen sich ebenfalls kulturelle Präferenzen erkennen. Darauf macht Spode (1999) aufmerksam. So sei es eine Besonderheit des neuzeitlichen europäischen Alkoholkonsums, dass der exzessive Rausch als kollektives Erleben als unstatthaft gilt. Dieser sei früher legitim gewesen: „Ein Beispiel hierfür ist die Selbstverständlichkeit des Erbrechens beim archaischen Trinkgelage.“ (29) Bis zur Neuzeit habe man dagegen den „einsamen Zecher“ nicht gekannt. Auch die Mengen des Konsums scheinen kulturell-historischen Prozessen zu unterliegen. So wurden im frühen Mittelalter Mönchen in St. Gallen täglich fünf Maß Bier automatisch zugeteilt. Auch wenn das Bier damals vielleicht nicht den gleich hohen Alkoholanteil wie heute hatte, würden wir heutzutage eine tägliche Ration von fünf Maß Bier zumindest als sehr bedenklich einstufen. Aber auch zu Beginn der Neuzeit wurden Mengen an Bier getrunken, die heute in unserer Kultur nicht mehr denkbar wären: „Im 15./16. Jh. galt bei Adel und wohlhabenden Bürgern ein Jahreskonsum um 1000 Liter, teils auch das Doppelte, als gesund und standesgemäß.“ (39) Auch dass Kaffee- und Teegenuss in den letzten beiden Jahrhunderten den Konsum von Alkohol zurückgedrängt haben (Teuteberg 1999; Rothermund 1999), ist zunächst ein kultureller Prozess und erst dann ein individueller.

Zwang zur Individualität

Bisher konnte mit Hilfe einiger Beispiele gezeigt werden, dass unsere Ernährungsgewohnheiten weit weniger individuell ausgeprägt sind, als wir vermutlich erwartet haben. In den Zeiten der Individualisierung, in denen jeder Mensch seinen unverwechselbaren und eigenen Weg gehen muss (Beck-Gernsheim 1993), fühlen wir uns verpflichtet, in allem besonders individuell und einzigartig zu sein – auch bei der Nahrungsaufnahme. Deshalb favorisieren wir die Ausblendung kultureller und geschichtlicher Faktoren, die uns leider klar machen, dass die Kultur sehr viel darüber bestimmt, was und wie wir essen und was wir nicht essen (Ventura/Worobey 2013; Anderson 2014).

1.4 Arm und reich: Essen als Mittel der sozialen Distinktion

Fleisch und Macht

Die Kluft zwischen der mediterranen Kost und der „barbarischen“ ist bis heute nicht geschlossen, aber es steht außer Zweifel, dass sich beide Kostformen vermischt haben. Zwar hat die römisch-katholische Kirche einen teilweise erbitterten Krieg gegen die Maßlosigkeit geführt, auch wenn sie selbst oft der Völlerei verfallen ist, aber sie konnte nicht verhindern, dass Fleischkonsum zum Statussymbol der oberen Schichten der europäischen Gesellschaften wurde. Die antike Forderung an die Elite der griechischen Stadtstaaten, sich zu mäßigen, blieb im Mittelalter ungehört. Auch christliche Mäßigungsregeln wie das Fasten wurden in dieser Epoche nicht durchgehend umgesetzt. Fleisch und der Konsum hiervon in großen Mengen galten hingegen als untrügerische Indizien für Macht und für eine hohe gesellschaftliche Position. Die Mitglieder der oberen Stände waren sozusagen gezwungen, viel Fleisch zu konsumieren, um sich nach unten abzugrenzen.

Erst seit ca. 50 Jahren können sich die oberen Schichten unserer Gesellschaft nicht mehr durch Fleischkonsum von den unteren Schichten abgrenzen – weil fast alle Schichten die Möglichkeit haben, viel Fleisch zu essen. Die oberen Schichten mussten sich demnach neue Nahrungsgewohnheiten einfallen lassen, um ihren Status angemessen auszuweisen: z. B. durch Vegetarismus oder durch Schlankheit, also einer neuen Form der Mäßigung. Es ist auch gut möglich, sich mit exotischen Kostformen abzugrenzen, z.B. mit der asiatischen Küche in Europa.


Menell (1988) und Montanari (1993) geben eine Fülle von Beispielen, wie Nahrungsmittel genutzt worden sind, um eine soziale Schicht von der anderen sichtbar zu differenzieren. Elias hat in seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ (1978), und im Anschluss daran auch Menell (1988), herausgearbeitet, dass nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch die Zubereitungsformen oder die Tischsitten ausgezeichnete Mittel der sozialen Distinktion gewesen sind und es immer noch sind.


Auch heute noch dürfte ein Gourmet-Tempel für die meisten Menschen weniger ein verführerischer denn ein Ort des Grauens sein – muss man schließlich dort die unterschiedlichsten Gläser und Formen von Besteck unterscheiden und benutzen können.

Mit der Moderne und mit der Pluralisierung der Lebenswelten ist es sicherlich nicht mehr so einfach, von den Lebensmitteln und der Art der Zubereitung sowie der Form des Verzehrs auf eine bestimmte soziale Schicht zu schließen, aber dennoch hat die Nahrungsaufnahme als Mittel der sozialen Distinktion gewiss nicht ausgedient (Bourdieu 1987; Andrews 2012; Kahma et al. 2016).

1.5 Kultur und Essstörungen

eigenes Leiden?

Auch wenn Essstörungen in aller Regel und überwiegend leidvoll sind, so sind sie zugleich ein Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums. Essstörungen sind identitätsstiftend. Die Betroffenen definieren sich über ihre Essstörung, grübeln darüber, warum ausgerechnet sie bulimisch oder adipös sind. Was aber, wenn auch bei Essstörungen die Kultur mit eine Rolle spielt? Wenn das vermeintlich Ureigenste, das individuelle Leiden auch gesellschaftliche Ursachen hat? Üblicherweise versteht man Essstörungen als Ergebnis von z. B. genetischen Besonderheiten oder als Ausdruck psychischer Konflikte oder als eine Art von Problembewältigung. Keine Frage, dass Essstörungen diesen Hintergrund haben können. Aber eine Essstörung ist auch etwas, was zunächst als Essstörung definiert sein muss.

Definition einer Störung

In aller Regel definiert in unserer Kultur der Ärztestand, was als Störung gilt und was nicht als Störung bezeichnet wird. Das bis zur Neuzeit in Europa übliche exzessive Trinken von Alkohol in der Gemeinschaft gilt heutzutage als Ausdruck einer Pathologie. Es gälte nicht als normal. Eine körperliche oder psychische Auffälligkeit wie übermäßiges Trinken bedarf deshalb stets einer in einer Kultur üblichen Definition, um den Status einer Störung oder Krankheit zu gewinnen (Freidson 1979).

variable Norm

Und diese Definitionen sind relativ variabel. Das bedeutet, dass einmal in einer bestimmten Epoche ein bestimmtes Maß an Übergewicht als Störung gilt, in einer anderen Epoche hingegen als gänzlich normal. Die Betroffenen werden in der Regel die Definition der Experten akzeptieren und sich das eine Mal als krank, das andere Mal als gesund begreifen. Wenn eine Gesellschaft dafür Verständnis hat, dass junge Frauen, um ihr Figurproblem zu lösen, nach den Mahlzeiten erbrechen, dann gibt es keine Bulimia nervosa als anerkanntes Krankheitsbild. Wenn wie noch vor hundert Jahren bei Carl von Noorden, einem der bekanntesten Adipositasforscher seiner Zeit, ein 1,75 m großer Mann an die 90 kg wiegen darf, ohne als übergewichtig oder adipös mit Krankheitswert eingestuft zu werden, dann ist dieser Mann offiziell nicht krank. Er fühlt sich wahrscheinlich auch nicht krank und macht sich keine Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Er wird nicht bemüht sein, eine Diät zu beginnen. Er wird nicht darüber nachdenken, welche psychischen Probleme ihn in die Adipositas getrieben haben.

Idealgewicht

Wenn hingegen wie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Idealgewicht als gesundheitlich optimal angepriesen wird und alles Gewicht, das darüber liegt, als lebensverkürzend gilt, wenn sich zusätzlich das vorherrschende Schlankheitsideal der Frauen der Magersucht annähert, dann sind sozusagen von einem Tag auf den anderen große Bevölkerungskreise übergewichtig und adipös (s. Kasten 1.1).

Was ist das Idealgewicht? Es berechnet sich nach dem Broca-Normalgewicht, das früher der dominierende Gewichtsindex gewesen ist.

Broca-Normalgewicht = Körpergröße in cm minus 100

Das Idealgewicht ist dann: Broca-Normalgewicht minus 10 % für Männer und minus 15 % für Frauen.

Früher wurde angenommen, dass das Idealgewicht mit der höchsten Lebenserwartung einhergeht. Heute ist dies umstritten. Das Broca-Normalgewicht berechnet sich zwar einfach, aber es korreliert noch schlechter mit dem relativen Fettanteil am Gesamtkörpergewicht als der Body Mass Index, der weiter unten vorgestellt wird.

Kasten 1.1: Idealgewicht

Diese neue und sehr große Gruppe jetzt Übergewichtiger und Adipöser ist nun darum bemüht, das Gewicht zu reduzieren. Schließlich wird heutzutage Glück mit Schlankheit in Zusammenhang gebracht. Viken et al. (2005) konnten dies in einer Studie gut belegen, ebenfalls Swami et al. (2015) und Robertson et al. (2015).

Bilanz von Diäten

Gewicht zu reduzieren, gelingt aber nicht allzu häufig. Diäten und andere Formen der Gewichtsreduktion sind langfristig selten erfolgreich. Die um Gewichtsabnahme Bemühten sind angesichts der ausbleibenden Erfolge enttäuscht und essen angesichts der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen potenziell mehr als davor. Diätversuche führen tendenziell zu allen Formen von Essstörungen, also auch zur Bulimia nervosa oder zur Anorexia nervosa (Howard/Porzelius 1999; Neumark-Sztainer et al. 2006; Liechty et al. 2013; Saunders et al. 2016).


Angesichts dieses Sachverhaltes ist es nicht unerheblich, dass jedes dritte Mädchen bis zu einem Alter von zehn Jahren über Diäterfahrungen verfügt (Bruns-Philipps/Dreesman 2004). Neumark-Sztainer et al. (2000) ermittelten, dass mehr als 50% der Bevölkerung versuchen, ihr Gewicht zu kontrollieren: 56,7% der erwachsenen Frauen, 50,3% der erwachsenen Männer, 44% der Mädchen und 36,8% der Jungen. Bublitz (2010) gibt für die US-Bevölkerung an, dass sogar 75 % der Frauen Diätversuche hinter sich haben.

In einer anderen Studie von Schur et al. (2000) wurde ermittelt, dass 50 % junger Kinder ihr Gewicht reduzieren wollen und 16 % dies bereits versucht haben. 77 % dieser Kinder berichteten von Familienmitgliedern, die über die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten erzählt haben. Schur und Kollegen kommen deshalb zum Schluss, dass die Familie einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten und dessen Umstellung hat.

Diätversuche in Eigenregie sind allerdings zu unterscheiden von professionell durchgeführten Gewichtsabnahmeprogrammen. Diese münden in der Regel nicht in Essstörungen (Buryn/Wadden 2005). Dagegen verursacht kontrolliertes Essverhalten als alltägliches kulturelles Muster vor allem von Mädchen und jungen Frauen Essstörungen (Austin 2001).

Der eben modellhaft beschriebene Teufelskreis könnte eine Erklärung dafür liefern, warum die Anzahl adipöser Personen zunimmt. Dieser Teufelkreis könnte allerdings auch anders ausgehen. Er kann in Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa münden, also einmal in totaler Kontrolle der Essimpulse, das andere Mal in der Korrektur des übermäßigen Essens durch z. B. selbst induziertes Erbrechen. Festzuhalten bleibt, dass möglicherweise gesellschaftliche Einflüsse, nämlich die Setzung des Idealgewichts, dazu beigetragen haben, dass die Verbreitung der Adipositas und der Bulimia nervosa deutlich zugenommen hat.


Mit empirischen Studien kann diese Überlegung gut unterfüttert werden. Tiggeman und Slater (2004) führten 84 Frauen entweder Videoclips zu Popmusik mit dünnen Frauen vor oder Clips ohne diese. Bei der Gruppe, die die Clips mit dünnen attraktiven Frauen ansah, erhöhte sich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Die Frauen in dieser Gruppe begannen verstärkt, ihren Körper mit denen anderer Frauen zu vergleichen. Um diesen Effekt zu erreichen, reichte es aus, sechs Clips in der Länge von 15 Minuten anzuschauen. Die mediale Präsentation führt also zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Es ist anzunehmen, dass diese Unzufriedenheit teilweise mit Diätbemühungen beantwortet wird. Und dann ist der genannte Teufelskreis begonnen.

In einer Meta-Analyse bewerteten Groez et al. (2002) 25 experimentelle Studien, die den Einfluss medial vermittelter schlanker Körper auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild untersuchten. Ergebnis war, dass das Darbieten schlanker Körper zu einer Zunahme der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führte (Quigg/Want 2011; Mulgrew et al. 2014; Rustemeier et al. 2015; Mannat et al. 2016; Naumann et al. 2016).

1.6 Soziale Lage und Gesundheit

Bezüglich des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Gesundheit stimmen bestimmte Vorurteile nicht: Arbeitslose hätten ein entspanntes und gutes Leben, müssten nichts tun, lägen auf der faulen Haut und feierten. Wer arbeitslos ist oder von Sozialhilfe lebt, hat eine höhere Anfälligkeit für Erkrankungen zahlreicher Art. Zudem ist die Lebenserwartung verkürzt (Prahl/Setzwein 1999; Mielck 2000). Dies lässt sich allgemeiner fassen: Wer nicht viel verdient, wer keinen hohen Bildungsabschluss hat, ist kränker und stirbt früher. Das ist seit vielen Jahren bekannt (Novak 1980; Siegrist 1995).


In einer schwedischen Studie konnten Gerdtham und Johannesson (2000) zeigen, dass junge Männer mit dem niedrigsten Einkommen eine Reduktion der Lebenserwartung um 4,1 Jahre haben, die ältesten in derselben Einkommensgruppe immerhin noch eine Verringerung um 2,1 Jahre. Bei den Frauen ist es ähnlich.

Besonders beunruhigend ist, dass sich bereits aus einem niedrigen sozioökonomischen Status in der Kindheit eine erhöhte Mortalitätsrate im Erwachsenenalter voraussagen lässt (Claussen et al. 2003).

Arbeit und Gesundheit

Niedriger sozioökonomischer Status ist häufig verbunden mit schlechten Arbeitsbedingungen. Gerade bei der Koronaren Herzkrankheit scheint es sich so zu verhalten, dass schlechte Arbeitsbedingungen deren Anstieg begünstigen (Marmot et al. 1997). Das Vorurteil, Personen in beruflich höheren Positionen stürben eher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist also nicht gültig. Jedenfalls heute nicht mehr, vor 50 Jahren war es kein Vorurteil.

Diese Tendenz, dass sozialer Status, Arbeitsbedingungen und Gesundheit miteinander positiv korrelieren, gilt selbst noch unter den Wohlhabenden und Gebildeten: Der Chefarzt lebt im Durchschnitt länger als der Oberarzt (Syme 1991). Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass der Chefarzt mehr Entscheidungsspielräume hat als der Oberarzt. Doch der Unterschied zwischen der Lebenserwartung des Chef- und Oberarztes in einer Industrienation ist relativ klein – angesichts eines Blicks auf die gesamte Erde: Weltweit gibt es Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen den Nationen von 48 Jahren. Und innerhalb eines Landes wie der USA differiert die durchschnittliche Lebenserwartung je nach sozialer Schichtzugehörigkeit um 20 Jahre (Marmot 2005). In Deutschland ist diese Differenz viel geringer, sie ist dennoch nach wie vor da (BZgA 2013; Lampert et al. 2013).

1.7 Soziale Lage und Ernährung

Lebensstil

Die Ernährungsweise ist Teil eines bestimmten Lebensstils und nicht abzukoppeln von anderen Merkmalen dieses Lebensstils oder eines bestimmten sozialen Status. Andere Merkmale wären nach Prahl und Setzwein (1999): Arbeits- und Wohnverhältnisse, Inanspruchnahme von Expertenhilfe, Risikoverhalten und Drogenkonsum. Was das Ernährungsverhalten betrifft, resümieren die eben genannten Autoren, dass sich die unteren sozialen Schichten hinsichtlich dessen, was heute als gesunde Kost definiert wird, schlechter ernähren als die oberen sozialen Schichten. Die oberen sozialen Schichten essen

abwechslungsreicher,

mehr proteinreiche Produkte wie Milch und Joghurt,

viel Obst,

und sie achten mehr auf ihr Gewicht.

In den unteren Schichten isst man eher

Butter,

Zucker,

Weißbrot,

Fleisch,

Wurstwaren.


In einer Überblicksstudie, die sich auf den Konsum von Obst und Gemüse in Europa bezieht, kommen Roos et al. (2000) zu folgendem Schluss: Es gibt eine zentrale Tendenz, wonach mit steigendem Bildungsniveau auch der Verbrauch von Obst und Gemüse ansteigt. Leonhäuser und Lehmkühler (2002) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: In armen Haushalten wird wenig Milch, Milchprodukte, Obst und Gemüse verzehrt. Lawrence et al. (2009) machen darauf aufmerksam, dass sich schwangere Frauen mit einem geringeren sozioökonomischen Status ungesünder ernähren als die mit einem höheren.

Wenig Geld zur Verfügung zu haben, bedeutet nicht nur, weniger Handlungsspielräume beim Einkaufen zu haben, es ist auch verbunden mit geringen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Nahrungszubereitung und mit geringem Wissen über gesunde Ernährung. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in armen Haushalten Gesundheit als Wert und Ziel nicht an der ersten Stelle der Wert- und Zielhierarchie steht (Lehmkühler 2002).

materielle vs. soziale Armut

Prahl und Setzwein (1999) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut: „Materiell“ bedeutet, dass man tatsächlich nicht genug zum Essen hat. „Sozial“ soll veranschaulichen, dass zwar genug Geld da ist, um sich nach ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten hinreichend gut zu versorgen, dass aber bestimmte kulturelle Standards nicht eingehalten werden können. Man kann es sich z.B. nicht leisten, essen zu gehen. Man kann keine Einladungen aussprechen.


Robertson (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht kleiner wird, sondern die soziale Ungleichheit zunimmt. In ganz Europa können sich Menschen mit geringem Einkommen nicht (mehr) gesund ernähren. Dies gilt vor allem für Kinder, Jugendliche, schwangere und stillende Frauen sowie für ältere Menschen. Soziale Ungleichheit zeigt sich auch im Vergleich europäischer Länder: Der prozentuale Anteil des verfügbaren Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt in Rumänien bei 60 %, in Polen bei 40 %. In der EU verbraucht man dagegen im Durchschnitt nur 22 % für Lebensmittel. Aber auch in den reichen EU-Ländern wird die Kluft zwischen arm und reich größer, so etwa in Großbritannien.

Tab. 1.1: Gesunde Ernährung in armen Haushalten (Köhler/Feichtinger 1998, zit. nach Leonhäuser/Lehmkühler 2002, 23)

DimensionenFunktionenProbleme in Armutssituationen
physiologischVersorgung mit Energie und NährstoffenBeeinträchtigungen der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit
sozialsoziale Organisation, Integration und Abgrenzung, soziale Sicherheit, KommunikationBeeinträchtigungen sozialer Beziehungen (z. B. wenn Einladungen nicht erwidert werden können)
kulturellnormative Wertsysteme, Ernährungssitten und -gebräuche, Essbarkeit, GeschmackAbweichung von gesellschaftlich akzeptierten Ernährungsweisen (z. B. Braten statt Hackfleisch als „unangebrachter Luxus“)
psychischGenuss, emotionale Sicherheit, Kompensation, SelbstwertgefühlVerlust von Selbstbestätigung, überkompensierende bis bizarre Bewältigungsstrategien (z. B. „Leistungshungern“ oder Hamstern)
Begleitdimension
ökonomischfür Ernährung verfügbares Einkommen als ökonomische und soziokulturelle ZugangsberechtigungBeeinträchtigung des Marktzugangs, der Teilhabe am Konsum, der Nahrungsversorgung
zeitlichAuswirkung von Häufigkeit und Dauer bestimmter Ernährungssituationen im Zeitverlaufgesundheitliche und psychosoziale Spätfolgen (z. B. lebenslange Sensitivität gegen Nahrungsbeschränkung)

Dass sich an dem Zusammenhang zwischen sozialer Lebenslage und Ernährung wenig geändert hat, macht der „12. Ernährungsbericht“ der DGE (2012) deutlich (vgl. auch Mensink et al. 2013).

1.8 Sozialisation und Ernährungsverhalten


Hurrelmann (2002, 15f) gibt eine umfassende Definition der Sozialisation: „Sozialisation bezeichnet [. . .] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden.“

Wichtig in dieser Definition ist der Umstand, dass Sozialisation nicht auf Anpassung an Realität reduziert wird. Sozialisation ist lebenslängliche aktive Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt. In diesem Abschnitt soll nun weniger der aktiven Auseinandersetzung nachgegangen werden, sondern ihrem Gegenteil: dem prägenden Einfluss der Sozialisation auf das Ernährungsverhalten.

Kinder entwickeln sich zu gesünderen Menschen, wenn sie unter förderlichen Bedingungen aufgewachsen sind, wenn der sozioökonomische Status der Eltern relativ hoch ist und wenn hinreichend emotionale Zuwendung vorhanden ist (Siegrist 2003; Fiesea et al. 2012; Andersona 2012).


Auch die Ernährung ist von entscheidender Bedeutung. Und Ernährung ist mehr als biologische Nahrungsaufnahme. „Food is an interaction not an object.“ (Eagleton, zit. n. Belton 2003, 2) Um etwas die Schärfe aus diesem Zitat herauszunehmen: Nahrungsaufnahme ist eingebettet in Interaktion, sie ist untrennbar verbunden mit Interaktion. Die kleinen Kinder essen das, was ihre Eltern essen. Sie mögen die Lebensmittel, die die Eltern besonders gerne konsumieren.

ungesunde Esskultur

Mielck (2000) nimmt an, dass die Kinder aus den unteren Schichten die ungesunde Ernährungsweise ihrer Eltern regelrecht lernen. Kinder reproduzieren die Esskultur, die ihnen die Eltern vorleben. Wenn die Mahlzeiten stumm vor dem Fernseher eingenommen werden, dann kopieren die Kinder diese Verhaltensweisen. Mit zunehmendem Alter schwinden die elterlichen Einflüsse, das Ernährungsverhalten wird dann z. B. auch durch gleichaltrige Jugendliche bestimmt. Aber im Sinne des Klassikers von Bourdieu (1987) ist anzunehmen, dass es zwar möglich ist, die Einflüsse der Eltern zu reduzieren, dass es aber prinzipiell sehr schwer ist, dem spezifischen Lebensstil der sozialen Schicht, der man entstammt, zu entkommen.

Der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Ernährung lässt sich bezüglich der Adipositas so knapp umreißen: Kinder, die in nicht intakten Familien aufwachsen, haben ein siebenfach erhöhtes Risiko, eine Adipositas zu bekommen (Petermann/Häring 2003).


Zum Zusammenhang zwischen Sozialisation und Ernährungsverhalten wurden zahlreiche Studien durchgeführt. Einige sollen nun vorgestellt werden.

Hays et al. (2001) haben eine Feldforschungsstudie an mexikanischamerikanischen Müttern durchgeführt, um herauszufinden, welche sozialisatorischen Einflüsse Mütter auf das Ernährungswissen und Essverhalten von Kindern haben können. Sie ermittelten, dass ein nicht direktiver, erklärender und partizipatorischer Erziehungsstil der Mütter das Ernährungswissen der Kinder verbessert.

Patrick et al. (2005) stellten fest, dass ein bestimmter und entschlossener Erziehungsstil positiven Einfluss auf den Konsum von Früchten und Gemüse bei Kindern hat. Dagegen erzielt ein unterwerfender, Gehorsam verlangender Erziehungsstil diesbezüglich negative Effekte.

Erziehungsstil

Die Befunde von Hays et al. (2001) und Patrick et al. (2005) lassen sich dahingehend bündeln, dass weder Gleichgültigkeit noch autoritärer Erziehungsstil zu gesundem Ernährungsverhalten der Kinder führen. Vielmehr scheinen sich Kinder dann gesund zu ernähren, wenn sie ein entschlossenes Anliegen der Eltern spüren, ohne sich allerdings diesem Anliegen blind unterwerfen zu müssen. Entscheidend ist auch, dass gesunde Ernährung nicht zum Dogma erhoben wird.


Weitere Studien zum Zusammenhang von Sozialisation und Ernährungsverhalten belegen Folgendes:

Roos et al. (2001) konnten einen starken Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau in Haushalten und dem Konsum von rohem Gemüse ermitteln: Je höher das Bildungsniveau, umso höher war auch der Konsum von rohem Gemüse. Die Schulleistungen hatten ebenfalls einen starken Einfluss auf diesen Konsum. Wer gute Schulleistungen hatte, aß viel Gemüse.

In einer Längsschnittstudie untersuchten Lake et al. (2004), wie sich Personen ihr verändertes Essverhalten im Zeitraum von der Jugend bis zum Erwachsenenalter erklären. Die Veränderungen wurden zugeschrieben dem Einfluss der Eltern, des Partners, der Kinder, dem Ernährungsbewusstsein, der Beschäftigung und dem Mangel an Zeit. Der Einfluss der Eltern wurde sowohl als positiver als auch als negativer, dem man entkommen muss, erlebt. Für Männer, die eine Partnerschaft eingingen, war der Einfluss der Partnerin auf das Essen tendenziell ein positiver.

Hannon et al. (2003) ermittelten, dass die Person, die in einem Haushalt das Essen zubereitet, sehr großen Einfluss auf das Essverhalten des Ehepartners und der Kinder hat. Nimmt diese Person viel Gemüse und Obst zu sich, so tun dies auch der Partner und die Kinder. Isst diese Person viel Fett, so essen auch Partner und Kinder viel Fett. Verstärkt wird dieser Einfluss, wenn viele Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden.

Nicklaus et al. (2005) schreiben der Kindheit einen wesentlichen Einfluss auf das spätere Essverhalten zu. In einer prospektiven Studie verfolgten sie die Entwicklung kleiner Kinder bis in das junge Erwachsenenalter. Wer als zwei- bis dreijähriges Kind eine freie Auswahl von Lebensmitteln treffen durfte, ernährte sich als Jugendlicher oder als junger Erwachsener abwechslungsreich und damit gesund.

1.9 Soziologische Modelle der Ernährung

Eigensinn der Disziplinen

Es liegt in der Eigenart vermutlich jeglicher wissenschaftlicher Disziplin, einen bestimmten Forschungsgegenstand für die eigene Disziplin zu reklamieren. Für die Medizin oder die Oecotrophologie ist die Nahrungsaufnahme überwiegend ein körperlicher Vorgang. Die Psychologie möchte geltend machen, dass psychische Variablen eine entscheidende Rolle spielen können. Die Soziologie will die sozialen Dimensionen der Ernährung herausstellen. Sie wendet sich gegen Modelle, die entweder soziale Merkmale gar nicht berücksichtigen oder – wie das von ihr angeprangerte biokulturelle Modell – die sozialen und kulturellen Aspekte der Ernährung nur als Verlängerung oder soziale Transformation körperlicher Vorgänge begreifen (Barlösius 2011). Würde z. B. in allen menschlichen Kulturen morgens, mittags und abends nur Kuchen gegessen werden, dann würden die Vertreter des biokulturellen Modells behaupten, dass der Körper des Menschen mit ausschließlichem Kuchenkonsum ernährungsphysiologisch am besten versorgt sei.


Barlösius (2011; u. a. im Anschluss an Eder 1988, 103ff) unterscheidet unter Ausschließung des biokulturellen Ansatzes folgende soziologische Modelle. Alle versuchen zu erklären, warum in bestimmten Gesellschaften Nahrungstabus bestehen:

Das rationalistische Modell: Repräsentant hierfür ist Harris (1988). Harris geht davon aus, dass sich für jedes Nahrungstabu rationale Gründe finden lassen: Tabus garantieren das nutritive Überleben einer Gemeinschaft oder Gesellschaft.

Diesem Ansatz gegenüber steht das funktionalistische Modell, das Nahrungstabus auf die Stabilisierung einer bestehenden Ordnung zurückführt. Mit Nahrungstabus stärkt eine Gesellschaft ihre eigene Identität und grenzt sich von anderen Gesellschaften ab. Das funktionalistische Modell geht also davon aus, dass Tabus auf mehr fußen als nur auf einer rationalen Ökonomie. Tabus können eine Gesellschaft zusammenhalten.

Das strukturalistische Modell setzt die Kultur vor die Natur. Denn die Natur muss zuerst symbolisch konstituiert werden, um sie begreifen zu können. Die Natur erschließt sich entsprechend dieses Modells nicht unmittelbar. Sie bedarf der Sprache, um zugänglich zu werden. Eine dieser Sprachen ist die Küche. Die Küche dient nach Lévi-Strauss (1976) zusätzlich dazu, die menschlichen Grundkategorien Natur und Kultur zu vermitteln. Der strukturalistische Ansatz untersucht außerdem die Küche, um herauszufinden, welche kognitive Ordnung eine Gesellschaft sich gibt. Der Strukturalismus sucht wie ein Detektiv in der Küche die Logik einer Gemeinschaft.

Das Modell des Paradoxes der doppelten Zugehörigkeit: Der Mensch als Allesesser kann sich frei entscheiden, was er essen will. Das ist seine kulturelle Freiheit. Tiere könnten hingegen in der Regel nicht frei entscheiden, was sie essen wollen. Ihnen geben die Instinkte vor, was sie an Nahrung zu sich nehmen können. Menschen in ihrer kulturellen Freiheit könnten allerdings die Natur nicht vergessen. Würde sich ein Mensch nur von Kuchen ernähren, was seine Freiheit beinhaltet, würde er sich massiv mangelernähren. Die Natur fordert also ihre Rechte. Deshalb befindet sich der Mensch im Widerspruch oder Paradox zwischen Freiheit und Zwang.

unterschiedliche Interpretationen

Die von Barlösius angebotenen soziologischen Modelle der Ernährung widersprechen sich offenkundig. Es ist zu vermuten, dass die Diskussion nicht mit der Aussage beendet werden kann: Das eine Modell ist richtig, das andere Modell ist falsch. Vielmehr bleiben sie Interpretationsfolien oder Perspektiven, die je nach konkretem Forschungsgegenstand brauchbarer oder unbrauchbarer sind. Möglicherweise lassen sie sich auch parallel gebrauchen: Wenn die Kuh in Indien nicht geschlachtet werden darf, so mag dies im Sinne von Harris rationale Gründe haben, dieses Tabu kann im Sinne des funktionalistischen Modells auch identitätsstiftend sein.

1.10 Zusammenfassung des ersten Kapitels

Nicht nur physiologische Prozesse regulieren die Nahrungsaufnahme. Es reicht aber auch nicht aus, den physiologischen Steuerungen nur psychische Variablen hinzuzufügen. Vielmehr beeinflussen gesellschaftlich-kulturelle und soziale Faktoren das Essverhalten erheblich. Dies sollte in diesem Kapitel veranschaulicht werden. Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten des Essverhaltens sind dem Bewusstsein wenig zugänglich, da sie wie selbstverständlich existieren. So muss erst gründlich reflektiert werden, dass die derzeitige Versorgung mit Lebensmitteln in Anbetracht der Menschheitsgeschichte einem Paradies gleichkommt.

Auch der Streit am Mittagstisch, ob eine Fleischbeigabe überhaupt notwendig ist, hat historische Wurzeln. Am Mittagstisch treffen so die „barbarische“ Tradition (möglichst viel Fleisch essen) mit dem römisch-christlichen Erbe eventuell konflikthaft aufeinander. Ebenfalls kulturell überformt ist die Lebensmittelpräferenz. In unseren Breitengraden essen wir nicht gerne Heuschrecken, und wir verspeisen auch keine süßen kleinen Katzen.

Dass Lebensmittel nicht nur Mittel zum Zweck sind, um zu überleben, belegt die Nutzung von Speisen, um sich von anderen zu unterscheiden. Nahrungsaufnahme ist ein Mittel der sozialen Distinktion. Die Geschichte lehrt, dass Essen oder bestimmte Lebensmittel häufig dafür eingesetzt wurden, um Macht und Reichtum zu demonstrieren. Auch heute noch lässt sich am Verzehr bestimmter Lebensmittel der soziale Status ablesen. Mit finanziellen Mitteln aus Harz IV lassen sich Hummer und Trüffel schwerlich bezahlen.

Nicht einmal Essstörungen sind frei von historischen und kulturellen Einflüssen. In einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit gilt Wohlbeleibtheit als Ausdruck von Macht und Ansehen. In einer anderen Kultur in anderen Zeiten ist sie als Krankheit etikettiert und verpönt.

Im Alltagsbewusstsein ist es nicht deutlich verankert, wie stark soziale Faktoren die Gesundheit und die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Wer eine gute Ausbildung, ein gutes finanzielles Auskommen und einen interessanten Beruf hat, ist deutlich gesünder und lebt länger. Die Kluft zwischen arm und reich wird derzeit nicht kleiner, sondern größer. Die Qualität der Herkunftsfamilie und der elterliche Erziehungsstil spielen eine beträchtliche Rolle bei der Herausbildung von gesunder oder ungesunder Ernährungsweise. Was und wie gegessen wird, ist nicht nur individuelle Wahl oder reiner Zufall. Vielmehr repräsentieren und konstruieren die Art der Nahrungsaufnahme und die Küche eine soziale Ordnung.

1.11 Fragen zum ersten Kapitel

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


1. Welche historischen Traditionen bestimmen die heutige Nahrungsaufnahme?

2. Welche Theorien bietet die Soziologie an, um Lebensmittelpräferenzen zu erklären?

3. Was bedeutet der Begriff der sozialen Distinktion?

4. Wie beeinflusst die Sozialisation das Essverhalten?

5. Wie werden die Definition und die Verbreitung von Essstörungen durch gesellschaftliche Einflüsse mitbestimmt?

Einführung Ernährungspsychologie

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