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1. Predigt.
ОглавлениеChrist, Du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünde der Welt, erbarme Dich unser, erbarme Dich unser und gib uns Deinen Frieden! Amen.
Text: Luc. XXIII. V. 33, 34.
Und als sie kamen an die Stätte, die da heißet Schädelstätte, kreuzigten sie ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.
„Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn; denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und geschmäht und verspeit werden, und sie werden ihn geißeln und töten“ - so lautet die Verkündigung der Leiden des Herrn im heutigen Sonntagsevangelium (Luc. 18, 31-33), und mit dieser Verkündigung treten wir in die Passionszeit dieses Jahres ein; wir stellen uns unter Jesu Kreuz; wir sind Augenzeugen seiner bitteren Leiden; wir hören seine letzten Worte; wir lernen, wie man selig sterben kann. Lasst uns aus dem unermesslichen Reichtum christlicher Betrachtungen, welchen die heute anbrechende große und heilige Zeit uns eröffnet, dieses Jahr eine besondere Seite herausheben und an dieselbe unsere Erbauungen anknüpfen. Wie die Passionszeit sieben Sonntage hat: so spricht Jesus am Kreuze sieben inhaltschwere Worte. Lasst uns für jeden Sonntag eins dieser seiner letzten Worte zum Gegenstande unserer andächtigen Erwägungen machen. Sie sind sein letztes Vermächtnis an die Menschheit; sie sind der unverfälschte Ausdruck seines Herzens. Indem wir sie betrachten, betreten wir gleichsam das Allerheiligste der Passionsgeschichte.
Wir beginnen heute mit dem ersten Worte Jesu am Kreuze. Es ist die Bitte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Bitte enthält zwei Teile, zuerst die Bitte selbst: „Vater, vergib ihnen;“ dann die Begründung derselben: „denn sie wissen nicht, was sie tun.“
I.
Wir stehen auf Golgatha; an dem Richtplatze, der von den vielen umherliegenden Totengebeinen der Gerichteten „Schädelstätte“ genannt wird. Dort hängt Christus, der Heilige in Israel, der Fürst des Lebens, am Kreuze. Hände und Füße sind ihm mit langen, scharfen Nägeln durchgraben; alle seine Glieder gewaltsam ausgespannt am Marterholz und durchbebt von Schmerzen ohne Zahl; leidend, was nie ein Mensch gelitten, und wie ein Verbrecher unter die Übeltäter gerechnet, hängt er da. Zur Seite hängen zwei Schächer, die man zu seiner größeren Schmach mit ihm kreuzigte; unter dem Marterholze stehen die Kriegsknechte und treiben ihr mutwilliges und grausames Spiel; weiterhin die Pharisäer und Schriftgelehrten, voll höllischer Schadenfreude, dass ihr Mordplan ihnen gelungen ist; und dazwischen das Volk, das sich selbst nicht begreift und der Gräueltat verlegen zusieht; dazwischen auch Maria, die Mutter Jesu, der jetzt das Schwert durch die Seele geht, und Johannes. Da hängt Jesus: er fühlt die Schmerzen, welche seine heiligen Glieder zerreißen; er liest auf allen Gesichtern nichts als Spott und Hohn; er hört die schneidendsten und verletzendsten Reden von allen Seiten zu sich emportönen; er erfährt, dass die Ungerechtigkeit gesiegt hat, und dass der Himmel schweigt, und Gottes rettender Arm verborgen bleibt. Wird er da nicht, klagend über alle diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, seine Stimme laut erheben? Wird er Gott nicht anflehen, wenn auch nicht um Rache und Strafe über seine Feinde, doch wenigstens um Hilfe und Errettung für sich selbst? Nein, keines von beiden. Wohl blickt er gen Himmel empor; aber nicht mit Gefühlen der Bitterkeit, sondern der Versöhnung; nicht an seine eignen Qualen denkend, sondern an die bevorstehenden Qualen seiner Mörder. Er will keines Menschen Ankläger, er will aller Menschen Erlöser und Heiland sein. Wie ein Schlachtschaf, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht auftut: so schweigt er über den Frevel derer, die ihn wie den verworfensten Sklaven, ja wie den abscheulichsten Verbrecher misshandeln. Doch blickt er gen Himmel empor und betet; aber nicht für sich, sondern für sie: „Vater, vergib ihnen!“
Vater! So lautet sein erstes Wort, das über die brechende Lippe kommt. Wie er von ihm als Knabe gesprochen: „Muss ich nicht sein in dem, was meines Vaters ist?“ wie er vorher von ihm zu Petrus einige Stunden früher gesprochen: „soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ so nennt er ihn auch jetzt zuerst bei dem Namen, mit dem er ihn immer am liebsten zu nennen pflegte, und der menschlich das enge Verhältnis des Allerhöchsten zu ihm am bezeichnendsten ausdrückte. Vater, ruft er, zu Deinen väterlichen Gesinnungen nehme ich meine Zuflucht, an Dein Vaterherz wende ich mich; Du wirst, Du kannst, was Dein Sohn von Dir erbittet, ihm nicht abschlagen. Du hast mich allezeit erhört: erhöre mich auch in dieser schweren Stunde. Nicht die Not treibt mich, Dich anzuflehen, sondern die Liebe; nicht für mich habe ich ein Verlangen auf meinem Herzen, sondern allein für meine Feinde. Vater, vergib ihnen!
Wunderbares Gebet! Jesus weiß, wie viel seine Fürbitte über das Herz seines himmlischen Vaters vermag: so braucht er sie denn zum Besten derer, die ihn kreuzigen. Er fleht nicht, wie wir vielleicht in seiner Lage würden mit unserm rachgierigen Herzen gefleht haben: Vater, vergilt ihnen; er fleht auch nicht um Aufschub der über sie heraufziehenden Ungewitter des göttlichen Zornes, damit sie noch Zeit gewännen, Buße zu tun und sich zu bekehren; es ist ihm nicht genug, dass er nicht Rache über sie ruft, dass er nicht den Donner auf ihre Häupter herabrollen lässt, nicht den Teufeln sie übergibt, sie in die ewigen Flammen zu stürzen, wie sie es alle verdient hatten: nein, er wünscht, dass dieses sein Blut, das sie vergießen, dieses sein Blut, von dem sie gesagt hatten: es komme über uns und unsere Kinder, - ihnen die Vergebung dieser ihrer Sünden erwerben und für sie reden, besser reden möge denn Abels Blut; er wünscht, dass die Pforten des Himmels, so wie sie sich bald eröffnen werden, ihn aufzunehmen, sich auch dereinst öffnen mögen, ihre Seelen aufzunehmen, dass sie noch bedenken mögen in den Tagen der Heimsuchung, was zu ihrem Frieden dient. Er betet: Vater, vergib ihnen! freilich, sie sind es nicht wert, dass Du ihnen Gnade verleihest; aber um meinetwillen, um meines Blutes und Todes willen, weil ich nicht bloß durch sie, sondern auch für sie sterbe, schenke ihnen Vergebung.
Vergib ihnen! - Wer sind diejenigen, für die der Sohn Gottes Vergebung erfleht? Offenbar sind es zunächst die römischen Kriegsknechte, die ihn ans Kreuz geheftet hatten; aber sie waren nur Werkzeuge ohne Verantwortlichkeit und Schuld, sie handelten nur nach den Befehlen des Pontius Pilatus, denen sie sich nicht entziehen konnten. Pilatus aber würde Jesus nicht zum Tode verurteilt haben, da er seine Unschuld erkannte, hätte das jüdische Volk ihn nicht gedrängt und bestimmt mit seinem wütenden Geschrei: „Lässt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht.“ Und das Volk, welches noch vor wenigen Tagen Palmen streute und Hosianna rief, hätte nicht Barabbas gewählt statt Jesus, wäre es nicht in schrecklicher Verblendung aufgewiegelt und zur Wut empört worden von den Pharisäern, Schriftgelehrten und Hohenpriestern. Die Fürbitte: „Vater, vergib ihnen!“ geht daher auf Alle, auf Juden und Heiden, die mittelbar oder unmittelbar an Jesu Kreuzestode schuld waren. Sie hat aber auch eine weltgeschichtliche Bedeutung. Wie das ganze Leben und Leiden des Gottessohnes ein Opfer ist für die Sünden der Menschheit, so umfassen auch seine Worte am Kreuze die ganze Welt. Die dort zunächst unter dem Kreuze standen, waren die Menschheit im Kleinen, und was für sie dort geschah, geschah für alle Menschen, die dasselbe Fleisch und Blut an sich tragen; geschah für alle damaligen und späteren Geschlechter. Auch für uns, für uns bat der sterbende Heiland: Vater, vergib ihnen!
Welch ein Wort! Welch ein Gebet! Ein Wort, ein Gebet, das unter Allen, die da standen, wohl Niemand erwartete! Ein Wort und ein Gebet, das eine Liebe verriet, wie sie niemals war ausgeübt worden! - Was der Herr in der Bergpredigt seinen Jüngern vorgeschrieben: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen“ (Matth. 5, 44): das übte Er hier in der schwersten, versuchungsreichsten Stunde seines ganzen Daseins. Größere Sünde war nie begangen, aber auch größere Liebe nie bewiesen worden. Das Wort war erfüllt: „Er hat für die Übeltäter gebeten“ (Jes. 53,12). Was Jesu innerste Gesinnung und seines Lebens Geist und Seele gewesen war: das war nun auch seines Todes Verklärung, sein letzter Wille, sein Testament an die Menschheit geworden. Alle Gebote der Liebe waren erschöpft, die Welt war überwunden. Wahrlich, in dem Augenblick, wo er es weiß, er darf die größte Bitte dem Vater vortragen, das Größte wird dem innig geliebten Sohne in seinem Blute gewährt: da zuerst für seine Peiniger zu beten, da Fürbitte einzulegen für sie, damit sie nur nicht möchten gestraft werden, da es als die größte Erquickung im Tode zu betrachten, ihnen Begnadigung erflehen zu können - das heißt: die Menschen und die Sünder lieben, nicht mit Menschenliebe, sondern mit himmlischer Gottesliebe. Und nun, Geliebte, lasst uns die Blicke auf uns richten. Auch wir stehen unter dem Kreuze des Herrn; auch wir haben mit unseren Missetaten ihn ans Marterholz genagelt: so viele Sünden in Gedanken, Worten und Werken wir begangen haben, so viele Nägel und Schwerter haben wir durch seine heiligen Glieder gebohrt; - auch über uns muss Jesus klagen: „Du hast mir Mühe gemacht in deinen Sünden, und hast mir Arbeit gemacht in deinen Missetaten.“ Welch ein Trost für unser bekümmertes Herz ist da sein Seufzer: Vater, vergib ihnen! So hat über uns der ewige Sohn Gottes beim ewigen Vater gefleht, und sein Flehen hat Erhörung erlangt. Die Vergebung ist uns also erworben. Der Hohepriester ist in das Allerheiligste gegangen und hat eine ewige Erlösung gestiftet. Die Schuldbriefe, sind zerrissen und Gnadenbriefe werden ausgeteilt. Wer nur Vergebung sucht, kann sie finden. Wer selig werden will, kann selig werden. Keine Sünde ist zu groß, und wäre es eine Kaiphas- und Pharisäer-Sünde sogar, wäre es eine Sünde sogar gegen des Menschen Sohn: sie kann vergeben werden, denn Jesus hat für sie geblutet, Jesus hat für sie gebetet. Sündenvergebung war der Zweck seines Lebens, Sündenvergebung der Zweck seines freiwilligen Todes. Glaube denn an die Kraft seiner Fürbitte, glaube an sein versöhnendes Leiden: und siehe, es soll Dir Alles vergeben sein!
Dann aber bedenke auch wohl, was der Herr hinzusetzt: „Wo ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben“ (Matth. 6, 15). Die göttliche Vergebung will und soll sich bewähren durch menschliche Vergebung. Petrus sagt: „Christus hat uns ein Vorbild gelassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen, welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht dräute, da er litt.“ Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Wenn daher Jesus für seine Mörder betet: „Vater, vergib ihnen!“ so hat er uns damit nicht nur Vergebung erfleht von seinem Vater für unsere Sünden, sondern uns auch ein Vorbild gegeben, dass wir tun sollen, wie er getan hat. Oder wie? Du wärst im Stande, unter dem Kreuze zu stehen, Christus beten zu hören: „Vater, vergib ihnen!“ und unversöhnlich zu bleiben denen, die Dich beleidigt haben? Wärest im Stande, Dich einen Christen, einen Nachfolger Christi zu nennen, und Deine Worte Lügen zu strafen durch die Tat? Sprich nicht: „Ja, ich bin aber auch zu empfindlich beleidigt worden und habe keine Veranlassung dazu gegeben.“ Was sind alle Kränkungen, die Du erdulden kannst, gegen die tiefen Beleidigungen, die Christus am Kreuze wirklich erduldete, er, der ohne Sünde und Schuld war; und doch behielt er ein Herz voll Liebe gegen seine Beleidiger! Sprich nicht: „Nun, wenn sie mich um Vergebung bitten und ihr Unrecht gestehen, so will ich nachgeben und mich ihnen wieder nähern.“ Christus wartete nicht, bis seine Feinde anderen Sinnes wurden; er kam ihnen entgegen mit seiner versöhnenden Liebe, er bat für sie, als und während sie ihn noch hassten und verfolgten. Sprich nicht: „Nun, beten will ich auch für sie um Vergebung und von Herzen ihnen vergeben, aber mit Worten und Taten kann ich's nicht.“ Christus bat für sie nicht im Stillen, sondern laut in ihrer Gegenwart zu Gott um Gnade; er ging ihnen also am Kreuze mit seiner Liebe noch nach, wie er im ganzen Leben sie gesucht hatte; eine Herzensvergebung ohne Wort- und Tatvergebung ist keine Vergebung und Erlassung, sondern Behaltung der Schuld und Fortsetzung des Missverhältnisses. Nein, sage nicht, dass Du ein Christ bist, dass Du jemals unter dem Kreuze Christi gestanden hast, solange Du mit irgend einem Menschen in dieser Welt in Uneinigkeit lebst und auch nur einen Tag kannst die Sonne über Deinem Zorne untergehen lassen. Verzeihen ist das Göttlichste und Christlichste, was ein Mensch kann, und wer nicht verzeihen kann, der bereitet sich ein Leben voll Unruhe und Gewissenspein, der entsagt dem Gebete feierlich: „Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern;“ der schließt sich aus vom Mahle der Vergebung, oder feiert es nur zum Fluch und Gericht seiner Seele; der geht einem bangen Tode entgegen; denn wie kann er hoffen, dass Gott ihm seine zehntausend Pfund erlassen soll, da er seinem Mitbruder nicht einmal hundert Groschen erlassen hat; der will nicht mehr zu denen gehören, für die Jesus gebeten: Vater, vergib ihnen! Oh Herr, vergib uns, so oft wir noch durch unserer Brüder Versehen zu Zorn und Unmut uns reizen lassen, und das Vergeben unserem Herzen noch schwer wird, und richte, so oft uns das Herz aufwallt und bitter werden will, unseren Blick auf Dich und Deine Fürbitte am Kreuze, damit wir lieben lernen, wie Du geliebt hast.
II.
„Vater vergib ihnen! denn sie wissen nicht, was sie tun,“ betete der Herr. Mit diesem Zusatz begründet er seine Bitte zu Gott als eine erhörliche, und stellt ihre Sünde dar als eine verzeihliche, im Unterschiede von den Sünden, für die keine Vergebung da sei. Neuer Trost, neue Warnung für uns!
In der Tat, Israel wusste nicht, was es tat, indem es den Herrn der Herrlichkeit kreuzigte. Sie erkannten Jesus nicht für das, was er war. Der ihnen der Bekannteste hatte sein sollen, war, wie so oft im Leben, der Unerkannteste von Allen. Sie sahen sich durch ihn in ihren Hoffnungen getäuscht. Einen irdischen Messias hatten sie erwartet, der die Römer aus dem Lande treiben und ein glänzendes Reich von dieser Welt stiften würde: statt dessen sahen sie ihn nicht nur in Armut und Niedrigkeit im Lande umherziehen und lehren, sondern jetzt sogar sahen sie ihn auch gebunden und gefangen in der Heiden Gewalt, wie einen Gotteslästerer und Verbrecher zum schmählichsten Tode verurteilt; und bei all den Misshandlungen, welche gegen ihn verübt wurden, erblickten sie nichts, was auf eine Missbilligung des Himmels, auf Gottes Strafe oder Zorn hindeuten konnte; Gott tat nichts zu Jesu Rettung, und er selbst auch nicht. In dem Allen glaubten sie denn die deutlichsten Zeichen zu erkennen, dass er unmöglich der Messias sein könne, für den er sich ausgegeben, dass er sie vielmehr betrogen habe, und dass durch ihn die Lieblingshoffnung des Volks sogar den Heiden zum Spott geworden sei. Deswegen rufen sie ihm höhnisch zu: „Andern hat er geholfen, und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertrauet, der erlöse ihn nun, lüftet's ihm; denn er hat gesagt: ich bin Gottes Sohn“ (Matth. 27, 42, 43. Luc. 23, 35). So sündigten sie also allerdings aus Unwissenheit.
Aber freilich war diese Unwissenheit ihre Schuld. Sie hätten Jesus vollkommen erkennen können; sie wussten ja und mussten es wissen, dass er durchaus unschuldig und heilig war, dass seine Weisheit allezeit ihre List zu Schanden gemacht, dass seine Wunder alle ihre Erwartungen hinter sich gelassen hatten, dass die Weissagungen des Alten Testaments von dem Ort und der Zeit seiner Geburt, von seiner Armut und Sanftmut, von seinen Leiden, wie ihrer Widerspenstigkeit und Bosheit, bis in die kleinsten Umstände an ihm erfüllt waren, dass Pilatus, der unbefangene Heide, sogar Jesus zu wiederholten Malen für unschuldig und gerecht erklärt hatte. Dennoch verschlossen sie absichtlich ihre Augen und suchten den Eindruck gewalttätig auszulöschen, den Jesu Hoheit und Großmut unwillkürlich auf sie gemacht hatte. Sie fürchteten sein geistiges Übergewicht und den Verlust ihrer irdischen Größe, wenn er länger mit seinen Worten und Werken die Gemüter beherrschte. So belogen sie sich selbst in ihrer Verkehrtheit, und wurden vor lauter vermeintlichem Eifer für Gottes Sache und die Reinheit ihres Glaubens blind gegen die Stimme der ewigen Wahrheit; es traf sie mit Recht der Vorwurf des Herrn: „Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber sprechet, wir sind sehend, bleibet eure Sünde. Wenn ich nicht kommen wäre, und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber können sie nichts vorwenden, ihre Sünde zu entschuldigen“ (Joh. 9, 41. 15, 22-24). Ihre Unwissenheit war mithin in jeder Beziehung eine selbstverschuldete.
Dennoch betet Jesus für sie: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun;“ gibt mit diesen Worten ihrem Verfahren die mildeste Deutung; leugnet nicht ihre Schuld, aber mildert und entschuldigt sie durch ihre Unwissenheit, dass sie nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissenheit gesündigt hätten. Dasselbe tut Petrus, wenn er bald nach dem Pfingstfeste Israel zur Buße auffordert und sagt: „Nun, lieben Brüder, ich weiß, dass ihr's aus Unwissenheit getan habt, wie auch eure Obersten: so tut nun Buße und bekehret euch, dass eure Sünden vertilget werden“ (Ap. Gesch. 3, 17 - 19). Dasselbe tut Paulus, wenn er an die Korinther schreibt: „Wir reden von der heimlichen verborgenen Weisheit Gottes, welche Gott verordnet hat vor der Welt zu unserer Herrlichkeit, welche keiner von den Obersten dieser Welt erkannt hat; denn wo sie die erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ (1. Cor. 2,8); und wenn er von seiner eigenen Verfolgung gegen die christliche Gemeinde spricht: „Ich hab's unwissend getan im Unglauben“ (1. Tim. 1, 13).
Aber wie? möchte man da einwenden, kann dieser Grund nicht am Ende alle und jede Sünde entschuldigen? geht nicht jede Sünde gewissermaßen aus Unwissenheit hervor? Würde irgend Einer unter uns wohl in der Sünde sein Glück und seine Freude suchen und sich in ihre Netze hineinstürzen, wenn sie uns nicht vorspiegelte, dass bei ihr allein wahres Heil und Lebensgenuss zu finden sei? ist demnach nicht jede Sünde Lüge und Verfinsterung, jeder Sünder ein Kind der Finsternis, das nicht weiß, wo es hingeht? und rechtfertigt nicht unsere Zeit gerade damit alle möglichen Verbrechen, indem sie beim Verbrechen die Zurechnungs-Würdigkeit leugnet und die grauenvollste Tat der Betäubung und Selbstverblendung zuschreibt? heißt das also nicht: alle und jede Sünde entschuldigen? - Nein; so könnte es nur scheinen, wenn Jesus um Vergebung für seine Feinde ohne Weiteres bäte, wenn er nicht stillschweigend in seiner Fürbitte als Bedingung der Vergebung die Bekehrung der Sünder, die Erkenntnis der Schuld in den Herzen seiner Feinde voraussetzte. Aber seine Bitte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun,“ hat offenbar den Inhalt: „Vergib ihnen ihre Schuld samt ihrer Unwissenheit, nimm beides von ihren Herzen hinweg, öffne ihnen die Augen, dass sie erkennen, was sie getan, denn noch erkennen sie es nicht, und dann, wenn ihre Augen geöffnet sind und sie mit Entsetzen ihr eignes Werk anschauen, dann hilf, barmherziger Vater, dass sie nicht verzweifeln, dass ihnen das Entsetzliche nicht zu schwer werde.“ Das allem ist der Inhalt dieser ersten Bitte. Von der einen Seite das Bekenntnis, dass sie ihre Sünde noch nicht mit vollem Bewusstsein gegen ihn begangen, also nur eine Sünde gegen des Menschen Sohn, die vergeben werden kann, aber keine Lästerung gegen den heiligen Geist, die nie vergeben werden kann, weder in dieser, noch in jener Welt, begangen haben; von der andern Seite der Wunsch, dass Gott die große und schwere Schuld, welche sie bei ihrer Unwissenheit auf sich genommen, ihnen nicht zurechnen, sondern vielmehr Mittel und Wege ihnen eröffnen wolle zur Selbsterkenntnis und zum Suchen der Gnade. Wie bedeutende Fortschritte auf der Bahn zur Sünde gegen den heiligen Geist die Feinde des Herrn auch schon gemacht, diese Sünde selbst hatten sie doch noch nicht in vollem Maße begangen; noch konnten sie Buße tun und deshalb Vergebung erlangen.
Fragt Ihr aber weiter: für wen hat denn der Herr nun nicht gebeten, indem er rief: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun,“ so müssen wir antworten: für Judas hatte er damit nicht gebeten. Für Judas konnte er nicht mehr beten, ihn hatte er von der Vergebung ausgeschlossen, von ihm hatte er schon mit dem tiefsten Wehgefühl erklärt: es wäre besser, dass derselbige Mensch nie geboren wäre, und hatte Wehe über ihn gerufen: Wehe dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird! Für Judas hatte er nicht gebeten; denn der wusste, was er tat, und war vielfach vor seinem Abwege gewarnt worden.
Fragt Ihr endlich: hat denn Gott dies Gebet seines Sohnes auch erhört? Ist nicht Jerusalem doch zerstört, Israel doch zerstreut worden und das Volk des göttlichen Fluches und Zornes geblieben bis auf diese Stunde? - so ist unsere Antwort: Allerdings ist das geschehen, weil eben Israel nicht die Bedingung erfüllte, unter welcher die Fürbitte des Herrn ihm zugutekommen konnte, weil ihre geistige Verblendung mit jeder neuen Sünde zunahm, und mit jeder neuen Verblendung ihre Schuld und Strafbarkeit sich vergrößerte und zuletzt in völlige Verhärtung und Verstocktheit überging; die Fürbitte Jesu Christi war das Letzte, was er für sie und an ihnen tun konnte. Und Gottlob, sie war doch auch nicht an Allen vergeblich! Denn was war es anders, als die Kraft dieser Fürbitte, dass der Schächer am Kreuz sich unmittelbar darauf bekehrte, dass der heidnische Hauptmann ausrief: „Wahrlich, dieser Mensch ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen,“ dass das Volk reumütig an seine Brust schlug und wieder umkehrte? Was war es anders als die Kraft dieser Fürbitte, dass auf die erste Predigt des Apostels Petrus am Pfingstfeste sich dreitausend bekehrten, und einige Wochen darauf die neue christliche Gemeinde schon zu fünftausend Seelen in Jerusalem anwuchs? Was war es anders, als die Kraft dieser Fürbitte, dass Jerusalems Unglück so Vielen unter dem Volk Israel die Augen öffnete, dass sie sahen, in welchen sie gestochen hatten? Was war es anders, als die Kraft dieser Fürbitte, dass Gott noch vierzig Jahre Geduld mit seinem Volke hatte, ehe er das längst von Christus angedrohte Strafgericht vollzog, und dass er bis dahin durch den Mund der Apostel und Märtyrer noch Mittel zur Bekehrung unaufhörlich ihnen darbot? Dass die Meisten sich aber nicht bekehrten, war ihre Schuld. Sein Gebet war erhört, weil er nicht bat, dass Gott sie wider ihren Willen bekehren, sondern weil er bat, dass Gott ihnen hinlängliche Mittel zur Bekehrung darreichen möchte, um ihre sich immer mehr verhärtenden Herzen zu gewinnen. Oh und wie viele Tausende mag im Laufe der Jahrhunderte Jesu erstes Wort am Kreuze: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun,“ getröstet und beruhigt haben beim Gedanken an ihre Sündenschuld! Wie viele Feinde des Herrn mögen durch dies Wort zu Freunden seiner Person und seiner Sache umgewandelt worden sein! Wie Viele mögen einst droben in der Herrlichkeit ihre Begnadigung und Seligkeit dieser Fürbitte ihres Heilandes verdanken und zuschreiben! Ist sie doch nur der zeitliche Anfang seiner in alle Ewigkeit fortgehenden Fürbitte im Himmel für uns; denn der Apostel sagt: „Dieser aber darum, dass er bleibet ewiglich, hat er ein unvergänglich Priestertum; daher er auch selig machen kann immerdar, die durch ihn zu Gott kommen, und lebet immerdar, und bittet für sie“ und an einer andern Stelle: „Wer will die Auserwählten Gottes verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist; ja vielmehr, der auch auferwecket ist, welcher sitzet zur rechten Hand Gottes, und vertritt uns“ (Hebr. 7, 24, 25. Röm. 8, 34).
Gebe nur Gott, dass es im Gerichte des Herzenskündigers bei unsern vielfachen Sünden und Vergehungen allezeit heißen möge: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun,“ und dass nie, und bei keinem Vergehen, das Urteil über uns gefällt werde: „Du hast gewusst, was du tatest, darum sollst du doppelt Streiche leiden; denn wer des Herrn Willen weiß und tut ihn nicht, der ist doppelter Streiche wert!“ Wunderbarer Herr und Mittler der Menschen, der Du in unendlicher Liebe Deine Arme ausgebreitet hast zu Feind und Freund, um Alle aufzunehmen in die Fülle Deines Lichts und Deiner Gnade: verleihe, dass wir jederzeit wissen, was wir tun sollen, und stärke unsern Willen, dass wir, was wir wissen, auch vollbringen, dass wir Dich über Alles, und unsere Brüder lieben wie uns selbst; nicht mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. Amen.