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1825

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Montag, den 10. Januar 1825

Bei seinem großen Interesse für die englische Nation hatte Goethe mich ersucht, die hier anwesenden jungen Engländer ihm nach und nach vorzustellen. Heute um fünf Uhr erwartete er mich mit dem englischen Ingenieuroffizier Herrn H., von welchem ich ihm vorläufig viel Gutes hatte sagen können. Wir gingen also zur bestimmten Stunde hin und wurden durch den Bedienten in ein angenehm erwärmtes Zimmer geführt, wo Goethe in der Regel nachmittags und abends zu sein pflegt. Drei Lichter brannten auf dem Tisch; aber Goethe war nicht darin, wir hörten ihn in dem anstoßenden Saale sprechen.

Herr H. sah sich derweile um und bemerkte außer den Gemälden und einer großen Gebirgskarte an den Wänden ein Repositorium mit vielen Mappen, von welchen ich ihm sagte, daß sie viele Handzeichnungen berühmter Meister und Kupferstiche nach den besten Gemälden aller Schulen enthielten, die Goethe im Leben nach und nach gesammelt habe und deren wiederholte Betrachtung ihm Unterhaltung gewähre.

Nachdem wir einige Minuten gewartet hatten, trat Goethe zu uns herein und begrüßte uns freundlich. »Ich darf Sie gradezu in deutscher Sprache anreden,« wendete er sich an Herrn H., »denn ich höre, Sie sind im Deutschen schon recht bewandert.« Dieser erwiderte hierauf mit wenigem freundlich, und Goethe bat uns darauf, Platz zu nehmen.

Die Persönlichkeit des Herrn H. mußte auf Goethe einen guten Eindruck machen, denn seine große Liebenswürdigkeit und heitere Milde zeigte sich dem Fremden gegenüber heute in ihrer wahren Schönheit. »Sie haben wohl getan,« sagte er, »daß Sie, um Deutsch zu lernen, zu uns herübergekommen sind, wo Sie nicht allein die Sprache leicht und schnell gewinnen, sondern auch die Elemente, worauf sie ruhet, unsern Boden, Klima, Lebensart, Sitten, gesellschaftlichen Verkehr, Verfassung und dergleichen mit nach England im Geiste hinübernehmen.«

»Das Interesse für die deutsche Sprache«, erwiderte Herr H., »ist jetzt in England groß und wird täglich allgemeiner, so daß jetzt fast kein junger Engländer von guter Familie ist, der nicht Deutsch lernte.«

»Wir Deutschen«, versetzte Goethe freundlich, »haben es jedoch Ihrer Nation in dieser Hinsicht um ein halbes Jahrhundert zuvorgetan. Ich beschäftige mich seit funfzig Jahren mit der englischen Sprache und Literatur, so daß ich Ihre Schriftsteller und das Leben und die Einrichtung Ihres Landes sehr gut kenne. Käme ich nach England hinüber, ich würde kein Fremder sein.

Aber, wie gesagt, Ihre jungen Landsleute tun wohl, daß sie jetzt zu uns kommen und auch unsere Sprache lernen. Denn nicht allein, daß unsere eigene Literatur es an sich verdient, sondern es ist auch nicht zu leugnen, daß, wenn einer jetzt das Deutsche gut versteht, er viele andere Sprachen entbehren kann. Von der französischen rede ich nicht, sie ist die Sprache des Umgangs und ganz besonders auf Reisen unentbehrlich, weil sie jeder versteht und man sich in allen Ländern mit ihr statt eines guten Dolmetschers aushelfen kann. Was aber das Griechische, Lateinische, Italienische und Spanische betrifft, so können wir die vorzüglichsten Werke dieser Nationen in so guten deutschen Übersetzungen lesen, daß wir ohne ganz besondere Zwecke nicht Ursache haben, auf die mühsame Erlernung jener Sprachen viele Zeit zu verwenden. Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen.

Und dann ist wohl nicht zu leugnen, daß man im allgemeinen mit einer guten Übersetzung sehr weit kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las seinen Cicero in der französischen Übersetzung ebenso gut als wir andern in der Ursprache.«

Dann das Gespräch auf das Theater wendend, fragte Goethe Herrn H., ob er es viel besuche. »Ich besuche das Theater jeden Abend,« antwortete dieser, »und ich finde, daß der Gewinn für das Verstehen der Sprache sehr groß ist.« – »Es ist merkwürdig,« erwiderte Goethe, »daß das Ohr und überhaupt das Vermögen des Verstehens dem des Sprechens voraufeilt, so daß einer bald sehr gut alles verstehen, aber keineswegs alles ausdrücken kann.« – »Ich finde täglich,« entgegenete Herr H., »daß diese Bemerkung sehr wahr ist; denn ich verstehe sehr gut alles, was gesprochen wird, auch sehr gut alles, was ich lese, ja ich fühle sogar, wenn einer im Deutschen sich nicht richtig ausdrücket. Allein wenn ich spreche, so stockt es, und ich weiß nicht recht zu sagen, was ich möchte. Eine leichte Konversation bei Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beim Tanz und dergleichen gelingt mir schon. Will ich aber im Deutschen über einen höheren Gegenstand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigentümliches und Geistreiches sagen, so stockt es, und ich kann nicht fort.« – »Da trösten und beruhigen Sie sich nur,« erwiderte Goethe; »denn dergleichen Ungewöhnliches auszudrücken wird uns wohl in unserer eigenen Muttersprache schwer.«

Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deutscher Literatur gelesen habe. »Ich habe den ›Egmont‹ gelesen«, antwortete dieser, »und habe an dem Buche so viele Freude gehabt, daß ich dreimal zu ihm zurückgekehrt bin. So auch hat ›Torquato Tasso‹ mir vielen Genuß gewährt. Jetzt lese ich den ›Faust‹. Ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist.« Goethe lachte bei diesen letzten Worten. »Freilich«, sagte er, »würde ich Ihnen zum ›Faust‹ noch nicht geraten haben. Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von selbst getan haben, ohne mich zu fragen, so mögen Sie sehen, wie Sie durchkommen. Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können. So der Charakter des Mephistopheles ist durch die Ironie und als lebendiges Resultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas sehr Schweres. Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabei auftun. Der ›Tasso‹ dagegen steht dem allgemeinen Menschengefühl bei weitem näher, auch ist das Ausführliche seiner Form einem leichteren Verständnis günstig.« – »Dennoch«, erwiderte Herr H., »hält man in Deutschland den ›Tasse‹ für schwer, so daß man sich wunderte, als ich sagte, daß ich ihn lese.« – »Die Hauptsache beim ›Tasso‹«, sagte Goethe, »ist die, daß man kein Kind mehr sei und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn und genugsamer äußerer Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen der höheren und höchsten Stände hervorgeht, wird den ›Tasso‹ nicht schwer finden.«

Das Gespräch lenkte sich auf den ›Egmont‹, und Goethe sagte darüber folgendes: »Ich schrieb den ›Egmont‹ im Jahre 1775, also vor funfzig Jahren. Ich hielt mich sehr treu an die Geschichte und strebte nach möglichstes Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre später in Rom war, las ich in den Zeitungen, daß die geschilderten revolutionären Szenen in den Niederlanden sich buchstäblich wiederholten. Ich sah daraus, daß die Welt immer dieselbige bleibt und daß meine Darstellung einiges Leben haben mußte.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen war die Zeit des Theaters herangekommen, und wir standen auf und wurden von Goethe freundlich entlassen.

Im Nachhausegehen fragte ich Herrn H., wie ihm Goethe gefallen. »Ich habe nie einen Mann gesehen,« antwortete dieser, »der bei aller liebevollen Milde so viel angebotene Würde besäße. Er ist immer groß, er mag sich stellen und sich herablassen, wie er wolle.«

Dienstag, den 18. Januar 1825

Ich ging heute um fünf Uhr zu Goethe, den ich in einigen Tagen nicht gesehen hatte, und verlebte mit ihm einen schönen Abend. Ich fand ihn, in seiner Arbeitsstube in der Dämmerung sitzend, in Gesprächen mit seinem Sohn und dem Hofrat Rehbein, seinem Arzt. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. Wir sprachen noch eine Weile in der Dämmerung; dann ward Licht gebracht, und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen frisch und heiter vor mir zu sehen.

Er erkundigte sich, wie gewöhnlich, teilnehmend nach dem, was mir in diesen Tagen Neues begegnet, und ich erzählte ihm, daß ich die Bekanntschaft einer Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht gewöhnliches Talent rühmen, und Goethe, der einige ihrer Produkte gleichfalls kannte, stimmte in dieses Lob mit ein. »Eins von ihren Gedichten,« sagte er, »wo sie eine Gegend ihrer Heimat beschreibt, ist von einem höchst eigentümlichen Charakter. Sie hat eine gute Richtung auf äußere Gegenstände, auch fehlt es ihr nicht an guten inneren Eigenschaften. Freilich wäre auch manches an ihr auszusetzen, wir wollen sie jedoch gehen lassen und sie auf dem Wege nicht irren, den das Talent ihr zeigen wird.«

Das Gespräch kam nun auf die Dichterinnen im allgemeinen, und der Hofrat Rehbein bemerkte, daß das poetische Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine Art von geistigem Geschlechtstrieb vorkomme. »Da hören Sie nur,« sagte Goethe lachend, indem er mich ansah, » geistigen Geschlechtstrieb! – wie der Arzt das zurechtlegt!« – »Ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdrücke,« fuhr dieser fort, »aber es ist so etwas. Gewöhnlich haben diese Wesen das Glück der Liebe nicht genossen, und sie suchen nun in geistigen Richtungen Ersatz. Wären sie zu rechter Zeit verheiratet und hätten sie Kinder geboren, sie würden an poetische Produktionen nicht gedacht haben.«

»Ich will nicht untersuchen,« sagte Goethe, »inwiefern Sie in diesem Falle recht haben; aber bei Frauenzimmertalenten anderer Art habe ich immer gefunden, daß sie mit der Ehe aufhörten. Ich habe Mädchen gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber sobald sie Frauen und Mütter wurden, war es aus; sie hatten mit den Kindern zu tun und nahmen keinen Griffel mehr in die Hand.

Doch unsere Dichterinnen«, fuhr er sehr lebhaft fort, »möchten immer dichten und schreiben, soviel sie wollten, wenn nur unsere Männer nicht wie die Weiber schrieben! Aber das ist es, was mir nicht gefällt. Man sehe doch unsere Zeitschriften und Taschenbücher, wie das alles so schwach ist und immer schwächer wird! Wenn man jetzt ein Kapitel des ›Cellini‹ im ›Morgenblatt‹ abdrucken ließe, wie würde sich das ausnehmen!

Unterdessen«, fuhr er heiter fort, »wollen wir es gut sein lassen und uns unseres kräftigen Mädchens in Halle freuen, die uns mit männlichem Geiste in die serbische Welt einführt. Die Gedichte sind vortrefflich! Es sind einige darunter, die sich dem ›Hohen Liede‹ an die Seite setzen lassen, und das will etwas heißen. Ich habe den Aufsatz über diese Gedichte beendigt, und er ist auch bereits abgedruckt.« Mit diesen Worten reichte er mir die ersten vier Aushängebogen eines neuen Heftes von ›Kunst und Altertum‹ zu, wo ich diesen Aufsatz fand. »Ich habe die einzelnen Gedichte ihrem Hauptinhalte nach mit kurzen Worten charakterisiert, und Sie werden sich über die köstlichen Motive freuen. Rehbein ist ja auch der Poesie nicht unkundig, wenigstens was den Gehalt und Stoff betrifft, und er hört vielleicht gerne mit zu, wenn Sie diese Stelle vorlesen.«

Ich las den Inhalt der einzelnen Gedichte langsam. Die angedeuteten Situationen waren so sprechend und so zeichnend, daß mir bei einem jeden Wort ein ganzes Gedicht sich vor den Augen aufbildete. Besonders anmutig wollten mir die folgenden erscheinen:


1.

Sittsamkeit eines serbischen Mädchens, welches die schönen Augenwimpern niemals aufschlägt.

2.

Innerer Streit des Liebenden, der als Brautführer seine Geliebte einem Dritten zuführen soll.

3.

Besorgt um den Geliebten, will das Mädchen nicht singen, um nicht froh zu scheinen.

4.

Klage über Umkehrung der Sitten, daß der Jüngling die Witwe freie, der Alte die Jungfrau.

5.

Klage eines Jünglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freiheit gebe.

6.

Vertraulich-frohes Gespräch des Mädchens mit dem Pferde, das ihr seines Herrn Neigung und Absichten verrät.

7.

Mädchen will den Ungeliebten nicht.

8.

Die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen.

9.

Finden und zartes Aufwecken der Geliebten.

10.

Welches Gewerbes wird der Gatte sein?

11.

Liebesfreuden verschwatzt.

12.

Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie am Tage, überrascht sie zu Nacht.


Ich bemerkte, daß diese bloßen Motive so viel Leben in mir anregten, als läse ich die Gedichte selbst, und daß ich daher nach dem Ausgeführten gar kein Verlangen trage.

»Sie haben ganz recht,« sagte Goethe, »es ist so. Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen sie, und denken dabei bloß an die Empfindungen, an die Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln. Überhaupt haben die Dilettanten und besonders die Frauen von der Poesie sehr schwache Begriffe. Sie glauben gewöhnlich, wenn sie nur das Technische loshätten, so hätten sie das Wesen und wären gemachte Leute; allein sie sind sehr in der Irre.«

Professor Riemer ließ sich melden; Hofrat Rehbein empfahl sich. Riemer setzte sich zu uns. Das Gespräch über die Motive der serbischen Liebesgedichte ging fort. Riemer kannte schon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhaltsandeutungen nicht allein Gedichte machen könne, sondern daß auch jene Motive, ohne sie aus dem Serbischen gekannt zu haben, von deutscher Seite schon wären gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Gedichte von sich selber, so wie mir während dem Lesen schon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwähnte.

»Die Welt bleibt immer dieselben sagte Goethe, »die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere: warum sollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens sind sich gleich: warum sollten denn die Situationen der Gedichte sich nicht gleich sein?«

»Und eben diese Gleichheit des Lebens und der Empfindungen«, sagte Riemer, »macht es ja, daß wir imstande sind, die Poesie anderer Völker zu verstehen. Wäre dieses nicht, so würden wir ja bei ausländischen Gedichten nie wissen, wovon die Rede ist.«

»Mir sind daher«, nahm ich das Wort, »immer die Gelehrten höchst seltsam vorgekommen, welche die Meinung zu haben scheinen, das Dichten geschehe nicht vom Leben zum Gedicht, sondern vom Buche zum Gedicht. Sie sagen immer: das hat er dort her, und das dort! Finden sie z. B. beim Shakespeare Stellen, die bei den Alten auch vorkommen, so soll er es auch von den Alten haben! So gibt es unter andern beim Shakespeare ein Situation, wo man beim Anblick eines schönen Mädchens die Eltern glücklich preiset, die sie Tochter nennen, und den Jüngling glücklich, der sie als Braut heimführen wird. Und weil nun beim Homer dasselbige vorkommt, so soll es der Shakespeare auch vom Homer haben! – Wie wunderlich! Als ob man nach solchen Dingen so weit zu gehen brauchte, und als ob man dergleichen nicht täglich vor Augen hätte und empfände und ausspräche!«

»Ach ja,« sagte Goethe, »das ist höchst lächerlich!«

»So auch«, fuhr ich fort, »zeigt selbst Lord Byron sich nicht klüger, wenn er Ihren ›Faust‹ zerstückelt und der Meinung ist, als hätten Sie dieses hier her und jenes dort her.«

»Ich habe«, sagte Goethe, »alle jene von Lord Byron angeführten Herrlichkeiten größtenteils nicht einmal gelesen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den ›Faust‹ machte. Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflektiert, ist er ein Kind. So weiß er sich auch gegen dergleichen ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine Szene meines ›Egmonts‹, und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah, so ist er zu loben. So auch hat er den Charakter meiner Mignon in einem seiner Romane nachgebildet; ob aber mit ebensoviel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons Verwandelter Teufel ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht! Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er hätte es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat daher auch die Exposition meines ›Faust‹ mit der des ›Hiob‹ einige Ähnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.«

Goethe war in der besten Laune. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er Riemern und mir einschenkte; er selbst trank Marienbader Wasser. Der Abend schien bestimmt zu sein, mit Riemern das Manuskript seiner fortgesetzten Selbstbiographie durchzugehen, um vielleicht hinsichtlich des Ausdruckes hin und wieder noch einiges zu verbessern. »Eckermann bleibt wohl bei uns und hört mit zu«, sagte Goethe, welches mir sehr lieb war zu vernehmen. Und so legte er denn Riemern das Manuskript vor, der mit dem Jahre 1795 zu lesen anfing.

Ich hatte schon im Laufe des Sommers die Freude gehabt, alle diese noch ungedruckten Lebensjahre bis auf die neueste Zeit herauf wiederholt zu lesen und zu betrachten. Aber jetzt in Goethes Gegenwart sie laut vorlesen zu hören, gewährte mir einen ganz neuen Genuß. – Riemer war auf den Ausdruck gerichtet, und ich hatte Gelegenheit, seine große Gewandtheit und seinen Reichtum an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen aber war die geschilderte Lebensepoche rege, er schwelgte in Erinnerungen und ergänzte bei Erwähnung einzelner Personen und Vorfälle das Geschriebene durch detaillierte mündliche Erzählung. – Es war ein köstlicher Abend! Der bedeutendsten mitlebenden Männer ward wiederholt gedacht; zu Schillern jedoch, der dieser Epoche von 1795 bis 1800 am engsten verflochten war, kehrte das Gespräch immer von neuem zurück. Das Theater war ein Gegenstand ihres gemeinsamen Wirkens gewesen, so auch fallen Goethes vorzüglichste Werke in jene Zeit. Der ›Wilhelm Meister‹ wird beendigt, ›Hermann und Dorothea‹ gleich hinterher entworfen und geschrieben, ›Cellini‹ übersetzt für die ›Horen‹, die ›Xenien‹ gemeinschaftlich gedichtet für Schillers ›Musenalmanach‹, an täglichen Berührungspunkten war kein Mangel. Dieses alles kam nun diesen Abend zur Sprache, und es fehlte Goethen nicht an Anlaß zu den interessantesten Äußerungen.

»›Hermann und Dorothea‹«, sagte er unter andern, »ist fast das einzige meiner größeren Gedichte, das mir noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Anteil lesen. Besonders lieb ist es mir in der lateinischen Übersetzung, es kommt mir da vornehmer vor, als wäre es, der Form nach, zu seinem Ursprunge zurückgekehrt.«

Auch vom ›Wilhelm Meister‹ war wiederholt die Rede. »Schiller«, sagte er, »tadelte die Einflechtung des Tragischen, als welches nicht in den Roman gehöre. Er hatte jedoch unrecht, wie wir alle wissen. In seinen Briefen an mich sind über den ›Wilhelm Meister‹ die bedeutendsten Ansichten und Äußerungen. Es gehört dieses Werk übrigens zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt: ›Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.‹ Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.«

Der großen Kultur der mittleren Stände ward darauf gedacht, die sich seit den letzten funfzig Jahren über Deutschland verbreitet, und Goethe schrieb die Verdienste hierum weniger Lessingen zu als Herdern und Wieland. »Lessing«, sagte er, »war der höchste Verstand, und nur ein ebenso großer konnte von ihm wahrhaft lernen. Dem Halbvermögen war er gefährlich.« Er nannte einen Journalisten, der sich nach Lessing gebildet und am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Rolle, aber keine edle gespielt habe, weil er seinem großen Vorgänger so weit nachgestanden.

»Wielanden«, sagte Goethe, »verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil. Es hat viel von ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszudrücken, ist nicht das geringste.«

Bei Erwähnung der ›Xenien‹ rühmte Goethe besonders die von Schiller, die er scharf und schlagend nannte, dagegen seine eigenen unschuldig und geringe. »Den ›Tierkreis‹,« sagte er, »welcher von Schiller ist, lese ich stets mit Bewunderung. Die guten Wirkungen, die sie zu ihrer Zeit auf die deutsche Literatur ausübten, sind gar nicht zu berechnen.« Viele Personen wurden bei dieser Gelegenheit genannt, gegen welche die ›Xenien‹ gerichtet waren; ihre Namen sind jedoch meinem Gedächtnis entgangen.

Nachdem nun so, von diesen und hundert andern interessanten Äußerungen und Einflechtungen Goethes unterbrochen, das gedachte Manuskript bis zu Ende des Jahres 1800 vorgelesen und besprochen war, legte Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem Ende des großen Tisches, an dem wir saßen, decken und ein kleines Abendessen bringen. Wir ließen es uns wohl sein; Goethe selbst rührte aber keinen Bissen an, wie ich ihn denn nie abends habe essen sehen. Er saß bei uns, schenkte uns ein, putzte die Lichter und erquickte uns überdies geistig mit den herrlichsten Worten. Das Andenken Schillers war in ihm so lebendig, daß die Gespräche dieser letzten Hälfte des Abends nur ihm gewidmet waren.

Riemer erinnerte an Schillers Persönlichkeit. »Der Bau seiner Glieder, sein Gang auf der Straße, jede seiner Bewegungen«, sagte er, »war stolz, nur die Augen waren sanft.« – »Ja,« sagte Goethe, »alles übrige an ihm war stolz und großartig, aber seine Augen waren sanft. Und wie sein Körper war sein Talent. Er griff in einen großen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her, und sah ihn so an und so, und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegenstand gleichsam nur von außen an, eine stille Entwickelung aus dem Innern war nicht seine Sache. Sein Talent war mehr desultorisch. Deshalb war er auch nie entschieden und konnte nie fertig werden. Er wechselte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.

Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren. Ich weiß, was ich mit ihm beim ›Tell‹ für Not hatte, wo er geradezu den Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben schießen lassen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, daß er Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt großtun lasse, indem er sagt, daß er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schieße. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorstellungen und Bitten nach und machte es so, wie ich ihm geraten.

Daß ich dagegen oft zu viel motivierte, entfernte meine Stücke vom Theater. Meine ›Eugenie‹ ist eine Kette von lauter Motiven, und dies kann auf der Bühne kein Glück machen.

Schillers Talent war recht fürs Theater geschaffen. Mit jedem Stück schritt er vor und ward er vollendeter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von den ›Räubern‹ her ein gewisser Sinn für das Grausame anklebte, der selbst in seiner schönsten Zeit ihn nie ganz verlassen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl, daß er im ›Egmont‹ in der Gefängnisszene, wo diesem das Urteil vorgelesen wird, den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehüllt im Hintergrunde erscheinen ließ, um sich an dem Effekt zu weiden, den das Todesurteil auf Egmont haben würde. Hiedurch sollte sich der Alba als unersättlich in Rache und Schadenfreude darstellen. Ich protestierte jedoch, und die Figur blieb weg. Er war ein wunderlicher großer Mensch.

Alle acht Tage war er ein anderer und ein vollendeterer; jedesmal wenn ich ihn wiedersah, erschien er mir vorgeschritten in Belesenheit, Gelehrsamkeit und Urteil. Seine Briefe sind das schönste Andenken, das ich von ihm besitze, und sie gehören mit zu dem Vortrefflichsten, was er geschrieben. Seinen letzten Brief bewahre ich als ein Heiligtum unter meinen Schätzen.« Goethe stand auf und holte ihn. »Da sehen und lesen Sie«, sagte er, indem er mir ihn zureichte.

Der Brief war schön und mit kühner Hand geschrieben. Er enthielt ein Urteil über Goethes Anmerkungen zu ›Rameaus Neffen‹, welche die französische Literatur jener Zeit darstellen, und die er Schillern in Manuskript zur Ansicht mitgeteilt hatte. Ich las den Brief Riemern vor. »Sie sehen,« sagte Goethe, »wie sein Urteil treffend und beisammen ist, und wie die Handschrift durchaus keine Spur irgendeiner Schwäche verrät. Er war ein prächtiger Mensch, und bei völligen Kräften ist er von uns gegangen. Dieser Brief ist vom 24. April 1805 – Schiller starb am 9. Mai.«

Wir betrachteten den Brief wechselweise und freuten uns des klaren Ausdrucks wie der schönen Handschrift, und Goethe widmete seinem Freunde noch manches Wort eines liebevollen Andenkens, bis es spät gegen eilf Uhr geworden war und wir gingen.

Donnerstag, den 24. Februar 1825

»Wäre es meine Sache noch, dem Theater vorzustehen,« sagte Goethe diesen Abend, »ich würde Byrons ›Dogen von Venedig‹ auf die Bühne bringen. Freilich ist das Stück zu lang und es müßte gekürzt werden; aber man müßte nichts daran schneiden und streichen, sondern es so machen: man müßte den Inhalt jeder Szene in sich aufnehmen und ihn bloß kürzer wiedergeben. Dadurch würde das Stück zusammengehen, ohne daß man ihm durch Änderungen schadete, und es würde an kräftiger Wirkung durchaus gewinnen, ohne im wesentlichen von seinem Schönen etwas einzubüßen.«

Diese Äußerung Goethes gab mir eine neue Ansicht, wie man beim Theater in hundert ähnlichen Fällen zu verfahren habe, und ich war über diese Maxime, die freilich einen guten Kopf, ja einen Poeten voraussetzt, der seine Sache versteht, höchst erfreut.

Wir sprachen über Lord Byron weiter, und ich erwähnte, wie er in seinen Konversationen mit Medwin es als etwas höchst Schwieriges und Undankbares ausgesprochen habe, für das Theater zu schreiben. »Es kommt darauf an,« sagte Goethe, »daß der Dichter die Bahn zu treffen wisse, die der Geschmack und das Interesse des Publikums genommen hat. Fällt die Richtung des Talents mit der des Publikums zusammen, so ist alles gewonnen. Diese Bahn hat Houwald mit seinem ›Bilde‹ getroffen, daher der allgemeine Beifall. Lord Byron wäre vielleicht nicht so glücklich gewesen, insofern seine Richtungen von der des Publikums abwichen. Denn es fragt sich hiebei keineswegs, wie groß der Poet sei; vielmehr kann ein solcher, der mit seiner Persönlichkeit aus dem allgemeinen Publikum wenig hervorragt, oft eben dadurch die allgemeinste Gunst gewinnen.«

Wir setzten das Gespräch über Lord Byron fort, und Goethe bewunderte sein außerordentliches Talent. »Dasjenige, was ich die Erfindung nenne«, sagte er, »ist mir bei keinem Menschen in der Welt größer vorgekommen als bei ihm. Die Art und Weise, wie er einen dramatischen Knoten löset, ist stets über alle Erwartung und immer besser, als man es sich dachte.« – »Mir geht es mit Shakespeare so,« erwiderte ich, »namentlich mit dem Falstaff, wenn er sich festgelogen hat und ich mich frage, was ich ihn tun lassen würde, um sich wieder loszuhelfen, wo denn freilich Shakespeare alle meine Gedanken bei weitem übertrifft. Daß aber Sie ein Gleiches von Lord Byron sagen, ist wohl das höchste Lob, das diesem zuteil werden kann. Jedoch«, fügte ich hinzu, »steht der Poet, der Anfang und Ende klar übersieht, gegen den befangenen Leser bei weitem im Vorteil.«

Goethe gab mir recht und lachte dann über Lord Byron, daß er, der sich im Leben nie gefügt und der nie nach einem Gesetz gefragt, sich endlich dem dümmsten Gesetz der drei Einheiten unterworfen habe. »Er hat den Grund dieses Gesetzes so wenig verstanden,« sagte er, »als die übrige Welt. Das Faßliche ist der Grund, und die drei Einheiten sind nur insofern gut, als dieses durch sie erreicht wird. Sind sie aber dem Faßlichen hinderlich, so ist es immer unverständig, sie als Gesetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbst die Griechen, von denen diese Regel ausging, haben sie nicht immer befolgt; im ›Phaëthon‹ des Euripides und in andern Stücken wechselt der Ort und man sieht also, daß die gute Darstellung ihres Gegenstandes ihnen mehr galt als der blinde Respekt vor einem Gesetz, das an sich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakespeareschen Stücke gehen über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinaus als nur möglich; aber sie sind faßlich, es ist nichts faßlicher als sie, und deshalb würden auch die Griechen sie untadelig finden. Die französischen Dichter haben dem Gesetz der drei Einheiten am strengsten Folge zu leisten gesucht, aber sie sündigen gegen das Faßliche, indem sie ein dramatisches Gesetz nicht dramatisch lösen, sondern durch Erzählung.«

Ich dachte hiebei an ›Die Feinde‹ von Houwald, bei welchem Drama der Verfasser sich auch sehr im Lichte stand, indem er, um die Einheit des Orts zu bewahren, im ersten Akt dem Faßlichen schadete und überhaupt eine mögliche größere Wirkung seines Stückes einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Dagegen dachte ich auch an den ›Götz von Berlichingen‹, welches Stück über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinausgeht als nur immer möglich; aber auch so in der Gegenwart sich entwickelnd, alles vor die unmittelbare Anschauung bringend, und daher so echt dramatisch und faßlich ist als nur irgendein Stück in der Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und des Orts dann natürlich und im Sinne der Griechen wäre, wenn ein Faktum so wenig Umfang habe, daß es sich in gehöriger Zeit vor unsern Augen im Detail entwickeln könne; daß aber bei einer großen, durch verschiedene Orte sich machenden Handlung kein Grund sei, solche auf einen Ort beschränken zu wollen, um so weniger, als bei unseren jetzigen Bühnen zu beliebiger Verwandlung der Szene durchaus kein Hindernis im Wege stehe.

Goethe fuhr über Lord Byron zu reden fort. »Seinem stets ins Unbegrenzte strebenden Naturell«, sagte er, »steht jedoch die Einschränkung, die er sich durch Beobachtung der drei Einheiten auflegte, sehr wohl. Hätte er sich doch auch im Sittlichen so zu begrenzen gewußt! Daß er dieses nicht konnte, war sein Verderben, und es läßt sich sehr wohl sagen, daß er an seiner Zügellosigkeit zugrunde gegangen ist.

Er war gar zu dunkel über sich selbst. Er lebte immer leidenschaftlich in den Tag hin und wußte und bedachte nicht, was er tat. Sich selber alles erlaubend und an andern nichts billigend, mußte er es mit sich selbst verderben und die Welt gegen sich aufregen. Mit seinen ›English Bards and Scotch Reviewers‹ verletzte er gleich anfänglich die vorzüglichsten Literatoren. Um nachher nur zu leben, mußte er einen Schritt zurücktreten. In seinen folgenden Werken ging er in Opposition und Mißbilligung fort; Staat und Kirche blieben nicht unangetastet. Dieses rücksichtslose Hinwirken trieb ihn aus England und hätte ihn mit der Zeit auch aus Europa getrieben. Es war ihm überall zu enge, und bei der grenzenlosesten persönlichen Freiheit fühlte er sich beklommen; die Welt war ihm wie ein Gefängnis. Sein Gehen nach Griechenland war kein freiwilliger Entschluß, sein Mißverhältnis mit der Welt trieb ihn dazu.

Daß er sich vom Herkömmlichen, Patriotischen lossagte, hat nicht allein einen so vorzüglichen Menschen persönlich zugrunde gerichtet, sondern sein revolutionären Sinn und die damit verbundene beständige Agitation des Gemüts hat auch sein Talent nicht zur gehörigen Entwickelung kommen lassen. Auch ist die ewige Opposition und Mißbilligung seinen vortrefflichen Werken selbst, so wie sie daliegen, höchst schädlich. Denn nicht allein, daß das Unbehagen des Dichters sich dem Leser mitteilt, sondern auch alles opponierende Wirken geht auf das Negative hinaus, und das Negative ist nichts. Wenn ich das Schlechte schlecht nenne, was ist da viel gewonnen? Nenne ich aber gar das Gute schlecht, so ist viel geschadet. Wer recht wirken will, muß nie schelten, sich um das Verkehrte gar nicht bekümmern, sondern nur immer das Gute tun. Denn es kommt nicht darauf an, daß eingerissen, sondern daß etwas aufgebaut werde, woran die Menschheit reine Freude empfinde.«

Ich erquickte mich an diesen herrlichen Worten und freute mich der köstlichen Maxime.

»Lord Byron«, fuhr Goethe fort, »ist zu betrachten: als Mensch, als Engländer und als großes Talent. Seine guten Eigenschaften sind vorzüglich vom Menschen herzuleiten, seine schlimmen, daß er ein Engländer und ein Peer von England war; und sein Talent ist inkommensurabel.

Alle Engländer sind als solche ohne eigentliche Reflexion, die Zerstreuung und der Parteigeist lassen sie zu keiner ruhigen Ausbildung kommen. Aber sie sind groß als praktische Menschen.

So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken über sich selbst gelangen; deswegen auch seine Reflexionen überhaupt ihm nicht gelingen wollen, wie sein Symbolum ›Viel Geld und keine Obrigkeit‹ beweiset, weil durchaus vieles Geld die Obrigkeit paralysiert.

Aber alles, was er produzieren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich sagen, daß sich bei ihm die Inspiration an die Stelle der Reflexion setzt. Er mußte immer dichten; und da war denn alles, was vom Menschen, besonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu seinen Sachen kam er wie die Weiber zu schönen Kindern; sie denken nicht daran und wissen nicht wie.

Er ist ein großes Talent, ein geborenes, und die eigentlich poetische Kraft ist mir bei niemanden größer vorgekommen als bei ihm. In Auffassung des Äußern und klarem Durchblick vergangener Zustände ist er ebenso groß als Shakespeare. Aber Shakespeare ist als reines Individuum überwiegend. Dieses fühlte Byron sehr wohl, deshalb spricht er vom Shakespeare nicht viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß. Er hätte ihn gern verleugnet, denn Shakespeares Heiterkeit ist ihm im Wege; er fühlt, daß er nicht dagegen aufkann. Pope verleugnet er nicht, weil er ihn nicht zu fürchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr, wo er kann, denn er weiß sehr wohl, daß Pope nur eine Wand gegen ihn ist.«

Goethe schien über Byron unerschöpflich, und ich konnte nicht satt werden, ihm zuzuhören. Nach einigen kleinen Zwischengesprächen fuhr er fort:

»Der hohe Stand als englischer Peer war Byron sehr nachteilig; denn jedes Talent ist durch die Außenwelt geniert, geschweige eins bei so hoher Geburt und so großem Vermögen. Ein gewisser mittler Zustand ist dem Talent bei weitem zuträglicher; weshalb wir denn auch alle große Künstler und Poeten in den mittleren Ständen finden. Byrons Hang zum Unbegrenzten hätte ihm bei einer geringeren Geburt und niederem Vermögen bei weitem nicht so gefährlich werden können. So aber stand es in seiner Fracht, jede Anwandlung in Ausführung zu bringen, und das verstrickte ihn in unzählige Händel. Und wie sollte ferner dem, der selbst aus so hohem Stande war, irgendein Stand imponieren und Rücksicht einflößen? Er sprach aus, was sich in ihm regte, und das brachte ihn mit der Welt in einen unauflöslichen Konflikt.

Man bemerkt mit Verwunderung,« fuhr Goethe fort, »welcher große Teil des Lebens eines vornehmen reichen Engländers in Entführungen und Duellen zugebracht wird. Lord Byron erzählt selbst, daß sein Vater drei Frauen entführt habe. Da sei einer einmal ein vernünftiger Sohn!

Er lebte eigentlich immer im Naturzustande, und bei seiner Art zu sein, mußte ihm täglich das Bedürfnis der Notwehr vorschweben. Deswegen sein ewiges Pistolenschießen. Er mußte jeden Augenblick erwarten, herausgefordert zu werden.

Er konnte nicht allein leben. Deswegen war er trotz aller seiner Wunderlichkeiten gegen seine Gesellschaft höchst nachsichtig. Er las das herrliche Gedicht über den Tod des General Moore einen Abend vor, und seine edlen Freunde wissen nicht, was sie daraus machen sollen. Das rührt ihn nicht, und er steckt es wieder ein. Als Poet beweist er sich wirklich wie ein Lamm. Ein anderer hätte sie dem Teufel übergeben!«

Mittwoch, den 20. [Dienstag, den 19.] April 1825

Goethe zeigte mir diesen Abend einen Brief eines jungen Studierenden, der ihn um den Plan zum zweiten Teile des ›Faust‹ bittet, indem er den Vorsatz habe, dieses Werk seinerseits zu vollenden. Trocken, gutmütig und aufrichtig geht er mit seinen Wünschen und Absichten frei heraus und äußert zuletzt ganz unverhohlen, daß es zwar mit allen übrigen neuesten literarischen Bestrebungen nichts sei, daß aber in ihm eine neue Literatur frisch erblühen solle.

Wenn ich im Leben auf einen jungen Menschen stieße, der Napoleons Welteroberungen fortzusetzen sich rüstete, oder auf einen jungen Bau-Dilettanten, der den Kölner Dom zu vollenden sich anschickte, so würde ich mich über diese nicht mehr verwundern und sie nicht verrückter und lächerlicher finden, als eben diesen jungen Liebhaber der Poesie, der Wahn genug besitzt, aus bloßer Neigung den zweiten Teil des ›Faust‹ machen zu können.

Ja ich halte es für möglicher, den Kölner Dom auszubauen, als in Goethes Sinne den ›Faust‹ fortzusetzen! Denn jenem ließe sich doch allenfalls mathematisch beikommen, er steht uns doch sinnlich vor Augen und läßt sich mit Händen greifen. Mit welchen Schnüren und Maßen aber wollte man zu einem unsichtbaren geistigen Werk reichen, das durchaus auf dem Subjekt beruht, bei welchem alles auf das Aperçu ankommt, das zum Material ein großes selbstdurchlebtes Leben und zur Ausführung eine jahrelang geübte, zur Meisterschaft gesteigerte Technik erfordert?

Wer ein solches Unternehmen für leicht, ja nur für möglich hält, hat sicher nur ein sehr geringes Talent, eben weil er keine Ahndung vom Hohen und Schwierigen besitzt; und es ließe sich sehr wohl behaupten, daß, wenn Goethe seinen ›Faust‹ bis auf eine Lücke von wenigen Versen selbst vollenden wollte, ein solcher Jüngling nicht fähig sein würde, nur die wenigen Verse schicklich hineinzubringen.

Ich will nicht untersuchen, woher unserer jetzigen Jugend die Einbildung gekommen, daß sie dasjenige als etwas Angeborenes bereits mit sich bringe, was man bisher nur auf dem Wege vieljähriger Studien und Erfahrungen erlangen konnte, aber so viel glaube ich sagen zu können, daß die in Deutschland jetzt so häufig vorkommenden Äußerungen eines alle Stufen allmählicher Entwickelung keck überschreitenden Sinnes zu künftigen Meisterwerken wenige Hoffnung machen.

»Das Unglück ist«, sagte Goethe, »im Staat, daß niemand leben und genießen, sondern jeder regieren, und in der Kunst, daß niemand sich des Hervorgebrachten freuen, sondern jeder seinerseits selbst wieder produzieren will.

Auch denkt niemand daran, sich von einem Werk der Poesie auf seinem eigenen Wege fördern zu lassen, sondern jeder will sogleich wieder dasselbige machen.

Es ist ferner kein Ernst da, der ins Ganze geht, kein Sinn, dem Ganzen etwas zuliebe zu tun, sondern man trachtet nur, wie man sein eigenes Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu möglichstes Evidenz bringe. Dieses falsche Bestreben zeigt sich überall, und man tut es den neuesten Virtuosen nach, die nicht sowohl solche Stücke zu ihrem Vortrage wählen, woran die Zuhörer reinen musikalischen Genuß haben, als vielmehr solche, worin der Spielende seine erlangte Fertigkeit könne bewundern lassen. Überall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zuliebe sein eigenes Selbst zurücksetzte.

Hiezu kommt sodann, daß die Menschen in ein pfuscherhaftes Produzieren hineinkommen, ohne es selbst zu wissen. Die Kinder machen schon Verse und gehen so fort und meinen als Jünglinge, sie könnten was, bis sie zuletzt als Männer zur Einsicht des Vortrefflichen gelangen, was da ist, und über die Jahre erschrecken, die sie in einer falschen, höchst unzulänglichen Bestrebung verloren haben.

Ja, viele kommen zur Erkenntnis des Vollendeten und ihrer eigenen Unzulänglichkeit nie und produzieren Halbheiten bis an ihr Ende.

Gewiß ist es, daß wenn jeder früh genug zum Bewußtsein zu bringen wäre, wie die Welt von dem Vortrefflichsten so voll ist und was dazu gehört, diesen Werken etwas Gleiches an die Seite zu setzen, daß sodann von jetzigen hundert dichtenden Jünglingen kaum ein einziger Beharren und Talent und Mut genug in sich fühlen würde, zu Erreichung einer ähnlichen Meisterschaft ruhig fortzugehen.

Viele junge Maler würden nie einen Pinsel in die Hand genommen haben; wenn sie früh genug gewußt und begriffen hätten, was denn eigentlich ein Meister wie Raffael gemacht hat.«

Das Gespräch lenkte sich auf die falschen Tendenzen im allgemeinen, und Goethe fuhr fort:

»So war meine praktische Tendenz zur bildenden Kunst eigentlich eine falsche, denn ich hatte keine Naturanlage dazu und konnte sich also dergleichen nicht aus mir entwickeln. Eine gewisse Zärtlichkeit gegen die landschaftlichen Umgebungen war mir eigen und daher meine ersten Anfänge eigentlich hoffnungsvoll. Die Reise nach Italien zerstörte dieses praktische Behagen; eine weite Aussicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Fähigkeit ging verloren, und da sich ein künstlerisches Talent weder technisch noch ästhetisch entwickeln konnte, so zerfloß mein Bestreben zu nichts.

Man sagt mit Recht,« fuhr Goethe fort, »daß die gemeinsame Ausbildung menschlicher Kräfte zu wünschen und auch das Vorzüglichste sei. Der Mensch aber ist dazu nicht geboren, jeder muß sich eigentlich als ein besonderes Wesen bilden, aber den Begriff zu erlangen suchen, was alle zusammen sind.«

Ich dachte hiebei an den ›Wilhelm Meister‹, wo gleichfalls ausgesprochen ist, daß nur alle Menschen zusammengenommen die Menschheit ausmachen und wir nur insofern zu achten sind, als wir zu schätzen wissen.

So auch dachte ich an die ›Wanderjahre‹, wo Montan immer nur zu einem Handwerk rät und dabei ausspricht, daß jetzt die Zeit der Einseitigkeiten sei und man den glücklich zu preisen habe, der dieses begreife und für sich und andere in solchem Sinne wirke.

Nun aber fragt es sich, was jemand für ein Handwerk habe, damit er die Grenzen nicht überschreite, aber auch nicht zu wenig tue.

Wessen Sache es sein wird, viele Fächer zu übersehen, zu beurteilen, zu leiten, der soll auch eine möglichste Einsicht in viele Fächer zu erlangen suchen. So kann ein Fürst, ein künftiger Staatsmann sich nicht vielseitig genug ausbilden, denn die Vielseitigkeit gehört zu seinem Handwerk.

Gleicherweise soll der Poet nach mannigfaltiger Kenntnis streben; denn die ganze Welt ist sein Stoff, den er zu handhaben und auszusprechen verstehen muß.

Aber der Dichter soll kein Maler sein wollen, sondern sich begnügen, die Welt durch das Wort wiederzugeben; so wie er dem Schauspieler überläßt, sie durch persönliche Darstellung uns vor die Augen zu bringen.

Denn Einsicht und Lebenstätigkeit sollen wohl unterschieden werden, und man soll bedenken, daß jede Kunst, sobald es auf die Ausübung ankommt, etwas sehr Schwieriges und Großes ist, worin es zur Meisterschaft zu bringen, ein eigenes Leben verlangt wird.

So hat Goethe nach vielseitigsten Einsicht gestrebt, aber in seiner Lebenstätigkeit hat er sich nur auf eins beschränkt. Nur eine einzige Kunst hat er geübt, und zwar meisterhaft geübt, nämlich die: deutsch zu schreiben. Daß der Stoff, den er aussprach, vielseitiger Natur war, ist eine andere Sache.

Gleicherweise soll man Ausbildung von Lebenstätigkeit wohl unterscheiden.

So gehört zur Ausbildung des Dichters, daß sein Auge zur Auffassung der äußeren Gegenstände auf alle Weise geübt werde. Und wenn Goethe seine praktische Tendenz zur bildenden Kunst, insofern er sie zu seiner Lebenstätigkeit hätte machen wollen, eine falsche nennt, so war sie wiederum ganz am Orte, insofern es seine Ausbildung als Dichter galt.

»Die Gegenständlichkeit meiner Poesie«, sagte Goethe, »bin ich denn doch jener großen Aufmerksamkeit und Übung des Auges schuldig geworden; so wie ich auch die daraus gewonnene Kenntnis hoch anzuschlagen habe.«

Hüten aber soll man sich, die Grenzen seiner Ausbildung zu weit zu stecken.

»Die Naturforscher«, sagte Goethe, »werden am ersten dazu verführt, weil zur Betrachtung der Natur wirklich eine sehr harmonische allgemeine Ausbildung erfordert wird.«

Dagegen aber soll sich jeder, sobald es die Kenntnisse betrifft, die zu seinem Fache unerläßlich gehören, vor Beschränkung und Einseitigkeit zu bewahren suchen.

Ein Dichter, der für das Theater schreiben will, soll Kenntnis der Bühne haben, damit er die Mittel erwäge, die ihm zu Gebote stehen, und er überhaupt wisse, was zu tun und zu lassen sei; so wie es dem Opernkomponisten nicht an Einsicht der Poesie fehlen darf, damit er das Schlechte vom Guten unterscheiden könne und seine Kunst nicht an etwas Unzulänglichem verschwendet werde.

»Carl Maria von Weber«, sagte Goethe, »mußte die ›Euryanthe‹ nicht komponieren; er mußte gleich sehen, daß dies ein schlechter Stoff sei, woraus sich nichts machen lasse. Diese Einsicht dürfen wir bei jedem Komponisten, als zu seiner Kunst gehörig, voraussetzen.«

So soll der Maler Kenntnis in Unterscheidung der Gegenstände haben; denn es gehört zu seinem Fache, daß er wisse, was er zu malen habe und was nicht.

»Im übrigen aber«, sagte Goethe, »ist es zuletzt die größte Kunst, sich zu beschränken und zu isolieren.«

So hat er die ganze Zeit, die ich in seiner Nähe bin, mich stets vor allen ableitenden Richtungen zu bewahren und mich immer auf ein einziges Fach zu konzentrieren gesucht. Zeigte ich etwa Neigung, mich in Naturwissenschaften umzutun, so war immer sein Rat, es zu unterlassen und mich für jetzt bloß an die Poesie zu halten. Wollte ich ein Buch lesen, wovon er wußte, daß es mich auf meinem jetzigen Wege nicht weiter brächte, so widerrief er es mir stets, indem er sagte, es sei für mich von keinem praktischen Nutzen.

»Ich habe gar zu viele Zeit auf Dinge verwendet,« sagte er eines Tages, »die nicht zu meinem eigentlichen Fache gehörten. Wenn ich bedenke, was Lopez de Vega gemacht hat, so kommt mir die Zahl meiner poetischen Werke sehr klein vor. Ich hätte mich mehr an mein eigentliches Metier halten sollen.

Hätte ich mich nicht so viel mit Steinen beschäftiget«, sagte er ein andermal, »und meine Zeit zu etwas Besserem verwendet, ich könnte den schönsten Schmuck von Diamanten haben.«

Aus gleicher Ursache schätzt und rühmt er an seinem Freunde Meyer, daß dieser ausschließlich auf das Studium der Kunst sein ganzes Leben verwendet habe, wodurch man ihm denn die höchste Einsicht in diesem Fache zugestehen müsse.

»Ich bin auch in solcher Richtung frühzeitig hergekommen«, sagte Goethe, »und habe auch fast ein halbes Leben an Betrachtung und Studium von Kunstwerken gewendet, aber Meyern kann ich es denn doch in gewisser Hinsicht nicht gleichtun. Ich hüte mich daher auch wohl, ein neues Gemälde diesem Freunde sogleich zu zeigen, sondern ich sehe zuvor zu, wie weit ich ihm meinerseits beikommen kann. Glaube ich nun, über das Gelungene und Mangelhafte völlig im klaren zu sein, so zeige ich es Meyern, der denn freilich weit schärfer sieht und dem in manchem Betracht noch ganz andere Lichter dabei aufgehen. Und so sehe ich immer von neuem, was es sagen will und was dazu gehört, um in einer Sache durchaus groß zu sein. In Meyern liegt eine Kunsteinsicht von ganzen Jahrtausenden.«

Nun aber könnte man fragen, warum denn Goethe, wenn er so lebhaft durchdrungen sei, daß der Mensch nur ein Einziges tun solle, warum denn gerade er selbst sein Leben an so höchst vielseitige Richtungen verwendet habe.

Hierauf antworte ich, daß, wenn Goethe jetzt in die Welt käme und er die poetischen und wissenschaftlichen Bestrebungen seiner Nation bereits auf der Höhe vorfände, auf welche sie jetzt, und zwar größtenteils durch ihn, gebracht sind, er sodann sicher zu so mannigfaltigen Richtungen keine Veranlassung finden und sich gewiß auf ein einziges Fach beschränken würde.

So aber lag es nicht allein in seiner Natur, nach allen Seiten hin zu forschen und sich für die irdischen Dinge klar zu machen, sondern es lag auch im Bedürfnis der Zeit, das Wahrgenommene auszusprechen.

Er tat bei seinem Erscheinen zwei große Erbschaften: der Irrtum und die Unzulänglichkeit fielen ihm zu, daß er sie hinwegräume, und verlangten seine lebenslänglichen Bemühungen nach vielen Seiten.

Wäre die Newtonische Theorie Goethen nicht als ein großer, dem menschlichen Geiste höchst schädlicher Irrtum erschienen, glaubt man denn, daß es ihm je eingefallen sein würde, eine ›Farbenlehre‹ zu schreiben und vieljährige Bemühungen einer solchen Nebenrichtung zu widmen? Keineswegs! Sondern sein Wahrheitsgefühl im Konflikt mit dem Irrtum war es, das ihn bewog, sein reines Licht auch in diese Dunkelheiten leuchten zu lassen.

Ein Gleiches ist von seiner Metamorphosenlehre zu sagen, worin wir ihm jetzt ein Muster wissenschaftlicher Behandlung verdanken, welches Werk zu schreiben Goethen aber gewiß nie eingefallen sein würde, wenn er seine Zeitgenossen bereits auf dem Wege zu einem solchen Ziele erblickt hätte.

Ja sogar von seinen vielseitigen poetischen Bestrebungen möchte solches gelten. Denn es ist sehr die Frage, ob Goethe je einen Roman würde geschrieben haben, wenn ein Werk wie der ›Wilhelm Meister‹ bei seiner Nation bereits wäre vorhanden gewesen. Und sehr die Frage, ob er in solchem Fall sich nicht vielleicht ganz ausschließlich der dramatischen Poesie gewidmet hätte.

Was er in solchem Fall einer einseitigen Richtung alles hervorgebracht und gewirkt haben würde, ist gar nicht abzusehen; so viel ist jedoch gewiß, daß, sobald man aufs Ganze sieht, kein Verständiger wünschen wird, daß Goethe eben nicht alles dasjenige möchte hervorgebracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal seinem Schöpfer gefallen hat.

Donnerstag, den 12. [?] Mai 1825

Goethe sprach mit hoher Begeisterung über Menander. »Nächst dem Sophokles«, sagte er, »kenne ich keinen, der mir so lieb wäre. Er ist durchaus rein, edel, groß und heiter, seine Anmut ist unerreichbar. Daß wir so wenig von ihm besitzen, ist allerdings zu bedauern, allein auch das Wenige ist unschätzbar und für begabte Menschen viel daraus zu lernen.

Es kommt nur immer darauf an,« fuhr Goethe fort, »daß derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. So hat z. B. Calderon, so groß er ist und so sehr ich ihn bewundere, auf mich gar keinen Einfluß gehabt, weder im Guten noch im Schlimmen. Schillern aber wäre er gefährlich gewesen, er wäre an ihm irre geworden, und es ist daher ein Glück, daß Calderon erst nach seinem Tode in Deutschland in allgemeine Aufnahme gekommen. Calderon ist unendlich groß im Technischen und Theatralischen; Schiller dagegen weit tüchtiger, ernster und größer im Wollen, und es wäre daher schade gewesen, von solchen Tugenden vielleicht etwas einzubüßen, ohne doch die Größe Calderons in anderer Hinsicht zu erreichen.«

Wir kamen auf Molière. »Molière«, sagte Goethe, »ist so groß, daß man immer von neuem erstaunt, wenn man ihn wieder liest. Er ist ein Mann für sich, seine Stücke grenzen ans Tragische, sie sind apprehensiv, und niemand hat den Mut, es ihm nachzutun. Sein ›Geiziger‹, wo das Laster zwischen Vater und Sohn alle Pietät aufhebt, ist besonders groß und im hohen Sinne tragisch. Wenn man aber in einer deutschen Bearbeitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, so wird es schwach und will nicht viel mehr heißen. Man fürchtet, das Laster in seiner wahren Natur erscheinen zu sehen allein was wird es da, und was ist denn überhaupt tragisch wirksam als das Unerträgliche.

Ich lese von Molière alle Jahr einige Stücke, so wie ich auch von Zeit zu Zeit die Kupfer nach den großen italienischen Meistern betrachte. Denn wir kleinen Menschen sind nicht fähig, die Größe solcher Dinge in uns zu bewahren, und wir müssen daher von Zeit zu Zeit immer dahin zurückkehren, um solche Eindrücke in uns anzufrischen.

Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! Sowie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überhaupt, was können wir denn unser Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.

Hiebei aber ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Epoche unseres Lebens der Einfluß einer fremden bedeutenden Persönlichkeit stattfindet.

Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter waren als ich, und die beiden ersteren auf meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung.

Ferner: daß Schiller so viel jünger war und im frischesten Streben begriffen, da ich an der Welt müde zu werden begann; angleichen, daß die Gebrüder von Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir daher unnennbare Vorteile entstanden.«

Nach solchen Äußerungen über die Einflüsse bedeutender Personen auf ihn kam das Gespräch auf die Wirkungen, die er auf andere gehabt, und ich erwähnte Bürger, bei welchem es mir problematisch erscheine, daß bei ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine Spur einer Einwirkung von Goethes Seite wahrzunehmen.

»Bürger«, sagte Goethe, »hatte zu mir wohl eine Verwandtschaft als Talent, allein der Baum seiner sittlichen Kultur wurzelte in einem ganz anderen Boden und hatte eine ganz andere Richtung. Und jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen. Ein Mann aber, der in seinem dreißigsten Jahre ein Gedicht wie die ›Frau Schnips‹ schreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch sein bedeutendes Talent sich ein Publikum gewonnen, dem er völlig genügte, und er hatte daher keine Ursache, sich nach den Eigenschaften eines Mitstrebenden umzutun, der ihn weiter nichts anging.

»Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »lernt man nur von dem, den man liebt. Solche Gesinnungen finden sich nun wohl gegen mich bei jetzt heranwachsenden jungen Talenten, allein ich fand sie sehr spärlich unter Gleichzeitigen. Ja ich wüßte kaum einen einzigen Mann von Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht gewesen wäre. Gleich an meinem ›Werther‹ tadelten sie so viel, daß, wenn ich jede gescholtene Stelle hätte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben wäre. Allein aller Tadel schadete mir nichts, denn solche subjektive Urteile einzelner obgleich bedeutender Männer stellten sich durch die Masse wieder ins Gleiche. Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.

Nun streitet sich das Publikum seit zwanzig Jahren, wer größer sei: Schiller oder ich, und sie sollten sich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können.«

Sonnabend, den 11. [Mittwoch, den 1.] Juni 1825

Goethe sprach heute bei Tisch sehr viel von dem Buche des Major Parry über Lord Byron. Er lobte es durchaus und bemerkte, daß Lord Byron in dieser Darstellung weit vollkommener und weit klarer über sich und seine Vorsätze erscheine als in allem, was bisher über ihn geschrieben worden.

»Der Major Parry«, fuhr Goethe fort, »muß gleichfalls ein sehr bedeutender, ja ein hoher Mensch sein, daß er seinen Freund so rein hat auffassen und so vollkommen hat darstellen können. Eine Äußerung seines Buches ist mir besonders lieb und erwünscht gewesen, sie ist eines alten Griechen, eines Plutarch würdig. ›Dem edlen Lord‹, sagt Parry, ›fehlten alle jene Tugenden, die den Bürgerstand zieren und welche sich anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Lebensweise gehindert war. Nun sind aber seine ungünstigen Beurteiler sämtlich aus der Mittelklasse, die denn freilich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu vermissen, was sie an sich selber zu schätzen Ursache haben. Die wackern Leute bedenken nicht, daß er an seiner hohen Stelle Verdienste besaß, von denen sie sich keinen Begriff machen können.‹ Nun, wie gefällt Ihnen das?« sagte Goethe; »nicht wahr, so etwas hört man nicht alle Tage?«

»Ich freue mich«, sagte ich, »eine Ansicht öffentlich ausgesprochen zu wissen, wodurch alle kleinlichen Tadler und Herunterzieher eines höher stehenden Menschen ein für allemal durchaus gelähmt und geschlagen worden.«

Wir sprachen darauf über welthistorische Gegenstände in bezug auf die Poesie, und zwar inwiefern die Geschichte des einen Volkes für den Dichter günstiger sein könne als die eines andern.

»Der Poet«, sagte Goethe, »soll das Besondere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. Die englische Geschichte ist vortrefflich zu poetischer Darstellung, weil sie etwas Tüchtiges, Gesundes und daher Allgemeines ist, das sich wiederholt. Die französische Geschichte dagegen ist nicht für die Poesie, denn sie stellt eine Lebensepoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieses Volkes, insofern sie auf jener Epoche gegründet ist, steht daher als ein Besonderes da, das mit der Zeit veralten wird.

Die jetzige Epoche der französischen Literatur«, sagte Goethe später, »ist gar nicht zu beurteilen. Das eindringende Deutsche bringt darin eine große Gärung hervor, und erst nach zwanzig Jahren wird man sehen, was dies für ein Resultat gibt.«

Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters durch abstrakte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren Resultat zu kommen.

»Was ist da viel zu definieren!« sagte Goethe. »Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Poeten.«

Mittwoch, den 15. [12.] Oktober 1825

Ich fand Goethe diesen Abend in besonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus seinem Munde abermals manches Bedeutende zu hören. Wir sprachen über den Zustand der neuesten Literatur, wo denn Goethe sich folgendermaßen äußerte:

»Mangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen«, sagte er, »ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.

Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches Wahres uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre.

Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lucretia, eines Mucius Scävola, und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! Und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.

So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Faktum des dreizehnten Jahrhunderts, wo Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Papste zu tun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg geschlagen. Diese Tapfern lebten daher bis jetzt immer in mir als große Retter der deutschen Nation. Nun aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Helden sich ganz unnütz aufgeopfert hätten, indem das asiatische Heer bereits zurückgerufen gewesen und von selbst zurückgegangen sein würde. Dadurch ist nun ein großes vaterländisches Faktum gelähmt und zernichtet, und es wird einem ganz abscheulich zumute.«

Nach diesen Äußerungen über historische Kritiker sprach Goethe über Forscher und Literatoren anderer Art.

»Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu tun ist, nie so kennen gelernt,« sagte er, »wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.

Und in der schönen Literatur ist es nicht besser. Auch dort sind große Zwecke und echter Sinn für das Wahre und Tüchtige und dessen Verbreitung sehr seltene Erscheinungen. Einer hegt und trägt den andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gerne aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten. So ist die Masse, und einzelne Hervorragende sind nicht viel besser.

Böttiger hätte bei seinem großen Talent, bei seiner weltumfassenden Gelehrsamkeit der Nation viel sein können. Aber so hat seine Charakterlosigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn selbst um die Achtung der Nation gebracht.

Ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!

Viele sind geistreich genug und voller Kenntnisse, allein sie sind zugleich voller Eitelkeit, und um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts heilig.

Die Frau von Genlis hat daher vollkommen recht, wenn sie sich gegen die Freiheiten und Frechheiten von Voltaire auflegte. Denn im Grunde, so geistreich alles sein mag, ist der Welt doch nichts damit gedient; es läßt sich nichts darauf gründen. Ja es kann sogar von der größten Schädlichkeit sein, indem es die Menschen verwirrt und ihnen den nötigen Halt nimmt.

Und dann! Was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unserm Witze!

Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann an der Grenze des Begreiflichen zu halten.

Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.

Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes getan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich tun werde, bin ich gezwungen zu handeln, wie sie es weiß.

Dieses führe ich nur an als ein Zeichen, wie wenig wir wissen, und daß an göttlichen Geheimnissen nicht gut zu rühren ist.

Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zugute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten.«

Sonntag, den 25. Dezember 1825

Ich ging diesen Abend um sechs Uhr zu Goethe, den ich alleine fand und mit dem ich einige schöne Stunden verlebte.

»Mein Gemüt«, sagte er, »war diese Zeit her durch vieles belästigst; es war mir von allen Seiten her so viel Gutes geschehen, daß ich vor lauter Danksagungen nicht zum eigentlichen Leben kommen konnte. Die Privilegien wegen des Verlags meiner Werke gingen nach und nach von den Höfen ein, und weil die Verhältnisse bei jedem anders waren, so verlangte auch jeder Fall eine eigene Erwiderung. Nun kamen die Anträge unzähliger Buchhändler, die auch bedacht, behandelt und beantwortet sein wollten. Dann, mein Jubiläum brachte mir so tausendfältiges Gute, daß ich mit den Danksagungsbriefen noch jetzt nicht fertig bin. Man will doch nicht hohl und allgemein sein, sondern jedem doch gerne etwas Schickliches und Gehöriges sagen. Jetzt aber werde ich nach und nach frei, und ich fühle mich wieder zu Unterhaltungen aufgelegt.

Ich habe in diesen Tagen eine Bemerkung gemacht, die ich Ihnen doch mitteilen will.

Alles, was wir tun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Günstiges, und das Verkehrte nicht immer etwas Ungünstiges hervor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegenteil.

Ich machte vor einiger Zeit, eben bei jenen Unterhandlungen mit Buchhändlern, einen Fehler, und es tat mir leid, daß ich ihn gemacht hatte. Jetzt aber haben sich die Umstände so geändert, daß ich einen großen Fehler begangen haben würde, wenn ich jenen nicht gemacht hätte. Dergleichen wiederholt sich im Leben häufig, und Weltmenschen, welche dieses wissen, sieht man daher mit einer großen Frechheit und Dreistigkeit zu Werke gehen.«

Ich merkte mir diese Beobachtung, die mir neu war. Ich brachte sodann das Gespräch auf einige seiner Werke, und wir kamen auch auf die Elegie ›Alexis und Dora‹.

»An diesem Gedicht«, sagte Goethe, »tadelten die Menschen den starken leidenschaftlichen Schluß und verlangten, daß die Elegie sanft und ruhig ausgehen solle, ohne jene eifersüchtige Aufwallung; allein ich konnte nicht einsehen, daß jene Menschen recht hätten. Die Eifersucht liegt hier so nahe und ist so in der Sache, daß dem Gedicht etwas fehlen würde, wenn sie nicht da wäre. Ich habe selbst einen jungen Menschen gekannt, der in leidenschaftlicher Liebe zu einem schnell gewonnenen Mädchen ausrief: Aber wird sie es nicht einem andern ebenso machen wie mir?«

Ich stimmte Goethen vollkommen bei und erwähnte sodann der eigentümlichen Zustände dieser Elegie, wo in so kleinem Raum mit wenig Zügen alles so wohl gezeichnet sei, daß man die häusliche Umgebung und das ganze Leben der handelnden Personen darin zu erblicken glaube. »Das Dargestellte erscheint so wahr,« sagte ich, »als ob Sie nach einem wirklich Erlebten gearbeitet hätten.«

»Es ist mir lieb,« antwortete Goethe, »wenn es Ihnen so erscheint. Es gibt indes wenige Menschen, die eine Phantasie für die Wahrheit des Realen besitzen, vielmehr ergehen sie sich gerne in seltsamen Ländern und Zuständen, wovon sie gar keine Begriffe haben und die ihre Phantasie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.

Und dann gibt es wieder andere, die durchaus am Realen kleben und, weil es ihnen an aller Poesie fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So verlangten z. B. einige bei dieser Elegie, daß ich dem Alexis hätte einen Bedienten beigeben sollen, um sein Bündelchen zu tragen; die Menschen bedenken aber nicht, daß alles Poetische und Idyllische jenes Zustandes dadurch wäre gestört worden.«

Von ›Alexis und Dora‹ lenkte sich das Gespräch auf den ›Wilhelm Meister‹.

»Es gibt wunderliche Kritiker«, fuhr Goethe fort. »An diesem Roman tadelten sie, daß der Held sich zu viel in schlechter Gesellschaft befinde. Dadurch aber, daß ich die sogenannte schlechte Gesellschaft als Gefäß betrachtete, um das, was ich von der guten zu sagen hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetischen Körper und einen mannigfaltigen dazu. Hätte ich aber die gute Gesellschaft wieder durch sogenannte gute Gesellschaft zeichnen wollen, so hätte niemand das Buch lesen mögen.

Den anscheinenden Geringfügigkeiten des ›Wilhelm Meister‹ liegt immer etwas Höheres zum Grunde, und es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Weltkenntnis und Übersicht genug besitze, um im Kleinen das Größere wahrzunehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben genügen.«

Goethe zeigte mir darauf ein höchst bedeutendes englisches Werk, welches in Kupfern den ganzen Shakespeare darstellte. Jede Seite umfaßte in sechs kleinen Bildern ein besonderes Stück mit einigen untergeschriebenen Versen, so daß der Hauptbegriff und die bedeutendsten Situationen des jedesmaligen Werkes dadurch vor die Augen traten. Alle die unsterblichen Trauerspiele und Lustspiele gingen auf solche Weise, gleich Maskenzügen, dem Geiste vorüber.

»Man erschrickt,« sagte Goethe, »wenn man diese Bilderchen durchsieht. Da wird man erst gewahr, wie unendlich reich und groß Shakespeare ist! Da ist doch kein Motiv des Menschenlebens, das er nicht dargestellt und ausgesprochen hätte. Und alles mit welcher Leichtigkeit und Freiheit!

Man kann über Shakespeare gar nicht reden, es ist alles unzulänglich. Ich habe in meinem ›Wilhelm Meister‹ an ihm herumgetupft; allein das will nicht viel heißen. Er ist kein Theaterdichter, an die Bühne hat er nie gedacht, sie war seinem großen Geiste viel zu enge; ja selbst die ganze sichtbare Welt war ihm zu enge.

Er ist gar zu reich und zu gewaltig. Eine produktive Natur darf alle Jahre nur ein Stück von ihm lesen, wenn sie nicht an ihm zugrunde gehen will. Ich tat wohl, daß ich durch meinen ›Götz von Berlichingen‹ und ›Egmont‹ ihn mir vom Halse schaffte, und Byron tat sehr wohl, daß er vor ihm nicht zu großen Respekt hatte und seine eigenen Wege ging. Wie viel treffliche Deutsche sind nicht an ihm zugrunde gegangen, an ihm und Calderon!

Shakespeare«, fuhr Goethe fort, »gibt uns in silbernen Schalen goldene Äpfel. Wir bekommen nun wohl durch das Studium seiner Stücke die silberne Schale, allein wir haben nur Kartoffeln hineinzutun, das ist das Schlimme!«

Ich lachte und freute mich des herrlichen Gleichnisses.

Goethe las mir darauf einen Brief von Zelter über eine Darstellung des ›Macbeth‹ in Berlin, wo die Musik mit dem großen Geiste und Charakter des Stückes nicht hatte Schritt halten können und worüber nun Zelter sich in verschiedenen Andeutungen auslässet. Durch Goethes Vorlesen gewann der Brief sein volles Leben wieder, und Goethe hielt oft inne, um sich mit mir über das Treffende einzelner Stellen zu freuen.

»›Macbeth«‹, sagte Goethe bei dieser Gelegenheit, »halte ich für Shakespeares bestes Theaterstück; es ist darin der meiste Verstand in bezug auf die Bühne. Wollen Sie aber seinen freien Geist erkennen, so lesen Sie ›Troilus und Cressida‹, wo er den Stoff der ›Ilias‹ auf seine Weise behandelt.«

Das Gespräch wendete sich auf Byron, und zwar wie er gegen Shakespeares unschuldige Heiterkeit im Nachteil stehe, und wie er durch sein vielfältig negatives Wirken sich so häufigen und meistenteils nicht ungerechten Tadel zugezogen habe. »Hätte Byron Gelegenheit gehabt,« sagte Goethe, »sich alles dessen, was von Opposition in ihm war, durch wiederholte derbe Äußerungen im Parlament zu entledigen, so würde er als Poet weit reiner dastehen. So aber, da er im Parlament kaum zum Reden gekommen ist, hat er alles, was er gegen seine Nation auf dem Herzen hatte, bei sich behalten, und es ist ihm, um sich davon zu befreien, kein anderes Mittel geblieben, als es poetisch zu verarbeiten und auszusprechen. Einen großen Teil der negativen Wirkungen Byrons möchte ich daher verhaltene Parlamentsreden nennen, und ich glaube sie dadurch nicht unpassend bezeichnet zu haben.«

Wir sprachen darauf über Platen, dessen negative Richtung gleichfalls nicht gebilliget wurde. »Es ist nicht zu leugnen,« sagte Goethe, »er besitzt manche glänzende Eigenschaften: allein ihm fehlt – die Liebe. Er liebt so wenig seine Leser und seine Mitpoeten als sich selber, und so kommt man in den Fall, auch auf ihn den Spruch des Apostels anzuwenden: ›Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.‹ Noch in diesen Tagen habe ich Gedichte von Platen gelesen und sein reiches Talent nicht verkennen können. Allein, wie gesagt, die Liebe fehlt ihm, und so wird er auch nie so wirken, als er hätte müssen. Man wird ihn fürchten, und er wird der Gott derer sein, die gern wie er negativ wären, aber nicht wie er das Talent haben.«

Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens

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