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Von Arizona bis New Yorck
ОглавлениеWild-West Arizona. — Prärieleben. — Der Tag eines Cowboy. — Mein Abenteuer mit der roten Kuh. — Mein Klubfreund aus New York und mein ranchboss. — Wir reiten nach Marquez. — Im saloon von Marquez erfahre ich den Kriegsausbruch. — Auf in die Heimat. — Nach San Francisco. — 2000 Lstr. von England auf meinen Kopf gesetzt. — Die unterlassene Abreise auf der Brigg. — Von Detektivs beobachtet. — Ritte in Texas. — Verfolgte Verbrecher in Texas. — Kann von New York aus entkommen. — Abreise nach New York mit dem Expreßzug. — Durch Newada, Utah, Wyoming — die Hölle auf Rädern — nach der Hauptstadt des Ostens.
In dem gewaltig-wilden Gebiet von Arizona, im Südwesten der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, lebte ich meinen sportlichen und jagdlichen Neigungen vor Ausbruch des Weltkrieges. Diese weiten urwüchsigen Landstrecken, die nur ein kurzes Gras, Busch und Knüppelholz wuchern lassen, haben immer einen einladenden Reiz auf mich ausgeübt. Der Gefahr eiskalt ins ebenso kalte Auge blicken zu können, ist für mich stets die höchste Freude des Lebens gewesen.
Die Gebiete sind besonders hervorragend durch die interessante Jagd auf den Coyoten, eine Art Präriewolf, ein Mittelding zwischen Wolf und Hund: ferner jagt man dort Berglöwen — Puma — und die in ganz Amerika jagdbaren Virginia-Hirsche. Tiefe Riesentäler aus Urweltzeit — canion genannt —, vor allem das hochromantische Kolorado-canion, durchziehen die formschöne Landschaft, die nach Süden steil abfällt und im Norden eine weite Hochebene bildet.
Die ganze Gegend wird von zahllosen Viehherden und Pferden bunt belebt. Das Vieh grast wild auf diesen Riesenweiden; nur alle paar Tage einmal machen sich zwei oder drei Reiter gemeinsam auf und reiten los, um zu erforschen, ob das Vieh sich nicht verlaufen hat und ob die Wasserstellen und Wassertröge gefüllt sind.
Sonst kümmert man sich wenig um diese wilden Herden, die trotzdem den fast einzigen Reichtum des Landes darstellen. Das zügellose Leben in dieser primitiven Welt hat ja von jeher auf freiheitliebende Naturen einen unaussprechlichen Zauber ausgeübt. Das Leben in dieser Naturwildnis ist auch eigenartig genug, so dass ich ihm einige Worte widmen möchte. Ich will daher am einfachsten kurz einen solchen Lebenstag von irgendeiner wesentlicheren Bedeutung im Leben der Hauptbewohner dieses Landes, der Cowboys, schildern.
Diese Cowboys sind ein eigener Schlag von Menschen: in der Prärie, im Leben und Verkehr mit Pferd und Vieh groß geworden, kennen sie von Jugend auf nur die Kunst des Reitens; außerdem sind sie erstklassige Revolverschützen. Die meisten sind wohl eingeborene Amerikaner, doch finden sich auch manchmal Halbindianer unter ihnen.
Aber was das Merkwürdige und Liebenswerte dabei ist, es finden sich viele Sportsleute der ganzen Welt dort zusammen. Sie suchen die sportlichen Leistungen der Cowboys, die die höchste Vollendung der Reitkunst darstellen, zu erlernen und wollen in der ursprünglichen Lebensform dieser Naturheilanstalt nach den Nervenjagden in den anderen Erdteilen an Leib und Seele gesund werden. So findet man unter anderen auch die zweiten und dritten Söhne englischer Lords unter der bunt aus der ganzen Welt zusammengewürfelten Gesellschaft der Cowboys.
Der Grundzug ihres Wesens ist die Betonung ihrer persönlichen Freiheit und das tief eingewurzelte altmexikanische, ritterliche Wesen. Es wird zu den großen Seltenheiten gehören, dass dort wehrlose Leute angefallen oder gar von hinten erschossen werden. Ich nehme natürlich die Pferdediebe und Prärieräuber aus, die zum gefährlichsten Gesindel der Welt gehören.
Die meist unverheirateten Cowboys wohnen alle zusammen in einer Art Junggesellenheim, in dem so genannten bunkhouse; das sind ebenerdige Häuser, wie überall dort im Land, aus Lehm, Schilf und Häcksel wetterhart zusammengebaut. Nur zwei Räume und eine Küche sind vorhanden, ein Wohnraum und anschließend ein Schlafsaal mit übereinander angebrachten Betten.
Die Küche besorgt ein Chinese. Die angeborene Reinlichkeit dieses Volkes bestimmt es zu diesem Amt, das auch tatsächlich von den Angehörigen der gelben Rasse viel ausgeübt wird.
Bei Tagesanbruch wird aufgestanden, dann, gleich als natürlich erstes Tagewerk, werden die Pferde gefuttert, und zwar nur zunächst die, die man zum Ritt benutzen will und die abends vorher aus der Koppel eingefangen worden waren. Diese Pferde sind keine wilden Pferde mehr, sondern „eingebrochene“ — braking in — d. h. nach Cowboyart in der mexikanisch-spanischen Reitmanier zugeritten und nur auf scharfe Kandare gearbeitet.
Nachdem die Sattellage sehr notdürftig abgeputzt ist und ganz lose angesattelt wird, bleiben die Tiere so im Stall stehen, bis nach dem gemeinsamen Frühstück. Das ist nun ein sehr reichliches und besteht aus Kaffee, Milch, Haferschleimsuppe — porridge oder mash — stark gesalzenem Schinken, Speck und heiß gerösteten Brötchen. Alkohol wird auf anständigen Ranchos wenig getrunken.
Nach dem saftigen Frühstück geht es wieder zu den Pferden, und es wird angegurtet, getränkt und schließlich aufgezäumt zum Ritt in die „Hügel“ — hills. Diese Hügel sind schroffe Höhen mit tiefabfallenden Bergschründen: der Name Hügel ist eine etwas verkleinernde Benennung.
Meist zu Zweit oder zu Dritt wird jetzt langsam bergan getrabt, um das dort grasende Vieh zu Gesicht zu bekommen. Man hat da, wie z. B. heute, die Tagesarbeit, eine Herde Vieh auf eine andere Weide zu bringen. Sowie man das Vieh erspäht hat, teilt man sich und drückt es langsam bergab gegen den Wechsel, den man zu nehmen beabsichtigt. Hat man die Herde in die Gegend des Wechsels gebracht, so fängt man nun schärfer zu drücken an, bis es dann schließlich in windender Fahrt, immer links und rechts an dem Wechsel, in dessen unmittelbarer Nähe man bleiben muss, zu Tal geht.
Es ist Regel, immer dichtauf an dem letzten Stück Vieh zu bleiben: kommt man nur wenige Meter ab, so kann es leicht passieren, dass der Reiter die Fühlung mit dem im Unterholz verschwindenden Vieh verliert. Wochenlanger Arbeit kann es dann bedürfen, um dieser auseinandergerissenen und versprengten Herde wieder habhaft zu werden.
Ich hatte einmal ein eigenartiges Erlebnis, als wir solche Herde zu Tal trieben. Mir fiel eine rote Kuh, die einem Rotschimmel nicht unähnlich sah, auf: ich hielt sie für eine gute Milchkuh und trachtete deshalb danach, sie zu fangen. Kühe sind meiner Erfahrung nach schlauer als Bullen und meist auch gefährlicher.
Ich sah, wie die Kuh, die meine Aufmerksamkeit erregt hatte, sich seitwärts in den Busch drücken wollte, und wie sie dann stehen blieb, um mich vorbeireiten zu lassen. Der Schauplatz des Ereignisses war die Talsohle an einem nicht allzu breiten Flussbett. Ich warf sofort mein Pferd herum mit der Absicht, die Kuh wieder der Herde nachzutreiben.
Kaum hatte das Tier mein Beginnen erspäht, machte es kurz kehrt und versuchte raschestens bergauf zu entkommen. Ich ritt an diesem Tag ein sehr schnelles, indianisches Pony. Da versuchte ich das laufende Tier schleunigst nach oben abzuschneiden. Nach ein paar Minuten toller Hetzjagd überholte ich die Kuh, und schon blieb sie wieder unschlüssig stehen.
Das war der Augenblick, auf den ich gewartet hatte. Geschwind das Lasso vom Sattel, wo es rechts unterhalb des Sattelknopfes herunterhängt, die Riemen gelöst und wurfbereit zur Hand! Ich ritt das Tier nun an, das sich zur Flucht wendete. In dem Moment, wo die Kuh wieder in den Busch verschwinden wollte, bekam sie mein Lasso über die Hörner.
Schon saß da mein treues Pony auf der Hinterhand: dann das Lasso gestrafft am Sattel befestigt, fuhr ich nun mit dem Vieh in schnellster Fahrt den Berg hinunter und war schon ziemlich unten im Tal wieder angekommen, als es die Beine verlor und sich — holterdiepolter — überschlug.
Sowie ich die Kuh wieder hoch hatte, versuchte ich, sie in die Richtung der Herde zu bugsieren, als sie wieder bergan ausbrechen wollte. Aber ich hielt fest, und das nützte ihr nichts; da sah sie den besseren Teil ihrer Rettung darin, mich mit den Hörnern spießen zu wollen und nahm mich direkt an.
Es begann nun ein launiges Versteckspiel: ich wich den wohl- und immer geradeaus gezielten Stößen aus und ritt dann mit dem Wildling am gestrafften Lasso vorwärts; die Kuh aber drehte sich blitzschnell um und erneuerte dasselbe grausame Spiel mit mir. So ging das Vergnügen hin und her.
Auf einmal galoppierte das Vieh in wildem Tempo direkt auf das Flussbett los. Das passte mir nun wieder gar nicht: denn mein Bad hatte ich heute früh schon genommen. Da gelang es mir im letzten Augenblick, kurz vor dem Absturz ins Wasser, das Tier herumzukriegen. Das gelockerte, bereite Lasso flog nun von hinten im Schlingwurf der ungebärdigen Dirne um die Beine: stolpernd flog mein Opfer in den Sand, und ich fesselte es nun vollkommen an beiden Hinterbeinen und ließ es liegen, um Hilfe zu holen.
Später wurde die Ausreißerin dann wieder der Herde zugeführt und trottete nun resigniert, mit gesenktem Kopf, von Zeit zu Zeit eine brummende Melodie trällernd, zwischen meinen zwei berittenen Leuten, die sie links und rechts am gestrafften Lasso fest hatten, den heimatlichen Weideplätzen entgegen. Einmal hatte sich bei mir ein Freund aus New York angesagt, um das wilde Leben des Westens, von dem im Osten oft nur sagenhafte Begriffe herrschen, auf meiner Ranch kennen zu lernen. Ich hatte dem eleganten Klubfreund geschrieben, dass auf den Prärien ein rauer Wind wehe, und er solle sich so einrichten, alles überflüssige Gepäck zu Haus zu lassen und seine Ansprüche an Komfort und Lebensluxus auf das tunlichst niedrige Maß herabzusetzen. Nur wirklich notwendige Gegenstände und jagdsportliche Kleidung könne er hier brauchen. Den Ballast solle er lieber im Lande der Kultur liegen lassen: er könne sonst eigenartige Überraschungen hier erleben.
Am Tag seiner verabredeten Ankunft schickte ich ihm meinen vornehmsten Buggy mit zwei schnellen Pferden an die Station entgegen und meinen zuverlässigsten, besten Cowboy als Kutscher. Als er bei mir eintraf, war es glühende Mittagzeit! meine Ranchleute waren alle bei der Arbeit, fort in den Feldern.
Ich empfing den Gast vor der Tür des Hauses und bemerkte zum allergrößten Erstaunen, dass mein Freund entgegen meinem Rat mit äußerster Eleganz angezogen war. Er trug Kniehosen nach letztem New Yorker Schnitt, eine helle Homespunjacke, einen weichen grauen Hut neuester Bauart — und sehr feine, ganz neue gelbe Stiefel, die ihn zu drücken schienen, als er etwas hinkend vom Wagen herabstieg und mich freudestrahlend begrüßte.
Ich nahm den Ankömmling kameradschaftlich unter den Arm und geleitete ihn ins Haus, wo er mich unverzüglich um Hausschuhe bat, da er böse Schmerzen an den Füßen habe.
Wir traten dann auf die Veranda heraus, ich holte ihm das Gewünschte, und er benutzte die kurze Zeit meiner Abwesenheit, um sich der Drücker zu entledigen und postierte sie mit dem unverhohlenen Ausdruck der Freude, von dieser schmerzenden Last befreit zu sein, vorn auf die Veranda.
Inzwischen hatte mein braver Cowboy „liebenswürdigerweise“ meinem Freund den Koffer vom Wagen gehoben und ihn auch auf die Veranda getragen, wo er ihn von den Schultern, just neben die Stiefel, polternd herabgleiten ließ. Mein Cowboy blieb etwas unschlüssig stehen.
Da plötzlich ertönte die befehlende Stimme meines Freundes: „Nehmen Sie die Stiefel zum Putzen mit“.
Man denke sich — eine solche Zumutung einem Cowboy! Wenn überhaupt, so putze ich mir die Stiefel immer selbst und dürfte diese als erniedrigende Arbeit angesehene Beschäftigung keinem meiner Cowboys zumuten. Als ich die Worte gehört hatte, blieb mir das Herz vor Schrecken stehen, und ich war aufs äußerste gespannt, was nun folgen würde.
Man muss sich nun noch denken, dass dieser Cowboy gerade mein ranchboss, der älteste und angesehenste meiner Leute war, den ich meinem Freund zur besonderen Ehrung als Kutscher entgegengeschickt hatte. Er war ein großer, sehniger, hagerer Kerl, schwarzhaarig, voll angeboren stolzer Haltung.
Als die verhängnisvollen Worte meinem ahnungslosen Freund entschlüpft waren, horchte mein Cowboy so auf, als ob er nicht richtig verstanden haben könne — dann aber sah er mich entgeistert an. Ich verzog keinen Gesichtsmuskel, obwohl ich schon vor Lachkrampf kaum mehr an mich halten konnte.
Nun wurde sein Blick dringlicher und verständnisvoller, dann sah er mit einem eigentümlichen, kaum merklichen Spiel der Mundwinkel meinen Freund etwas mitleidig an, und schließlich, mit einem wegwerfenden Augenaufschlag auf die gelben Wunderwerke aus New York, meinte er ganz trocken: „Schöne Stiefel — das!“
Dann zog er mit unnachahmlicher, hoheitsvoller Geste seinen Revolver heraus, schoss in jeden der Stiefel eine Kugel, drehte sich wortlos um und ging gemessenen Schrittes, ohne uns eines weiteren Grußes zu würdigen, von dannen, um Wagen und Pferde zum Stall zu bringen.
Es war eine so überwältigend komische Situation und so bezeichnend für die Denkweise eines Cowboy, dass meinem eben angekommenen Freund der Begriff des wilden Westens mit erschreckender Anschaulichkeit gleich klar wurde.
Es bedurfte meinerseits keiner weiteren Erklärung oder Entschuldigung für meinen Ranchboss. Mein Freund hatte nur „well done“ (Recht so!) gesagt.
Als wir später zum Frühstück zusammenkamen, hatte mein Freund ohne weiteres seinen eleganten Anzug mit einem rauen Hemd, blauen Reithosen mit den schweren ledernen Überzügen und hohen Stiefeln vertauscht, die in Ermangelung eigener passender Garderobe aus meinen Beständen entnommen waren. So hatte er schnell die Präriesitte kennengelernt und suchte sich nun ihr auch äußerlich anzupassen.
Seine eigene rosa Jagdkrawatte, die in doppelter Verschlingung den Hals umspannte, verschwand in die Versenkung, und die verstaubte, verschlissene Präriegarderobe stand ihm auch gar nicht schlecht. Der ranchboss aber und mein New Yorker sind später noch gute Freunde geworden, und als er mich verließ, hatte ich einen neuen begeisterten Anhänger des freien Steppenlebens im wilden Westen an ihm gewonnen.
Der Sommer 1914 war sehr heiß und trocken gewesen: dabei war die Jagd nicht mehr lohnend gegen über den unverhältnismäßigen Strapazen in der glühenden Hitze. Auch die Heranschaffung des Proviants nach den entfernt liegenden Jagdgründen wurde schwierig, und die vorhandenen Vorräte waren überhaupt knapp geworden.
Unsere unentbehrlichen Genossen und Freunde des täglichen Lebens, die Pferde, bedurften einer schonenden Ruhe: denn es war ihnen im wahren Sinne des Wortes die Puste ausgegangen.
Alle diese Erwägungen drängten sich mir täglich auf und ließen bald den Entschluss in mir reifen, meine ranch auf einige Zeit zu verlassen, um in der nicht allzu fern gelegenen ersten größeren Ansiedelung an der mexikanischen Grenze die unbedingt alle Jahre notwendige Inventur vorzunehmen. Ich entschloss mich daher, die Stadt Marquez — ein Ort von etwa 2000 Einwohnern — baldigst mit meinen befreundeten Cowboys aufzusuchen und brach Anfang August 1914 dorthin auf.
Am 6. August hatte ich mein Ziel erreicht.
Von den Anstrengungen der Reise nach einem frischen Trunk lechzend, hatten wir den ersten saloon des Ortes betreten, um mit einem oder mehreren Gläsern des köstlichen Getreidedestillats Rye Whisky den Reisestaub hinunterzuspülen. Die erste Wandlung des Natur- zum Kulturmenschen lag in diesem lang entbehrten Schluck Whisky.
Wir näherten uns den Stätten der Lebenskunst. Hastig war das erste Glas von uns allen geleert worden, und wir hatten keine Muße gehabt, dem aufgeregten Gespräch der anderen Anwesenden zuzuhören. Nachdem der erste Durst seine herrliche Labung gefunden hatte, war ja noch immer Zeit, dem Prärieklatsch sein Ohr zu leihen.
Plötzlich, von irgendwoher ausgesprochen, flog das Wort „Krieg“ durch den Raum. Was für ein Krieg, dachte ich schnell, und es folgte eine Hochflut von durcheinander schwirrenden Fragen und Antworten.
Ich war aufs Höchste erregt und konnte aus dem Stimmengewirr noch nichts Bestimmtes heraushören. Die Ungeduld übermannte mich.
Da schlug ich mich mit den Ellenbogen fechtend bis zu einer an der Wand hängenden Zeitung durch, die ich hastig vom Regal riss. Da stand es ja — schwarz auf weiß! Krieg mit Russland — Frankreich — England — die Deutschen in Belgien einmarschiert! Der Weltkrieg war entbrannt!
Es war ein Augenblick ewiger Größe in meinem Leben. Da stand ich nun an der Grenze der Steppe in einem kleinen Städtchen im Westen Amerikas über eine amerikanische Zeitung gebeugt — noch hatte der große Feldzug der Lüge nicht begonnen — und las: die Deutschen in Belgien einmarschiert!
Das war ein Schlag! Im Augenblick flatterten meine Gedanken über weite Länder und Meere zu meinem Vaterland hinüber, meiner Lieben musste ich gedenken, und mein stolzes, altes Regiment marschierte im Geist vor mir auf — und ich nicht dabei, ich nicht dabei!
Der lärmenden und um mich tobenden Menge achtete ich weiter nicht mehr. Es wurde feierlich still um mich. Eine abgelegene Ecke des saloon wurde meine Kirche, und ich sandte ein Gebet hinauf, mein geliebtes Vaterland in dieser höchsten Gefahr zu schützen. Meine Fahne rief. Da wurde mein Entschluss stahlhart gefasst: Auf dem schnellsten Wege in die Heimat!
Noch im Prärieanzug ritt ich zur nächsten Station, um dort den zuerst abgehenden Zug nach San Francisco zu erreichen.
San Francisco ist eine der schönst gelegenen Städte der Welt; es ist bergan auf Hügeln erbaut, zum Teil mit sehr steilen, kaum fahrbaren Straßen. Die Spuren des großen Erdbebens sind noch vieler Orts sichtbar. Leere Baustellen, neu entstandene Paläste wechseln in trauriger Folge mit Ruinenstätten, wo man noch heute einen Blick bis in die Grundmauern der zerstörten Häuser werfen kann. Die Hauptverkehrsader der Stadt heißt Market Street und führt von der Bai aus in einer 6 bis 7 km langen Linie als einzige ebene Straße durch die Stadt.
San Francisco ist in eine obere und untere Stadt geteilt. Reizvoll ist auch das zum Teil zerstörte Chinesenviertel, das sieben und acht Stockwerk tief auf dem beschränkten Raum in die Erde hinuntergebaut ist. Wo da das furchtbare Element zerstört hat, hat man die eigenartigsten Einblicke in das charakteristische, unterirdische Labyrinth von Verbrecher-, Opium- und Lasterhöhlen.
Der Hafen mit seiner berühmten engen, von Sperrforts gehüteten Einfahrt, golden gate — goldenes Tor — genannt, ist einer der bedeutendsten der Welt; er wird von tausenden von Schiffen aller Art belebt, und dort geht der ganze Welthandel nach dem Orient und Australien durch.
Ich nahm Wohnung am Presidio, in der oberen Stadt und hatte von meinem Hotelfenster aus einen überwältigend schönen Überblick über die ganze Bai.
Mein Bestreben ging von der Stunde meiner Ankunft in der Wunderstadt des Westens an dahin, eine Gelegenheit irgendwelcher Art zu finden, nach Deutschland hinüberzukommen.
Ich nahm daher unverzüglich Fühlung mit unserer Auslandsvertretung, dem Herrn Konsul v. Sch., dem es trotz großer Bemühungen, für die ich ihm an dieser Stelle noch meinen Dank ausspreche, nicht gelang, einen Weg nach der Heimat für mich ausfindig zu machen. Er wusste, dass ich persönlich auch nicht davor zurückgeschreckt wäre, mich als Matrose anwerben zu lassen, nur um mein gestecktes Ziel zu erreichen.
Bei meinen vielen Versuchen, eine Gelegenheit zur Überfahrt zu finden, hatte auch einmal ein Bekannter eine Möglichkeit für mich entdeckt, als Matrose auf einer Fünfmast-Brigg anzukommen. Das Schiff führte eine neutrale Flagge und hatte ausschließlich chinesische Schiffsmannschaft an Bord, was mich aber von meinem bestimmten Vorhaben, mich an heuern zu lassen, nicht abgehalten hätte; es hatte Fahrt nach einem neutralen Nordstaat in Europa und sollte entweder den Weg um das Kap Horn oder durch den neuerbauten Panamakanal nehmen.
Alle meine Vorbereitungen waren getroffen, und ich erwartete den Wink, unbemerkt an Bord zu gehen. Kurz vor meiner geplanten Ausfahrt erfuhr ich aus sicherer Quelle, dass die Engländer meinen Aufenthalt in San Francisco durch Detektive ermittelt und 2000 Pfund auf meinen Kopf gesetzt hatten.
Da kamen mir schwere Bedenken, die Schiffsroute der Brigg zu meinem Entkommen zu benutzen, da ich bemerkt hatte, dass englische Kreuzer vor der Bai lagen. Meine Absicht, schloss ich, musste bekannt geworden sein.
Ich nahm mir also vor, nicht an Bord zu gehen, und erwartete mit Spannung die Abfahrt „meines Schiffes“, was ich von dem Hotel aus leicht beobachten konnte. Ich konnte von meinem Fenster aus nicht nur die ganze Bai, sondern auch golden gate und den größten Teil der südlichen Küste übersehen.
Die Genugtuung, den Engländern nicht ins Netz gegangen zu sein, fand ich wenige Tage darauf, als die Brigg ausfuhr, zu meiner Freude bestätigt: denn kaum außerhalb der Dreimeilenzone der amerikanischen Hoheitsgewässer, wurde die Brigg von einem englischen Kriegsschiff angehalten und durchsucht, und ich sah schmunzelnd zu, wie, jedenfalls nach mir suchend, die Engländer keinen Lohn ihrer Arbeit fanden. Ich hatte wirklich eine sehr gute Nase gehabt.
In San Francisco musste ich nun volle drei Monate bleiben, stets eifrig bemüht, auf dem kürzesten und ehest möglichen Weg nach Deutschland hinüber zukommen. Es entspann sich daher in der Folge ein reger Briefwechsel und Telegrammverkehr mit den Autoritäten unserer Auslandsvertretung in New York der leider auch nicht gleich zu dem von mir gewünschten Ergebnis führte. So war es Ende Oktober geworden, und, immer noch nicht an der Möglichkeit meines Entkommens verzweifelnd, erkannte ich trotzdem unschwer, dass alle meine Bemühungen auf ungeheure Schwierigkeiten in der Ausführung stoßen würden.
Amerikanische Detektive, die in englischem Sold standen, beobachteten mich nun bald auf Schritt und Tritt, und der Aufenthalt selbst in meinem Hotel wurde für mich recht wenig erquicklich. Auch auf der Straße wurde ich ständig verfolgt. Dieser lästigen Beobachtung beschloss ich, mich so bald wie möglich zu entziehen und begab mich daher bei erster Gelegenheit nach Texas.
Dort ritt ich mit einigen Begleitern, eigentlich nur um mich zu verstecken, als Cowboy von ranch zu ranch und besuchte mir bekannte Rancheros. Diese Ritte im dortigen Gebiet gehören zu der gefährlicheren Sorte: denn hier ist Pferdestehlen an der Tagesordnung und der beliebteste Sport.
Es herrschen vollkommen rechtlose Zustände in dieser Gegend, und es hat immer seinen Prozess gewonnen, wer am schnellsten schießt. Polizei gibt es nicht und auch keine anderen Diener des Gesetzes. Nur wenn einmal ein bemerkenswert größerer Diebstahl oder gar Mord vorkommt, wird der Sheriff, eine Art Gendarmeriehauptmann, in Bewegung gesetzt: meist ist das ein angesehener Cowboy oder Ranchero.
Es wird dann eine sogenannte posse zusammengestellt: das ist eine am Fleck eingeschworene Polizeitruppe zu Pferd, die nun die Verfolgung des Verbrechers aufnimmt. Wird er, wie man sagt red handed, d. h. auf frischer Tat erwischt, so wird er auch gleich am nächsten Baum aufgehängt. Meist aber entwickelt sich eine richtige Schießerei, und der Verfolgte wird dabei abgeschossen, ohne dass man ihn hat der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuführen können.
Es war überhaupt eine sehr erregte und bewegte Zeit damals in Texas, denn die mexikanischen Insurgentenübergriffe unter Billa und Salazar hatten überhandgenommen, und die ganze amerikanische Bürgerschaft dieses Territoriums stand unter Waffen.
Dann und wann begab ich mich auf Schleichwegen nach San Francisco, um auszukundschaften, ob meine Spur einigermaßen verwischt war, und ob sich immer noch keine nur teilweise sichere Gelegenheit zum Entkommen bot. In englische Gefangenschaft zu geraten, hatte ich verteufelt wenig Lust, und ich hatte mit Sicherheit bemerkt, dass die englischen Agenten sehr scharfe Augen auf mich hatten.
Gelegentlich eines solchen vorübergehenden Aufenthalts in San Francisco, als ich wieder einmal dem rührigen Konsul v. Sch. einen Besuch abstattete, erfuhr ich, dass sich eine Möglichkeit böte, von New York aus nach Deutschland zu entkommen. Diese Nachricht hatte das Konsulat von unserer Botschaft in Washington auf Umwegen erhalten.
Mein Entschluss stand sofort fest, ohne Säumen nach New York abzureisen. Es waren ja auch inzwischen seit Oktober fast acht weitere lange Monate des Wartens vergangen; es war bereits Anfang Juni 1915 geworden. Zu meiner Reise nach dem Osten Amerikas benutzte ich den Overland-Limited, der mich in 3½ bis 4 Tagen nach meinem Reiseziel bringen sollte.
Ich fuhr durch die wilde Gegend von Newada, dem berühmten Land der Gold- und Boraxminen, dann durch das Mormonenland Utah und durch das Territorium Wyoming, einen durch Ackerbau und Viehzucht bedeutsamen Landstrich; auf diesen endlosen Strecken, die von einer dünnen Art Heidekraut — sago — bedeckt sind, weiden oft Herden von dreißig- bis vierzigtausend Stück Vieh, was ein imposanter Anblick ist.
In dieser Gegend spielten sich die berüchtigten Indianerkämpfe mit „Sitting Bull“ ab, und die dortige Gegend heißt noch heute die „hell on wheeles“ —Hölle auf Rädern —. Der Hauptort des Distrikts heißt Cheyenne; diese Stadt war noch bis in die neunziger Jahre der letzte zivilisierte Ort vor dem Eintritt in den wilden Westen.
Dann ging es durch die nördlichen Prärien nach Chicago, und am 7. Juni 1915 hatte ich mein vorläufiges Reiseziel, New York, erreicht.