Читать книгу Der Fuchs - Johanna Breitwieser - Страница 8
ОглавлениеErstes Kapitel
Agora
Aber wie war es eigentlich zu diesem Gespräch gekommen? Die gesamte Misere nahm an einem Dienstagmorgen ihren Lauf und hätte wohl kaum harmloser oder banaler beginnen können. „Odysseus, Schatz, könntest du auf dem Rückweg Milch und Brot mitbringen? Es geht zur Neige!“ – „Sicherlich, Penny, für meine liebe Frau tue ich alles.“ Der König von Ithaka stand auf, um sich die Schuhe anzuziehen. Dabei fiel sein Blick auf die Frühausgabe der Korinther Zeitung. „Diese Aktienkurse treiben ja jeden vernünftigen Menschen zur Verzweiflung“, knurrte er, belustigt über die Einfältigkeit mancher Landsleute. „Hast du übrigens unseren Sohn heute schon gesehen?“, fragte er Penelope, bevor er zur Tür hinaustrat. Diese schüttelte nur den Kopf. „Götter, wie schön sie ist. Das wundervollste Mädchen, das ich je treffen konnte“, dachte Odysseus, wie er seinen Hund Argos an der Leine nahm und Richtung Agora, dem Marktplatz, spazierte. Das Leben im Jenseits ließ sich gut ertragen. Bis zu diesem Tag.
Auf dem Markt angelangt, jagte Argos gleich ein paar Hühnern hinterher. Laut bellend versuchte er, auch den listigen Odysseus für diese Tiere zu begeistern. „Argos, sitz und sei brav. Penny hat gesagt, dass wir Milch und Brot beschaffen sollen und keine Hühner ärgern.“
Traurig blickte der Hund zu seinem Herrn auf. Dann legte er sich flach auf den Boden und hielt sich die Pfoten über den Kopf. Odysseus verdrehte entnervt die Augen. „Also gut, aber nur für zehn Minuten!“ Der Hund machte einen freudigen Luftsprung, danach verschwand er kläffend vor Freude in dem Haufen von Federvieh. Jedoch sollte es länger dauern, bis der Listenreiche wieder zurückkam. Das Brot unter den Arm geklemmt, stand er in einer langen Schlange, die sich vor dem Milchladen gebildet hatte. „Zweitausendvierhundertfünfzig Drachmen für einen Viertelliter, für das Geld bekomme ich in Makedonien eine halbe Kuh!“, empörte sich eine Stimme, die Odysseus durchaus bekannt war. „Tut mir außerordentlich leid, Pat, aber so sind die Preise“, erwiderte Orestes, während der andere ungeduldig mit den Fingerkuppen auf die Theke trommelte. „Auch, wenn ich mich auf den Kopf stelle, würde König Minos die Milchsteuer nicht verringern, also willst du die verdammte Kanne kaufen, oder nicht?“ Wütend schleuderte Patroklos Orestes das verlangte Geld hin. „Eine haushohe Überteuerung ist das. Dieser Wucher allein grenzt ja schon an Betrug!“ Dann war er weg. Odysseus war als Nächster dran und – sagen wir mal so – ihm behagte der Preis noch weniger als dem jungen Mann vor ihm. „Orestes, willst du mich in die Insolvenz treiben?“ Der listige König von Ithaka sah den jungen dunkelhaarigen Griechen herausfordernd an. „Ich sicherlich nicht, aber König Minos wäre wohl kaum besonders bestürzt darüber.“ – „Was, ich dachte immer, als Richter in der Unterwelt macht der nur so juristischen Kram, seit wann bitteschön sind denn auch die Finanzen unter seiner Kontrolle?“ Odysseus blickte finster um sich. Das waren wirklich heitere Zukunftsaussichten. „Nun, Aietes und er berauben und erpressen mit ihren Sturmtruppen nach Lust und Laune die Leute. Sie haben bereits eine Menge Bürokraten unter ihrer Gewalt. Das geht schon mindestens ein paar Monate so. Sonst noch Fragen? Falls nicht, würde ich gerne weiter meine Kundschaft bedienen. Wiedersehen!“ Nun war Odysseus ja nicht gerade auf den Kopf gefallen, sein Verstand war der beste im antiken Griechenland, und trotzdem starrte er nun völlig perplex und ratlos auf das Schild, das frische Mittelmeerfrüchte bewarb. Vielleicht, hatten die Zitronen und Granatäpfel, wenn er sie nur lange genug anschaute, eine Lösung für ihn parat. Ja, König Minos war schon ein Problem an sich. Und obwohl der einstige Richter und König der Insel Kreta brutal, korrupt und gierig war, stand er seinem eigenen Schwager dann doch noch um etwas nach.
Kopfschüttelnd ging der Listenreiche auf und ab. Sein Hund Argos war in der Zwischenzeit auf Telemachos gestoßen. Er war der Sohn von Penelope und Odysseus und der Einzige mit einem vergnügten Gesichtsausdruck – denn er war frisch verliebt. Verträumt sprang er über Kisten und zwischen Ständen hindurch, als ob es sich um eine hell erleuchtete Waldlichtung handelte und nicht um eine dicht gedrängte Menschenmenge. „Jetzt ist er völlig verrückt geworden“, stellte Patroklos fest. Bedrückt sah er seinem Freund nach, während dieser laut lachend über die Agora rannte. „Ich hab’s ja schon immer gesagt, die Liebe macht irre!“, zischte jemand hinter ihm. Pat schaute erstaunt zurück. Es war sein älterer Cousin und Lehrmeister, der große Achilles, der ihm in diesem Moment seine Hand um die Schulter legte. „Für Telemachos hoffe ich, dass es ein gutes Ende nimmt. Er hat es wirklich verdient.“ – „Jaaa, und ich verdiene ein Bruttogehalt, das es mir erlaubt, auch weiter Milch zu kaufen. Dieser Minos hat sie ja wohl nicht mehr alle!“, sagte Achill gedehnt und fügte spitz hinzu: „Für den Fall, dass er gedenkt, auch noch die Getreidepreise in die Höhe zu jagen, sehe ich mich gezwungen, uns zukünftig nur von Wasser und Algen zu ernähren!“ Langsam schritten sie über den Platz, auf dem weitere Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände feilgeboten wurden. „Nun, irgendwann wird er selbst auf den Produkten sitzen bleiben. Wenn es kein neues Angebot gibt, bleibt die Nachfrage aus. Damit würde Minos einfach seine eigenen Pläne durchkreuzen“, stellte Patroklos klug fest. „Ach, Pat, bis dahin sind wir alle elendig an einer Hungersnot verreckt.“ Darauf wusste auch sein Schüler keine Antwort.
Am Abend war Odysseus völlig fertig. Seinen Hund an der einen, den spärlichen Einkauf in der anderen Hand und seinen verknallten Sohn im Schlepptau, machte er sich auf den Weg nach Hause. „Vater, wie hast du Mutter eigentlich gesagt, dass du sie liebst?“, sagte Telemachos plötzlich. Der Angesprochene blieb abrupt stehen. „Wieso fragst du?“ – „Nur reines Interesse.“ Sein Vater warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wer ist denn die Glückliche?“ Doch die Antwort blieb aus.
Penelope umarmte zuerst Telemachos und dann ihren Ehemann. Odysseus sog sofort genüsslich den blumigen Duft ihres schwarzen Haars ein. Seine Frau schmiegte sich an ihn. Sie kicherte leise. „Du könntest dich wirklich wieder einmal rasieren.“ – „Ach so, könnte ich das?“ Er fuhr mit einer Hand durch ihre dichten Locken und legte seine Lippen an ihr Schlüsselbein. Mit einem Ruck zog er sie noch dichter an sich. „Was würde ich nur ohne dich tun, Penny?“, murmelte er leise. „Vielleicht selbst das Holz hacken und das Unkraut jäten.“ Er spürte ihre weichen Hände auf seinen Schultern ruhen. „Komm her!“ Aus seiner Stimme war eindeutiges Verlangen zu hören. Odysseus hob sie kurzerhand hoch, einen Arm unter ihren Kniekehlen, den anderen um ihren Rücken geschlungen. Zu zweit wirbelten sie durch das gesamte Vorhaus in Richtung der kleinen Küche. Dort angekommen, legte er Penelope über den Tisch, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leidenschaftlich. Der Geschmack ihrer Lippen ließ ihn jedes Mal Zeit und Raum vergessen. Ihr Mann positionierte sich zwischen ihren Schenkeln und war gerade im Begriff, ihr Kleid zu öffnen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Einmal, dann nochmals etwas fordernder. „Erwartest du heute noch Besuch?“, fragte Penelope etwas verwundert. „Ich nicht. Du etwa, Penny?“
Doch dieser späte Besuch, der es nicht für nötig gehalten hatte zu warten, ob sich vor dem dritten Klopfen jemand um ihn scherte, war einfach eingetreten. Jetzt stand er mitten in der Küche. „Oh, Verzeihung, störe ich bei irgendetwas Wichtigem?“, fragte Achilles, amüsiert über diese leicht peinliche Situation. „Bei Hermes und Pallas Athena, schon mal was von einer Hausordnung gehört? Was fällt dir ein, hier hereinzuschneien, Pelide?“ Der Listenreiche warf dem Unverwundbaren einen vernichtenden Blick zu, denn schließlich hatte der Sohn der Göttin Thetis ihn gerade um ein paar vergnügte Stunden mit seiner Frau gebracht. „Schämst du dich gar nicht?“ Noch während er die Frage stellte, merkte er, wie überflüssig sie war. Achilles hatte sich noch nie im Leben für irgendetwas geschämt. Der Blonde musterte kurz die leicht bekleidete Penelope, dann wandte er sich an ihren Ehemann. „Patroklos ist weg! Ist er bei euch gewesen?“ Achill wirkte zornig und etwas frustriert. „Nein, brauchst du ihn für etwas Besonders?“, flüsterte Penny. „Brauchen?“ Achill wiederholte dieses Wort, als kenne er dessen Bedeutung nicht. „Nein, ich nicht, aber es ist doch immer gut zu wissen, wo die Verwandtschaft sich rumtreibt, ob man sie braucht oder nicht.“ Diese Anmerkung erschien logisch. Odysseus gab resigniert die Hoffnung auf eine angenehme Nacht auf, denn ihm dämmerte, dass Achill ihn auffordern würde, nach Patroklos zu suchen. Die Sorgen konnte der Blondschopf nicht ganz unterdrücken, dafür lag ihm zu viel an dem Kleinen. Dieser Tatsache war sich auch Odysseus bewusst. Er küsste seine Frau zum Abschied und versprach, bald wieder zurück zu sein. Penelope ordnete ihr Gewand und begleitete ihren Mann noch zur Haustüre. Und schon war er mit Achilles auf der Suche nach dem jungen Burschen.
Der Pelide fegte mit seinem achtspännigen Kampfwagen durch die Landschaft. Odysseus war mit seinem Zweispänner weit zurückgeblieben. Missbilligend starrte Achill ihn an. „Sag mal, Listenreicher, was ist mit deinen Pferden los, die werden ja von jeder Schnecke überholt. Sind die etwa auch aus Holz?“ Ein Blick genügte, und Achilles stellte den Spott sofort wieder ein. „Komm, lass uns weitersuchen, bevor die Dunkelheit uns überrollt.“ Es folgte nur ein bestätigendes Kopfnicken der Gegenseite.
Doch es sollte sich als nahezu unmöglich erweisen, Pat zu finden. Der Mond zeichnete sich voll und rund am Horizont ab, als Achilles seine Wut, die aber auch nur Verzweiflung sein konnte, laut hinausschrie. Er brüllte mindestens acht Minuten lang so laut, dass ein Rabe tot vom Himmel fiel. Odysseus hielt sich vor Schreck die Ohren zu.
Ohnmächtig, die Suche weiterzuführen, blieb Achill einfach vor seinem Wagen sitzen. Vor Wut über sein Versagen traten ihm Tränen in die Augen. „Pat, mein Kleiner, wo bist du bloß?“ Schließlich fasste er einen bitterbösen Entschluss. „Ich schwöre, wer auch immer für dein Verschwinden verantwortlich ist, ich werde ihn finden und ihm dann seine Knochen bei lebendigem Leib einzeln herausreißen, bis er langsam daran krepiert!“ Bedrohlich flackerten Achills eisblaue Augen. „Niemand vergreift sich straflos an meinem kleinen Pat.“ Odysseus einfach ignorierend stand Achill auf, packte sein Schwert und verschwand wortlos im Dunkeln. Den armen Odysseus ließ er frierend alleine zurück. Es schien ihm zutiefst absurd, dem Abgott weiter zu folgen. Dieser war schon längst außer Reichweite. Odysseus kam es klüger vor, wieder nach Hause zu fahren. Er schirrte die Pferde an.
Penelope schlief bereits tief und fest in ihrem Bett. Odysseus ließ sich entkräftet neben sie fallen. Die Wärme seiner Frau beruhigte seine wirren Gedanken, die ziellos durch seinen Kopf geisterten. Ihre Hand legte sich auf seine Brust. Müde lächelte er, als er ein leises Stöhnen vernahm. Seine Finger glitten ihre schlanken Beine hinauf und zeichneten dabei jede Rundung und jede Kurve nach. Zufrieden entspannte sich sein Körper endlich. Doch Schlaf sollte keiner kommen in dieser Nacht.
Um Schlag drei Uhr nachts flog ein schwerer Gegenstand durch das Fenster und explodierte auf dem Boden des Zimmers. Sofort ging die gesamte Einrichtung in Flammen auf. Überall war Feuer. Begierig fraß es sich die Möbel und Textilien entlang. Das Erste, was Odysseus vernahm, waren die Schreie seiner Frau. „Es brennt! Es brennt, Odysseus! Unser Haus brennt ab!“ Er hatte nur einen Gedanken. – Raus hier. Sofort!
Penelope lief nur mit einem Schuh an den schmalen Füßen los. Telemachos und der Hund waren bereits aus dem Haus gestürmt, sobald sie die Explosion vernommen hatten. Der Sohn des Hauses war in der Küche eingeschlafen, als er sich vor Hunger über die alten eingelegten Rüben hergemacht hatte. Wildes Bellen und Jaulen hatten ihn rechtzeitig geweckt. Der Hund witterte sofort die Gefahr. So waren nur noch Odysseus und Penelope im Gebäude, das jeden Moment einzustürzen drohte. Die Treppe ins Untergeschoß war weggebrochen. Zu allem Überfluss fielen donnernd brennende Balken vom Dach hinab. Dadurch wurde Odysseus von seiner Frau getrennt, obgleich er ihre Hand fest umschlungen hatte. Sie stolperte. Ohne es zu wollen, ließ sie seine Hand los. Im nächsten Moment versperrten Flammen und Geröll den Weg. Odysseus konnte nur noch ihre erstickten Hilferufe hören. „Penne, Penne, bitte … sag doch was, Penelope! – Penelope antworte mir, bitte!“ Er merkte, wie der Rauch ihn im Hals kratzte. Hustend und keuchend brach er zusammen. Neben ihm loderte das Feuer heiß und vernichtend weiter. Er schloss verzweifelt die Augen. Das wäre wohl das Ende der Eheleute aus Ithaka gewesen, wenn nicht Achilles zurückgekommen wäre. Nachdem dieser festgestellt hatte, dass ihm niemand mehr folgte und ihn bei seiner Suche unterstützte, brach er sie schweren Herzens ab. Nur eine halbe Stunde trennte ihn von Odysseus‘ Haus. Jedoch legte er sich nicht schlafen, sondern ging ratlos und fluchend auf seinem Balkon auf und ab. Verwünschungen ausstoßend trabte er in seinen kleinen Garten mit den netten Bäumen und schönen Hecken. Da zog die hellgelbe, grelle Feuersbrunst die Aufmerksamkeit des Abgottes auf sich. Es tat schon fast weh, sie anzusehen, eine reine Qual für das menschliche Auge. Achilles, der schon immer mehr ein Mann der Tat als des Kopfes war, stürzte sich ohne weiter nachzudenken geradewegs in das brennende Haus, während Telemachos mit dem Hund verängstigt und verwirrt auf der Straße saß. Achilles packte zuerst die am Boden liegende Penelope und zog Odysseus dann mit sich. Noch nie war er selbst so froh darüber gewesen, unverwundbar zu sein. Pallas Athena sei Dank waren sie alle gerettet.
Kaum waren sie aus dem brennenden Haus entkommen, brach Penelope zusammen. Bewusstlos lag sie auf dem Weg. Odysseus übergab sich hustend neben ihr. Als er aufsah, hätte er lieber nicht gesehen, was da vor ihm saß. Ein fetter und hässlicher Drache hockte vor ihm. Odysseus kniete zwischen Schutt und Asche, und über ihm thronten zwei finstere wie bedrohliche Gestalten. Ein heiseres Lachen ertönte. Es klang, als würden Nägel über eine Säge kratzen. „Der große Odysseus, sieh an, sieh an! Der schlauste aller Griechen. Ich möchte sehr hoffen, dass dir unsere kleine Inszenierung hier zugesagt hat.“ Eine Schwertklinge legte sich unter sein Kinn und zwang so seinen Blick nach oben. Vor ihm stand ein Mann, groß gewachsen und mit eingefallenen Augen. Sein schwarzes Haar wurde von einem prächtig verzierten Helm verdeckt. Der Federbusch wie auch sein Umhang waren tiefschwarz. Ein wenig glich er mit diesem Aussehen einem riesigen bösartigen Raubvogel. Geringschätzig musterte er den König von Ithaka, als wäre dieser etwas sehr Ekelhaftes. Achilles zog seinerseits sofort sein Schwert, sowie er bemerkte, dass seine Freunde in Schwierigkeiten steckten. „Na, na, das willst du nicht wirklich. Ich wünsche keine faulen Tricks von euch Bauerngesindel!“
Wütend sah Achill, dass die beiden Fremden sich den jungen Telemachos gekrallt hatten. „Die Waffen weg, oder ich schlitze dem Jungchen hier langsam die Kehle auf!“ Um dem Gesagten noch Nachdruck zu verleihen, schnitt sich ein Messer langsam in die Halsbeuge des Jünglings. „Wartet, was wollt ihr von mir?“ Odysseus hatte trotz seines Entsetzens seine Sprache wiedergefunden. „Ich war ein Narr, jemals eine hohe Meinung über deinen Verstand zu haben, Bastard. Ich will mein Geld, und du wirst es mir bringen, ob du möchtest oder nicht!“ Nun schaltete sich Achilles wieder ein. „Das ist lächerlich. Wir lassen uns doch nicht einfach erpressen!“ Aber weder der Fremde noch die Leute aus Ithaka schienen ihn zu hören. Es war, als ob er gegen eine Wand redete, obgleich er nur drei Meter entfernt stand. „Aber ich habe überhaupt kein Geld!“, rief Odysseus verzweifelt aus. „Spar dir deine dreckigen Lügen und zahle gefälligst!“ Der Mann holte aus und schlug ihm mit dem Heft des Schwertes ins Gesicht. Der Listenreiche spürte zuerst das Blut spritzen, dann hörte er, wie sein Nasenrücken brach. Es war kein besonders schönes Geräusch. „Bis Freitag gebe ich dir Zeit, ansonsten würde es mich durchaus freuen, der Beisetzung deines Sohnes und deiner schönen Frau beizuwohnen.“ Daraufhin drehte sich der Mann um und schwang sich elegant auf den Rücken des Lindwurms. „Und um zu gewährleisten, dass ihr keine Regeln brecht, hast du wohl auch nichts dagegen, wenn ich Telemachos hier umquartiere. Abgesehen davon hat ein Tapetenwechsel noch nie jemandem geschadet. Man sieht sich!“ Damit flog das Ungeheuer auf mächtigen Schwingen mit den Dreien davon. „Wartet, König … Aietes!“, zischte Odysseus aus, dessen Stimme unwillkürlich in ein Decrescendo übergegangen war. Penelope klammerte sich schmerzhaft in die Schulter ihres Gatten. „Was hast du getan? Was hast du nur getan?“ Tränen rannen ihre schönen Wangen hinunter. Weinend lehnte sie sich an die Brust von Odysseus. Dieser saß immer noch, wie vom Blitz getroffen, gänzlich erstarrt am Boden. „Sag doch was, bitte! Wieso sagst du nichts?“, schrie sie ihren Ehemann nun förmlich an. Sie trommelte mit den Fäusten gegen sein Brustbein. Danach schlug sie ihre Hände über den Kopf, und Krämpfe durchzuckten ihren Körper.
Achilles hatte unterdessen aufgehört, derbe Flüche gegen alles und jeden auszustoßen. Denn bald musste er sich eingestehen, dass das zu rein gar nichts führte.
Odysseus hatte sich unterdessen die Ohren zugehalten und versucht, einen klaren und rationalen Gedanken zu fassen. Dann kam er zu dem niederschmetternden Schluss, dass sie zahlen mussten. Nachdem er dem anderen seine Lösung präsentiert hatte, verfiel der Abgott in einen seiner berühmten cholerischen Wutanfälle. „Tut, was ihr nicht lassen könnt, wenn ihr euch gerne erpressen lasst, bitte!“ – „Nicht jeder ist unverwundbar, Pelide!“ Der Angesprochene überhörte diesen unterschwelligen Vorwurf. „Jeder, wie’s ihm beliebt, ich suche weiter nach Pat, und wehe dem, der mich aufzuhalten versucht!“ Mit hoch erhobenem Kopf stolzierte der Blonde von dannen. Odysseus wischte sich mit dem Handrücken das Blut ab und blickte ihm lange nach.
Nun wollt ihr Leser sicher wissen, was mit Patroklos geschehen ist. Nach dem Zwischenfall auf der Agora war der Bursche mit Achilles nach Hause gegangen. Am selben Abend noch gerieten die beiden in einen großen Streit. Der Abgott, der seinem geliebten Schützling sonst jeden Wunsch von seinen wunderschönen großen Augen ablas, blieb dieses Mal unerwartet kalt und verschlossen. Ein Wort gab das andere. Patroklos blieb stur. In dieser Hinsicht kam er ganz nach seinem Lehrmeister. Wütend und enttäuscht schrie der Jüngere ihn an. „Nie sagst du, was los ist! Nie darf ich dich bei deinen geheimen Missionen begleiten! Nie scherst du dich darum, wie es mir wohl geht!“ Achill blickte lange in diese grünblauen Iriden, welche, seiner Meinung nach, die Krönung der Schöpfung darstellten. Es fiel ihm sehr schwer, dem Flehen nicht nachzugeben. Pat hatte er bisher noch nie etwas abschlagen können. Doch er blieb hart. Der göttliche Auftrag seiner Mutter Thetis erforderte äußerste Geheimhaltung und Diskretion. Folglich kein Wort zu niemanden, auch nicht zu Patroklos. Obwohl es ihm beinahe das Herz zerriss, ihn so voller Gram und Missgunst zu sehen, sagte er nichts. Irgendwann, so dachte der Pelide, würde Pat das vielleicht verstehen. Irgendwann, wenn er reifer, erfahrener und vernünftiger war. Dieser Gedanke des Achilles erschien vielleicht etwas absurd, da er auch nicht gerade zu den Denkern zählte, doch die Vergangenheit hatte ihn einige Lektionen gelehrt. Eine davon war, auf Patroklos zu achten und ihm nicht alles durchgehen zu lassen.
Er nahm seine gesamte Autorität und Dominanz zusammen, um seinem übermütigen Schüler einmal so richtig über dessen vorlautes Mundwerk zu fahren. „Nein! Dabei bleibt es. Wage es nicht, mit mir zu diskutieren, denn ich bleibe dabei. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen und kann mich nicht in jede Kleinigkeit, über die auf der Agora getuschelt wird, einmischen!“ – „Aber, das ist ein richtiger Skandal!“ Patroklos konnte nun seinen Eifer und den Tatendrang nicht mehr verhehlen. Sein Lehrmeister sollte ruhig sehen, welche krummen Geschäfte er, nämlich Pat ganz allein, da aufgedeckt hatte. In seiner Vorstellung hatte Achilles ihm für seine kluge Vorgehensweise gratuliert und ihn vor Stolz gelobt. Doch das Gegenteil war eingetreten. Achilles war weder von dem Wirbel um die Milchsteuer im Allgemeinen noch von seinem Schüler im Besonderen erbaut. Leider verringerte seine herrische Attitüde die Missverständnisse beider Parteien nicht im Geringsten. „Ich glaube es nicht, dass du einfach dabei zusiehst, wie unsere Landsleute von König Minos um ihr Geld gebracht werden! Wieso, verdammt noch mal, tust du nichts dagegen?“ Der Streit war mittlerweile bis auf die Straße zu hören. „Pat, das kann ich dir nicht sagen, du würdest es noch nicht verstehen!“ – „Ach, für dumm willst du mich jetzt auch noch verkaufen? Schön, ich helfe ihnen wenigstens, damit sie nicht im Schuldenturm landen oder verhungern!“ – „Patroklos, bitte, jetzt sei doch nicht gleich so melodramatisch!“ Achilles seufzte entnervt. Dieses gesamte Gespräch strapazierte seine ohnehin nicht große Geduld besonders. „Ich kann ihnen nicht helfen, selbst wenn ich wollte!“ – „Ich fasse es nicht, dass du uns einfach so verrätst …“ Weiter kam er nicht. Achill hatte ihn mit einem festen Schlag zum Schweigen gebracht. „Niemand nennt mich Verräter, hörst du? – Niemand!“ Ein zweites Mal bekam der Jüngere die Hand des Älteren zu spüren. Entsetzte grünblaue Augen sahen zu dem Abgott auf, der sogleich bereute, Gewalt angewandt zu haben. „Verfluchte Verdammnis! Pat, es tut mir leid. Das wollte ich nicht, hörst du, es tut mir leid!“ Doch der Schüler stürzte verängstigt und verstört aus dem Haus. Achilles und dessen Wutanfall im Gedächtnis, rannte er orientierungslos einfach geradeaus. „Ich muss vollkommen von Sinnen sein! Ich habe Pat geschlagen. Ich habe ihm ins Gesicht geschlagen, weil er nicht hören wollte.“ Achilles fuhr sich, entsetzt über sich selbst, durch das blonde Haar. Dann rannte er ihm hinterher. Doch Patroklos war längst verschwunden. „Was habe ich bloß getan? Pat, bitte komm zurück!“
Der Wind nahm bedrohlich zu. Ihm folgte ein regelrechtes Unwetter. Das wäre schon in einem Wagen nicht ganz ungefährlich gewesen. Eine halbe Stunde später vermutlich hatte er Sturmstärke erreicht. Von den Dächern fielen Ziegel herab, und sämtliche kleinen Bäume wurden entwurzelt. Zusätzlich schüttete es Wassermassen vom Himmel, die Achilles annehmen ließen, das Mittelmeer sei ausgepumpt worden, um es anschließend wieder über seinem Kopf auszuleeren. Die Sintflut war dafür sozusagen nur ein Hilfsausdruck.
Zur selben Zeit war dem armen Odysseus das Haus in die Luft geflogen. Achilles war natürlich sofort zur Stelle, denn wenn es einmal im Süden ein derartiges Unwetter gab, wurde man bei einem nichtlöschbaren Häuserbrand hellhörig. Das Geheimnis dahinter war eigentlich ganz einfach, um nicht plump zu sagen: Jemand hatte den Leuten aus Ithaka einen Molli durchs Schlafzimmer gejagt. Unter diesen Umständen konnte man von Glück reden, dass das Feuer sich nicht weiter ausgebreitet hatte. Nun stellt sich die Frage, wie es bei einem Wolkenbruch geschehen kann, dass Odysseus‘ Haus in Flammen steht. König Aietes, der Schwager von Minos, war einer der besten Zauberer seiner Zeit, doch bei diesem Anschlag griff er zu subtileren Mitteln. Das Ganze diente vielmehr einer Machtdemonstration, denn vor nicht allzu langer Zeit hatte er einige Erdöl- und Teerspeicher an sich gerissen. Mit diesen Zutaten panschten Minos und Aietes den Molli zusammen. Der Brandcocktail enthielt eine Flamme, die nicht erlischt und besonders heiß ist, das sogenannte Griechische Feuer. Dieses ließ sich nur mit Sand löschen, da es durch die eingesetzten Komponenten in der Lage war, auch auf Wasser zu brennen. Folglich war dies auch eine beliebte Waffe bei Seeschlachten.
König Aietes war ein glühender Verehrer des Kriegsgottes Ares und des Krieges im Allgemeinen. Er tötete langsam, kalt und effektiv. Jedoch ließ sich sein zunehmender Sadismus auch auf seinen Schwager zurückführen. Entschlossen planten die beiden eine wahre Schreckensherrschaft. Diese begann erst harmlos mit kleinen Überteuerungen, Verbindlichkeiten und Erpressungen. Aietes war ein begnadeter Mörder und hatte sich einen derart schlechten Ruf verschafft, dass sogar Achilles ihn abfällig als Schuft bezeichnete, obgleich er selbst den Drachenfürsten an Grausamkeit noch übertraf. Doch es gab einen entscheidenden Unterschied: Minos und Aietes quälten und töteten aus purer Lust und schlichtem Zweck. Ihnen machte es einen Heidenspaß, ihre Mitmenschen leiden zu sehen. Dabei war es ihnen schrecklich gleichgültig, ob es sich hierbei um Adelige oder Bettler handelte. Achilles hasste nur die Obrigkeit, die sich an Schwächeren vergriff. Die Liste der Menschen, die er definitiv nicht ausstehen konnte, beinhaltete Großkönige, den Klerus, Gerichtshöfe und nicht zuletzt die Trojaner. Abgesehen davon zeigte sich Achill seinen Mitbürgern gegenüber durchaus freundlich und zuvorkommend. Wenn es ans Töten ging, war er geschickt und gnadenlos. Doch Vergnügen hatte der Sohn der Göttin dabei noch nie wirklich verspürt. Anderenfalls hatte er eine grimmige Freude daran, seine Macht und Überlegenheit zu demonstrieren, indem er den erlösenden Todesstoß gelegentlich hinauszögerte. Doch in Gefechten hielt er es meist lieber schnell und schmerzlos. Dem Abgott ging es hauptsächlich um den vermeintlichen Ruhm und die Ehre. Aietes sah das genau umgekehrt. Je mehr Gräueltaten auf dessen Konto eintrafen, desto besser. Diese verdankte er nicht zuletzt seinen Sturmtruppen und seiner Armee von Drachen. Ungeheuer, Dämonen und Ausgeburten aller erdenklichen Arten züchtete er heimlich heran. Die Lindwürmer waren jedoch seine absoluten Lieblinge. Bald streiften die Feinde brandschatzend und mordend durch das Land, bis in den Süden. Dort wohnten Achilles und Odysseus ruhig und friedlich in einem Dreihundertseelendorf. Der ursprüngliche Plan des Drachenfürsten sah einen direkten Angriff von oben vor, sprich Luftkrieg, jedoch waren ihm bei einem kleinen Scharmützel mit den Trojanern seine besten Schöpfungen abgeschossen worden. Als Rache überfiel er einen Transport mit Griechischem Feuer und nutzte diese Waffen auch gleich, um seinen eigenen Landsleuten in den Rücken zu fallen. Dies alles war nur geschehen, da Achilles und Odysseus sich als Einzige vehement gegen die Erhöhung der Milchsteuer gesträubt hatten und sich nicht, wie der Rest, einfach erpressen ließen.
Ein paar sehr widerspenstige Gestalten, nicht nur für Aietes, waren die Trojaner. Im Gegensatz zu ihren einstigen griechischen Gegnern hatten sie sich in eine solide Befestigung zurückgezogen, die sie mit Zähnen und Klauen verteidigten. Angeführt von Hektor und Aeneas waren sie zu einer gewaltigen und schlagfertigen Truppe herangereift und nun wahre Meister im See- und Guerillakrieg. Diese Tatsache schlug sich in dem Umstand nieder, dass sie das Griechische Feuer tatkräftig für ihre Flammenwerfer und die neuartigen Katapulte nutzten. Spätestens seit dieser zog es selbst Aietes vor, sich nicht mit ihnen anzulegen. Zumindest noch nicht, aber er war sich sicher, dass der Tag kommen würde, diese dreckige Rotte zu vernichten. Persönlich hatte er es allerdings auf die Reichtümer und Einflussgebiete der Trojaner abgesehen. Diese hatten es tatsächlich irgendwie bewerkstelligt, ihr eigenes Handelsnetz zu errichten, weswegen er sie auch nicht auf steuerlicher Ebene unter Druck setzen konnte. Hektor war klug genug, ihn einfach zu ignorieren, und das ärgerte den Drachenfürsten fast noch mehr. Inständig hoffte er, dem Konkurrenten den Kopf abzuschlagen, ihn auf einen Pfahl zu spießen, um ihn dort verrotten zu lassen, während der Rest dieser widerwärtigen Familiensippe dabei zusehen durfte. Aietes war von Habgier und Machtbesessenheit nur so zerfressen. Er stahl alles, was nicht niet- und nagelfest war. Kaum unterschied er bei solchen Aktionen zwischen den Dingen, die verzichtbar waren, und jenen, die unbedingt erforderlich waren. Innerhalb von fünf Monaten hatte er also fast alle Bewohner des antiken Mittelmeerraumes unter Kontrolle. Nur die Königshäuser des Odysseus und des Achill machten Schwierigkeiten. Sie begehrten so sehr auf, bis er sich zum Äußersten genötigt sah. Um die Trojaner würde er, Aietes, sich hinterher kümmern, um es voll und ganz zu genießen, sie alle auszulöschen.
Zwar hasste Achill diese ebenso sehr wie den Drachenfürsten, doch da sie ihm keinen ernsthaften Anlass gaben und zahlenmäßig überlegen waren, brach kein Kampf zwischen ihnen aus.
Patroklos stolperte einstweilen immer noch verwirrt und wütend durch das Unterholz. Schließlich kam er auf eine gottverlassene Ebene. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Hier jedenfalls war er noch nie gewesen. Der Morgen dämmerte, und er erkannte verbrannte Erde unter sich. Pat wusste nicht, dass keine zehn Minuten zuvor Minos und Aietes mit dem entführten Sohn des Odysseus über diesen einen Landstrich gefegt waren. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, den größtmöglichen Schaden zu verursachen. Am Fluss brannten sie zuerst die netten kleinen Landungsstege nieder und anschließend den uralten Wald dahinter. Patroklos war völlig ahnungslos, in welcher Gefahr er schwebte. Denn selbst wenn er mit Achilles zum ersten Mal so wirklich gestritten hatte, würde der Pelide alles für seinen geliebten Pat tun. Das war allen im ehemaligen Subtropenraum bewusst. Mit Patroklos als Gefangenem würde Achilles kooperieren. Das wusste auch Hektor, der jedoch vernünftig genug war, nicht den Ärger der Griechen auf sich zu ziehen. Er übersah geflissentlich auch das Dorf der einstigen Rivalen. Erstaunlicherweise funktionierte das sogar. Da es kaum Zusammentreffen beider Parteien gab, vergaß Achill sie auch beinahe. Hauptsächlich da zu jener Zeit König Minos die gesamte Antipathie des Peliden beanspruchte, von Aietes gar nicht zu sprechen. In ihnen personifizierte sich geradezu das geborene Abbild seines Hasses.
Hektor, der einen kommunikativen Führungsstil pflegte und weitgehend friedliebender als die meisten seiner Zeitgenossen war, hatte es mithilfe von allerlei Gefälligkeiten und Krediten geschafft, die Sabiner und Römer an seine Großfamilie zu binden. Mit dieser ausgeklügelten Patronage schaffte er es, eine Einheit zu bilden. Im Gegensatz zu Achill, der oft im Affekt handelte, dachte er auch langfristig. Er war klug, stark und schön, sodass man ihn mit gutem Willen auch für einen Abgott halten konnte. Doch er war sterblich wie die Leute aus Ithaka oder die meisten seiner eigenen Verwandten. Achilles hasste ihn abgrundtief. Nicht nur, dass der Pelide starrsinnig und stur auf einer wahrlich antiken Feindschaft beharrte, nein, seit Neuestem war, nach Rachegelüsten, auch die Missgunst hinzugekommen. Die Trojaner waren wehrtüchtig, streitbar und wesentlich einflussreicher. Sie hielten fest zusammen, was drauf zurückzuführen war, dass sie alle miteinander einer Familie angehörten. Achilles hatte nur Patroklos und Odysseus mit seiner Frau und seinem Sohn. Der Blonde war zwar nicht unbedingt neidisch, doch er konnte es wenig leiden, wenn andere einen Erfolg verbuchen konnten, vor allem, wenn dieser ihnen, nach seinem Ermessen, gar nicht zustand. Die ehemaligen Gegner waren eine funktionierende gesellschaftliche Macht, und Vertrauen und Loyalität wurde bei ihnen großgeschrieben. Bei den Griechen konnte es hingegen öfters passieren, dass sie sich gegenseitig einfach abschlachteten, da sie einfach ständig irgendwen brauchten, den man als potenziellen Sündenbock betrachten konnte. Jemanden, der für das Unglück dieser ganzen verdorbenen Welt verantwortlich gemacht werden konnte. Besonders jetzt, wo die Ressourcen knapp wurden, provozierten sie sich schon fast im Viervierteltakt. Achilles und Minos setzten alles daran, den anderen als Volksverräter zu enttarnen, sodass die ganze Affäre entsprechend immer höhere Wellen schlug. Lediglich mit Odysseus hatte sich der Blonde noch nie ernsthaft gestritten, da er wusste, dass der Listenreiche ihm auf argumentativer Ebene weit überlegen war.
Zwar gab es auch bei den Trojanern den einen oder anderen Streit, doch Hektor gelang es für gewöhnlich, alles innerhalb der Familie zu regeln. Abgesehen von den Lappalien und Ausrutschern seines jüngeren Bruders. Paris war und blieb schlechthin ein hoffnungsloser Fall. Wenn er sich nicht gerade ausgiebig dem weiblichen Geschlecht widmete, verprasste er seinen Erbteil im großen Stil. Er liebte Aufmerksamkeit, Extravaganzen und natürlich Frauen. Er war ein unverbesserlicher Frauenheld, der zu allem Unglück auch noch gut aussah. Der einzige Grund, wieso Hektor und Aeneas ihm noch nicht den Geldhahn zugedreht hatten, war, dass sie durchaus wussten, dass Paris sich auch auf anderen Wegen ihrer finanziellen Reserven bemächtigen konnte. Er war ein Meisterdieb und ein sehr talentierter Einbrecher. Trotz alledem war er ziemlich feige und weichherzig. Er kämpfte nicht oft, und von dem löblichen Verantwortungsbewusstsein seines älteren Bruders hatte er leider nichts geerbt. Vor Verpflichtungen drückte er sich überhaupt sehr häufig, weshalb alle Trojaner es schließlich bleiben ließen, Paris auch noch weiter zu vertrauen. Die eigene Familie hatte ihn zur Persona non grata erklärt und versuchte irgendwie, die Probleme, die dieser lostrat, zu tilgen. Eine äußerst nerventötende Aufgabe, um die sie wirklich niemand beneidete. Fast schon täglich gab es eine neue kleine Katastrophe, hinter der Paris steckte. Wie genau Hektor es schaffte, ein Heer anzuführen, seinen Pflichten als Thronfolger nachzukommen, sich um seine Gattin zu kümmern und nebenbei seinen Bruder noch unter Kontrolle zu behalten, blieb ein Rätsel für sich. Folglich brauchte er dafür wohl mehr als achtundvierzig Stunden Zeit.
Am heutigen Tag zog er zusammen mit Aeneas und den Zwillingen, Romulus und Remus, auf einem Schiff den Fluss hinauf. Fassungslos betrachteten sie eine Weile die zerstörten Anleger.
„Verfluchte Verdammnis!“, zischte Aeneas. „Und wo sollen wir jetzt mit unserer Galeere anlegen? Hier ist jedenfalls kein Platz mehr.“ Hektor strich sich gedankenverloren durch die dunkelbraunen Locken. „Ich fresse einen Schwertfisch, wenn das hier nicht König Aietes veranstaltet hat“, schloss sich Romulus der Konversation an. Da unterbrach sie ein gellender Schrei, der pure Not verhieß. Die Trojaner konnten auf der flachen Ebene eine kleine Gestalt erkennen, die gerade um ihr Leben lief. Über ihr schwebte drohend ein riesiger Drache. „Die hetzen den armen Gesellen hier ja fast zu Tode!“, stellte Remus mit Grauen in der Stimme fest. Er war schon immer eher ein Pazifist gewesen und verabscheute dieses Szenario daher besonders. „Wir müssen etwas tun. Wir können ja schlecht einfach dabei zusehen, Hektor“, meinte er mitfühlend. Bei lebendigem Leib zu verbrennen war wirklich kein angenehmer Abgang, entschied ihr Anführer bei sich und sprang über die Reling ins knietiefe Wasser, noch bevor der andere fertiggesprochen hatte. Unter ihnen schäumte die Gischt wild auf. Aietes und Minos hatten in ihrer rasenden Mordlust nicht erkannt, dass es sich bei dem Verfolgten um Achills Schützling handelte, ansonsten hätten sie sich kaum zu so einer absurden Hetzjagd hinreißen lassen. Patroklos war die ganze Nacht über durch den Wald geirrt, beinahe im Moor versunken und hatte sich schließlich in einer kleinen Felsmulde verkrochen und gewartet, bis das Unwetter vorüber war. Kurzum machte er nicht gerade den gepflegtesten Eindruck. Nach den harten, erbarmungslosen Schlägen seines Lehrmeisters blutete seine Nase noch immer, und das Haar hing wirr in sein Gesicht. So verwahrlost war er im Morgengrauen auf die Ebene getreten, wo ihn der gefräßige Lindwurm sofort erspäht hatte. Dementsprechend unangenehm war auch der Empfang. Doch bevor er Patroklos auffressen würde, wollte er mit dieser doch kläglichen Beute spielen. Als sich der Drache schließlich auf den jungen Griechen stürzen wollte, rissen starke Arme ihn zu Boden. Pfeile und Speere flogen durch die Luft. „Achilles!“, dachte Patroklos erleichtert. Offenbar war sein Cousin gekommen, um ihn zu retten. Ansonsten fiel ihm niemand ein, der todesmutig vor einen feuerspeienden Drachen sprang, um ihn zu schützen. Umso größer war die Überraschung danach. Es war nicht Achilles. Aug in Aug stand ihm da der Anführer der Trojaner gegenüber. Dieser hatte seinen Schild vor sich und Pat geworfen und presste den Kleineren fest an sich, als der Feuersturm über sie hinwegfegte. „Patroklos?“ Seine schönen braunen Augen musterten ihn ernst und finster. Pat konnte sich vor Schreck nicht rühren. Eine weitere Welle aus Flammen schlug über ihnen zusammen. Die Hitze war fast unerträglich. Doch der eiserne Schild hielt.
Hektor lockerte seinen Griff um die Arme des Griechen ein wenig. Dann war es vorbei. Aeneas, Romulus und Remus waren ihnen zu Hilfe geeilt. In dem ganzen Tumult war Telemachos, obgleich er gefesselt war, vom Rücken des Drachen gesprungen. Der Lindwurm hätte womöglich jeden auf dem gesamten Landstrich geröstet, wären die Trojaner nicht so gut bewaffnet gewesen. Feige machten sich die Feinde aus dem Staub, nachdem ihrer Geisel die Flucht gelungen war. Denn auch das Flugwesen war am Flügel verletzt worden, und so blies Aietes den Angriff kurzerhand ab und flüchtete. Kaum waren sie verschwunden, lief Patroklos zu dem Griechen. Dieser machte einen wahrhaft erbärmlichen Eindruck. Als er dessen Fesseln löste, zuckte dieser von Schmerz erfüllt zurück. „Was ist denn? Ich bin’s doch, Pat, dein bester Freund!“ Im Innern fragte er sich, was diese Scheusale ihm wohl angetan hatten. Doch darauf gab es keine Antwort. Hektor musterte die zwei sichtlich gepeinigten Jünglinge. Große Güte, sollte man in diesem Alter nicht hinter Mädchen her sein und feiern, anstatt in aller Frühe von Monstern durch die Gegend gescheucht zu werden? „Das allerdings würde mich auch interessieren“, meinte er. „Das geht euch Trojaner einen Dreck an!“, zischte Patroklos, worauf ihn Romulus wütend anfuhr. „Dir ist wohl entfallen, dass wir euch gerade eure jämmerliche Existenz gerettet haben, undankbares und freches Volk!“ Aber Hektor brachte ihn mit einer Bewegung zum Schweigen. „Wie ich sehe, hat der gute Achilles nicht gerade viel Zeit investiert, wo es nötig gewesen wäre. Doch wie sollte jemand Anstand lehren, wenn er selbst kaum einen solchen besitzt. Aber zum Beweis, dass wenigstens wir die Grundlagen einer respektablen Erziehung genossen haben, will ich dir, Patroklos, die Unfreundlichkeit erst mal nachsehen. Vor allem da ihr beide sowieso kaum in der Lage seid, Bedingungen oder Forderungen zu stellen. Aber vergreife dich noch einmal im Ton, und ich schwöre, dass es dir schnell leidtun wird.“ Seine Worte waren voller gefährlicher Höflichkeit. Gelassen packte er sich die zwei Burschen und zerrte sie auf die Beine, um sie grob vor sich her zu stoßen. „Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder ihr kommt freiwillig als Gäste mit uns und gebt mir alle relevanten Informationen, oder ihr wehrt euch, was nebenbei bemerkt ziemlich töricht und nutzlos wäre, und wir nehmen euch als Gefangene mit. Glaube mir, wir haben einen geeigneten Ort für Plagegeister. Es ist deine Entscheidung, Patroklos, aber sei dir sicher, dass dein kleiner Freund hier es kaum überstehen wird, falls du mich zwingst, Gewalt anzuwenden.“ Die Drohung war durchaus hörbar. Hektor war nah an Pat herangetreten, die Finger unter das Kinn des Angesprochenen gelegt. Sein Blick war forschend und eindringlich. Da meldete sich Telemachos. „Wir nehmen eure Einladung gerne an.“ Er klang heiser und schwach. „Romulus! Remus! Helft den Besuchern, auf das Schiff zu kommen, und päppelt sie mir etwas auf!“ Der Anführer der Trojaner war ernsthaft geschockt, wie ausgehungert und abgemagert die beiden waren. „Sieben Höllen, die brechen mir ja bis zur Galeere noch zusammen, wenn sie nicht bald etwas zu essen bekommen.“ Vorsichtig, als transportierten sie Glas, trugen sie die Verletzten nun an Bord.
„Wir müssen weiter nach Patroklos suchen!“, beharrte Achilles. „Jaja, ich weiß, du machst dir große Sorgen um ihn, aber ohne Sinn und Verstand durch die halbe Unterwelt zu irren, wird uns nichts helfen“, beschwichtigte Odysseus ihn. Er selbst war inzwischen fast verrückt vor Kummer um seinen Filius. „Wir müssen systematisch und vor allem logisch an die Sache rangehen. Soweit wir wissen, hat Minos es nur auf unser Geld abgesehen, deshalb werden sie, jedenfalls bis zum Fälligkeitstag, meinem Telemachos nichts tun. Sie sind auf einem Drachen unterwegs, und so etwas hinterlässt Spuren. Die dürften sich nicht allzu schwer verfolgen lassen, und was Patroklos betrifft, so glaube ich, dass er halbwegs in Sicherheit ist. Aietes und Minos wissen nicht, dass er verschwunden ist, darum werden sie wohl kaum Energie vergeuden, um nach ihm zu suchen.“ Das leuchtete selbst Achill ein, dennoch war er noch nicht ganz überzeugt. Den beiden traute er inzwischen alles zu. Und abgesehen von ihnen liefen da draußen allerhand dubiose Gestalten herum, die seinem Schüler etwas tun könnten.
Odysseus hatte mit seiner ersten Einschätzung recht. Die Zerstörung, die die Feinde hinterlassen hatten, war nicht zu übersehen. Sie waren so markant, deutlich und offensichtlich, dass der König von Ithaka schon zwangsläufig mit einer Falle rechnete. Doch er hatte nicht mit deren Hochmut gerechnet. Nach der Geiselnahme waren Aietes und Minos in einen regelrechten Rausch aus Gewalt gefallen. Willkürlich brannten sie alles nieder, was ihnen an Vegetation und Architektur in die Quere kam. Es war einfach, sich an ihre Fersen zu heften. So trafen Achilles und Odysseus rechtzeitig ein, um Zeugen des Kampfes der Trojaner mit dem Drachen zu werden. Sie sahen, wie Hektor losgesprintet war, um Patroklos zu retten. Wie er seinen Schild zwischen sich, den Griechen und die Flammen warf und ihn so vor dem sicheren Tod bewahrte. Achill musste äußerst widerwillig zugeben, dass er dem Trojaner gegenüber, zumindest in diesem Augenblick, so etwas wie Dankbarkeit empfand.
Der Abgott war schließlich zu weit entfernt, um seinem Cousin zu Hilfe zu eilen. Doch diese seltene Verbundenheit verflog sogleich ein paar Sekunden später. Wütend sah er, wie Hektor grob seinen geliebten Pat packte und die Trojaner sich anschließend auf ihr Schiff zurückzogen. Odysseus hingegen war sehr erleichtert. Er entspannte sich, denn mit Hektor konnte er im übelsten Fall immer noch verhandeln. Gerade wollte er den Blonden über seine nächsten taktischen Schritte in Kenntnis setzen und ihm eine strategische Lösung unterbreiten, als er merkte, dass dieser verschwunden war. Wutentbrannt stürzte sich der Abgott auf die Trojaner, allseits bereit zum Angriff. Odysseus folgte ihm notgedrungen. Doch es sollte ganz anders kommen. Als der Pelide nur noch etwa dreißig Meter entfernt war, also nahe genug, um seinen Speer nach Hektors Kopf zu werfen, erbebte die Erde. Jetzt wird so mancher sagen, ein Erdbeben sei eine schreckliche Angelegenheit, doch es war schließlich etwas anderes, das alle Anwesenden zu Salzsäulen erstarren ließ. Aeneas schrie als Erster. Das blanke Entsetzen war in sein Gesicht gezeichnet. „Bei Pallas Athena, was ist das?“, sagte Hektor leise, und seine Augen weiteten sich vor Furcht. „Heiliger Phoebus Apollon, was für ein ekelhaftes und abgrundtief hässliches Biest!“, schnaubte Achilles. Vor ihnen türmte sich ein Wesen von der Größe eines Berges auf. Seine Haut war über und über mit schwarzen glänzenden Schuppen und struppigen Federn bedeckt. Ein wenig ähnelten sie dem Federkleid von Krähen. Die Augen strahlten ein intensives gelbes und ungesund wirkendes Licht aus. „Vater, hast du so was schon mal gesehen?“, fragte Telemachos, der sich geschwächt auf dessen Schulter stützte. „Das muss ich tatsächlich verneinen.“ – „Und was sollen wir gegen diese Bestie da tun?“ Langsam näherte sich das Wesen den Sterblichen. „Meist ist der erste Einfall der beste und am naheliegendsten“, meinte Odysseus zitternd. „Und der wäre?“, fragte Aeneas voller Panik. „Lauft!“, schrie der Listenreiche. Das ließ sich keiner von ihnen zweimal sagen. Sie stoben wie Schneeflocken auseinander. Der Bergdämon, denn nichts anders war dieses Wesen, stürzte vorwärts. Trotz der Größe war er unglaublich schnell und wendig, und so schlug er peitschend mit seinem Schwanz nach den Griechen und Trojanern. Er hatte es auf ein bestimmtes Ziel abgesehen. Seine auserwählte Beute war ausgerechnet Odysseus. Krallen schnellten vor. Sie packten den König von Ithaka und rissen ihn mit sich. „Vater!“ Telemachos wollte sogleich hinter ihm her, doch Achilles hielt ihn eisern fest. „Vater, Vater!“, schrie er dennoch wie am Spieß weiter. Messerscharfe Klauen bohrten sich in dessen Bein und Teile der Hüfte. Der Schmerz war betäubend. Dennoch versuchte er, mit einem kleinen Dolch den Fangarm abzuhacken. Doch dieser hielt ihn weiter fest umschlungen. Einmal, zweimal, dreimal stach er zu. Das Metall glitt kratzend an den Schuppen ab. Es war unmöglich, sie zu durchdringen. Fauchend wirbelte der Dämon den sich Windenden hoch, um ihn zu begutachten. Das grelle gelbe Licht lähmte Odysseus augenblicklich. Zufrieden öffnete das Biest sein Maul. Eine glitschige, mit Warzen, Beulen und Pusteln übersäte dicke Zunge schlängelte sich heraus. Sie leckte über den bewusstlosen Mann. Eklig riechender Speichel troff aus dem Maul. Die Zähne waren so scharf wie die eines Hais und klappten gierig auf und zu. Langsam senkte sich der Tentakel in Richtung des gefräßigen Schlundes. „Lass ihn los!“ Achilles schleuderte seinen Speer, den er vor nicht einmal zwei Minuten mit Freuden durch Hektors Hals jagen wollte, nun auf das Untier. Aber auch diese Waffe prallte zurück. Achill war fassungslos. Noch nie hatte er ein Ziel verfehlt. Telemachos riss sich endgültig von ihm los. Doch bevor er zu seinem Vater laufen konnte, wurde er gestoppt.
Auch das Ungeheuer hielt, o Wunder, ein. Eine magische Barriere hatte sich um das gesamte Schlachtfeld errichtet. Es war eine kalte, helle und reine Kraft, die den Dämon abhielt, Odysseus den Kopf abzubeißen. Der Abgott wirbelte erstaunt herum. Nur um zu sehen, wer das Ungeheuer so plötzlich in Schach hielt. Und da stand Hektor voller Entschlossenheit über ihm am Deck der Galeere. Seine sonst so schönen und freundlichen braunen Augen hatten einen unnatürlichen Glanz angenommen. Sie erschienen beinahe schwarz und leer. „Ich würde vorschlagen, du tust, was er sagt, Dämon! Lass ihn los! Sofort!“ Hellblaue und weiße Flammen schlugen aus dem Grund hervor. Der Trojaner hielt in der einen Hand den wuchtigen Schild und in der anderen ein Amulett. Darin befand sich ein Stein von milchiger Farbe. Wie ein Bruchteil des Mondes erschien er den Menschen. Der Dämon wandte sich nun direkt an Hektor. Ein greller gelber Blitz flackerte in den Augen des Biestes.
Die Barriere zerbrach wie ein Weinglas. Der mit Stacheln übersäte Schwanz schlug gegen das Eisen und zerfetzte es mit einem einzigen Schlag. Hektor stand bestürzt und völlig entgeistert da. Die seltsame Aura war verschwunden, sein Blick wieder gewöhnlich und er wirkte etwas überfordert. Entsetzt sah er auf den zertrümmerten Schild hinab. Dann ging alles ganz schnell, sodass niemand reagieren konnte. Der Dämon fuhr, gleich einer riesigen bösartigen Wespe, einen Stachel aus. Mit den restlichen Fangarmen fixierte er Hektor und trieb die scharfe Spitze durch dessen Schulter. Warm lief das Blut über seine Haut. Die Verletzung tat entsetzlich weh, doch der Trojaner griff abermals nach dem Amulett. Er hatte es bei dem Angriff fallen gelassen, sodass es nun funkensprühend vor ihm lag. Wieder wurde der Dämon durch diese Macht gehindert. Und wieder versuchte er die Taktik mit dem Licht. Da kam ihm Achilles zuvor. Er war sehr geschickt. Den Speer immer noch mit der Rechten gepackt, spurtete er los. Im Vorbeirennen riss er bei seinem Kampfwagen den Seitenspiegel ab. „Mal sehen, was dieses Scheusal dazu sagt, wenn wir das Licht gegen es selbst wenden.“ Gesagt, getan. Hektor kniete, sich vor Schmerzen krümmend, am Boden. Die Finger um die Verletzung geklammert, hielt er dennoch tapfer die Barriere aufrecht. Das magische Artefakt war offenbar immer noch mächtig genug, das Untier aufzuhalten. Da riss Achill den Spiegel hoch. Dieser war zwar nicht größer als ein herkömmliches Taschenbuch, die Wirkung jedoch war erstaunlich. Hätte der Dämon seinen Blick weit gestreut und das vernichtende gelbe Licht über all seine Opfer ausgebreitet, wäre es heute mit allen Beteiligten aus und vorbei gewesen. Doch er hatte den Fehler begangen, sich ganz auf das Amulett zu konzentrieren. Die geballte Energie, die ausgereicht hätte, die gesamte Bevölkerung von Florenz und Mantua zu vernichten, wurde zurückgeworfen. Der Bergdämon fiel durch seine eigene Waffe. Kaum erlosch dessen Lebenslicht, holte der Abgott mit seinem Wurfgeschoss aus und stieß es in den weit aufgerissenen Schlund. Er war dazu hoch in die Luft gesprungen und sah nun zufrieden, wie das Biest explodierte. Doch die Freude kam zu früh, die Körperteile flogen dampfend in alle Himmelsrichtungen davon. Eine widerliche Brühe, in der Klauen, Zähne, Mageninhalt und Organe schwammen, verteilte sich bis hin zum Waldrand. Die Menschen waren durchnässt vom schwarzen Blut des Dämons. Telemachos lief jedoch sofort zu seinem Vater. Selbiger war wieder bei Bewusstsein und betastete sein verletztes Bein. Mit der Hilfe seines Sohnes war es ihm gelungen, sich zu erheben. Dieser drehte sich zu den Zwillingen. „Bitte gebt mir noch mal etwas von diesem Stärkungstrank von vorhin.“ Jenen hatte Romulus ihnen verabreicht, damit die jungen Männer nicht gleich kollabierten. Auch dieses Mal war er sehr großzügig mit dem Getränk. „Wunden heilt es zwar nicht direkt, aber unnütz ist es auch nicht.“ Alle tranken ein paar Schlucke aus der Feldflache. Währenddessen beugte sich Achill mit zunehmendem Interesse über einige Teile des Bergdämons. Er stellte fest, dass manche davon furchtbare Ähnlichkeit mit den Lindwürmern aufwiesen. „Der Dämon ist doch ein Geschenk des Unternehmens Minos & Co., wenn mich nicht alles täuscht?“, fragte er, immer noch die zerteilten Gliedmaßen betrachtend. „Du meinst, Aietes und sein Schwager stecken hinter dieser Niederträchtigkeit?“, fragte Pat. „Das würde jedenfalls zu seinen sonstigen Aufmerksamkeiten passen“, meinte Odysseus, mit Streifen seines Mantels seinen Oberschenkel verbindend. Achilles schnaubte. „Das entbehrt ja jeglichen zivilisierten Anstands! Sieben Höllen, man hetzt doch heutzutage keine mutierten Drachen mehr auf die Bürger.“ Da nickten alle zustimmend. So etwas war wirklich gegen jedwede Regeln. Nach Familienmord, Leichenschändung und Geldwäsche das Verwerflichste, das man tun konnte. In der Unterwelt gab es nicht viele Gesetze, doch die wenigen waren heilig. Auch wenn Griechen wie Trojaner sich nicht immer ganz daranhielten, gab es doch so etwas wie Grenzen. Irgendwo war selbst in einem Krieg schließlich Schluss. Abgesehen davon machte es dann doch einen erheblichen Unterschied, ob man sich auf der Agora prügelte oder mit einer Vernichtungswaffe das Land verheerte. Das war eine Angelegenheit von Gleichstellung, ganz klar. Auf eine Seeblockade konterte man meist mit einer Zollverstärkung. Somit waren alle möglichen Konflikte und Intrigen bisher relativ überschaubar geblieben.
„Was war das überhaupt für ein seltsames gelbes Licht, das alles Lebendige sofort lähmt?“, fragte Odysseus. Darauf hatte niemand eine Antwort parat. Plausibel schienen viele Vermutungen, doch es hatte bisher noch keinen gegeben, der wusste, wie Aietes seine Drachen eigentlich erschuf. Möglich war folglich alles. Denn niemand konnte etwas Genaues über diesen gefürchteten Meisterzauberer sagen. Es gab schlichtweg nur Gerüchte, die immer abstruser wurden, je länger man sich mit ihnen auseinandersetzte.
Ende von Kapitel eins
„Wir haben nichts gemeinsam.“ Achills Worte spukten noch lange in seinem Kopf herum.
„Bist du wirklich dieser Ansicht?“ Fragend sah Hektor den Blonden an. „Sicherlich, Prinzlein!“ Ehe er sich’s versah, hatte der Abgott ihn niedergerungen und drückte ihn nun mit seinem Körpergewicht zu Boden, obgleich er sich wild sträubte. „Weißt du, manchmal hätte ich nicht übel Lust, dir hiermit dein hübsches Gesicht zu zerschneiden.“ Als Bestätigung hob er ein Messer in die Höhe. Langsam strich er mit der Klinge über das weiche Fleisch unter sich. Mit gelassener Grausamkeit drückte er am Hals kurz zu, wo vom Herzen her die große Ader fließt. Doch er war sehr darauf bedacht, ihn nicht zu töten. Jedenfalls noch nicht. Zuerst wollte er seinen Spaß mit dem anderen haben. Ihn quälen und still verzweifeln lassen, ja, so würde er es handhaben. Hektor sah ihn nur starr aus seinen braunen Augen an. Es war keinerlei Furcht darin zu lesen. Woraufhin Achilles sich wieder zurückzog. Den Trojaner einfach umzubringen wäre viel zu einfach gewesen. Nein, für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass dies hier die letzte Nacht sein würde, wollte er mit ihm spielen. Wie ein Raubtier mit der Beute. Nun ging es nur noch um Macht. Das Begehren nach Ruhm und Ehre war für den Blonden zweitrangig geworden. Ihn wurmte es, dass der andere so erbitterten Widerstand leistete. Aber wenn Hektor es unbedingt so wollte, würde er ihn eben mit Gewalt brechen, bevor er ihm die Kehle aufschlitzte. Die Willensstärke betreffend waren sie sich ausnahmsweise ebenbürtig. Achilles war arrogant und stur, Hektor war stolz und zielstrebig. Doch Achill war göttlicher Abstammung und Hektor nur ein Sterblicher.
Das Feuer loderte erneut auf. Schwach, sehr schwach war es geworden. Der Wind fegte eiskalt über sie hinweg und zerschellte an der Felswand. Der Abgott drehte das Messer zwischen seinen Fingern. Sein Gefährte neben ihm zitterte leicht, ob aufgrund der Temperaturen oder des Fiebers, konnte er nicht sagen. „Ich will dir das einmalige Angebot machen, einen Kampf ohne herkömmliche Waffen zu führen. Ein Gefecht allein um Stärke und Macht.“ Den Peliden reizte der Gedanke durchaus, seinen Feind später flehend und bettelnd zu seinen Füßen zu sehen. Er genoss es einfach zu sehr, wenn andere ihm unterlegen waren. „Wir beide brauchen schließlich nichts, um uns gegenseitig in Stücke zu reißen, nicht wahr, Hektor? Ich verspreche dir auch einen schnellen und schmerzlosen Abgang.“ – „Und für den Fall, dass ich dein, sehr bescheidenes’ Angebot ausschlage?“ Achilles lächelte spöttisch. „Oh, falls du nicht darauf eingehst, schneide ich dir hiermit die Waden auf, ziehe Seile hindurch und hänge dich an die Felswand. Und glaube mir, ich werde warten, bis du elendig verreckt bist.“ Was für eine wunderbare Auswahl. „Für mich kommt so oder so das gleiche Resultat zustande. Also wozu, Pelide?“ – „Nein, nein, ich verspreche gar nichts. Es geht mir allein um das Spiel. Aber wenn du möchtest, gebe ich dir eine kleine Chance zu gewinnen.“ Er lächelte finster. „Gut“, nickte der Brünette. „Nun, dann lass uns beginnen.“ Er wirkte sichtlich zufrieden. Insgeheim wusste er, wie sein Gegenüber sich entscheiden würde. Starke Hände packten das Gesicht des Verletzten. Ihre Blicke trafen sich und beide wünschten, den jeweils anderen allein damit zu erdolchen. „Wir haben nichts gemeinsam. Nicht das Geringste ließe sich an uns vergleichen. Wer auch immer aus diesem Kampf als Sieger hervorgeht, wird den Verlierer nach seinem Belieben töten. Es kann schließlich nur einer von uns weiterleben. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir einfach dazu geboren wurden, Feinde zu sein“, sagte Achilles leise und mehr zu sich selbst. Recht viel länger würde er es mit dem anderen jedenfalls nicht mehr aushalten. „Eine Frage, bevor wir anfangen, uns mit Argumenten und Ansichten zu zerfleischen: Was ist dein werter Einsatz?“ Achilles überlegte. „Wenn du hier gewinnst, Trojaner, darfst du überall herumerzählen, dass du mich besiegt hast.“ Überraschung zeichnete sich im Gesicht des anderen Mannes ab. „Obgleich das sonst nicht meine Art ist, will ich fair mit dir sein, und schließlich ist ein leichter Sieg ziemlich langweilig. Die Frist läuft bis zu den ersten Sonnenstrahlen.“ Hektor nickte abermals und stählte seinen Geist. „Sehr schön“, flüsterte Achill. Dann beugte er sich vor und ergriff Hektors Handgelenke. Den Griff intensivierend leckte er fordernd über dessen Kieferknochen, danach den Hals und den Nacken hinunter, wo er sich verbiss. Zuerst leicht, dann immer fester und gewalttätiger, bis er einen kaum merklichen Ton des Schmerzes vernahm. Das Feuer erleuchtete ihre Gesichter, die nur eine Handbreit voneinander entfernt lagen. „Diese Runde geht an mich“, schnurrte Achill kalt und amüsiert, worauf Hektor ihm aus reinster Verachtung ins Gesicht spuckte. Mit fahrigen Bewegungen wischte der Pelide sich den Speichel von der Wange. „Sieh an, sieh an, dein Kampfgeist ist zurück. Dachte schon, er ist erstickt, nachdem du so apathisch hier sitzt.“ Er liebte Herausforderungen und Wettkämpfe einfach zu sehr. Mit der rechten Hand holte er aus, doch dann zögerte er. „Nein, schlagen werde ich ihn nicht, sonst könnte es passieren, dass ich mich selbst dabei vergesse. Lieber eine weitere Frage, ja, die tut’s auch.“ Kurz war wieder Stille. Dann verlangte der Abgott, dass der Sterbliche ihn ansah. „Du hast schöne Augen, so warm und braun wie Schokolade“, zischte er mit gefährlichem Unterton. Hektor wusste, dass er etwas auf diese falsche Freundlichkeit erwidern musste, wenn er nicht schon nach der ersten Runde ausscheiden wollte. „Und deine sind so kalt wie Eis und Schnee“, konterte er emotionslos. Achilles umfasste die Wunde des anderen. Seine groben Finger pressten sich rücksichtslos in die Verletzung. Hektor fieberte wieder etwas stärker, als ihn der Schmerz durchzuckte. Jede Bewegung würde ihm jetzt wohl noch mehr Qualen bereiten. „Das war nur eine Feststellung und noch keine meiner Fragen.“ Ein raues Lachen ertönte. „Verwundert mich, Grieche, dass du jemals unbefangen bist.“ Achilles kostete es nur ein mildes, überhebliches Grinsen. „Du wärest erstaunt.“ Dann stand er auf und ging zu einem übrig gebliebenen Bündel, dem er zwei Stücke Brot entnahm. Der Blonde kehrte zurück und bot dem Gegenspieler Essen und Trinken an. Dann biss er selbst in das Roggenbrot, das er mit einem Schluck Wein hinunterspülte. Der jedoch schmeckte verdächtig nach Abbeizmittel. Wie hatte das alles nur so eskalieren können?