Читать книгу Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren - Johanna Sprondel - Страница 4
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ОглавлениеIn so gut wie allen Branchen drohen wir in Deutschland in Fragen der Digitalisierung bzw. der digitalen Transformation den Anschluss zu verlieren oder haben ihn bereits verloren. Im Ausland finden sich genügend Beispiele dafür, wie man es besser machen könnte, und wer nach Deutschland zieht, den überkommt eine gewisse Ratlosigkeit: Behörden und Unternehmen schicken einem Briefe, damit man in ein Formular händisch seine IBAN einträgt und das Formular dann als Brief zurücksendet. Man trifft auf Schulen, die mit einem so anfälligen Online-Lehre-Videokonferenz-Tool ausgestattet worden sind, dass die Schulung für eben dieses Tool nicht im Tool selbst stattfinden kann. Dafür ist es zu instabil. Das Land der Dichter und Denker, das sich selbst gerne für seinen Erfindungsreichtum lobt, scheint es geschafft zu haben, sich selbst systematisch auszubremsen. Statt nun pragmatisch zu versuchen, möglichst schnell möglichst viel Boden wieder gutzumachen, verrennt man sich aber- und abermals in Visionen und Großprojekten.
Und das, was dringend erledigt werden sollte, wird nicht angegangen. Ein Beispiel: In der Anlage zum bis heute unter Verschluss liegenden Protokoll der 21. Kabinettssitzung aus dem Jahr 1985 heißt es:
Die Deutsche Bundespost wird ihr Fernmeldenetz insbesondere für Individualkommunikation im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zügig ausbauen. Sobald die technischen Voraussetzungen vorliegen, wird sie aufgrund eines langfristigen Investitions- und Finanzierungsplanes den zügigen Aufbau eines integrierten Breitbandglasfaserfernmeldenetzes vornehmen.1
Fast vier Jahrzehnte später attestiert der Digital Riser Report 2021 Deutschland, dass es in Bezug auf digitale Wettbewerbsfähigkeit in Europa nur noch von Albanien unterboten wird.
Und das, obwohl in der Zwischenzeit viel passiert ist: Vieles kann den Deutschen vorgeworfen werden, nicht jedoch, dass sie die Digitalisierung verschlafen hätten. Denn dafür war man viel zu beschäftigt, etwa mit dem Onlinezugangsgesetz (OZG), das dafür sorgen sollte, dass Deutschland die »bürgerfreundlichste Verwaltung Europas« bekommt. Man hatte außerdem ein Ministerium umbenannt, um die digitale Infrastruktur fest auf höchster politischer Ebene zu verankern. Das Grundgesetz wurde für einen milliardenschweren Digitalpakt geändert. Kaum eine Organisation, die nicht irgendeine Art von digitalem Innovationslabor betreibt, einen Chief Digital Officer (CDO) eingestellt hat und eine eigene Digitalstrategie entwickeln ließ. Ein Digitalgipfel reiht sich an den nächsten, Institute werden gegründet, Think-Tanks eingerichtet, Joint Ventures und jede Menge »Leuchtturm-Projekte« aus der Taufe gehoben, die als Ausweis von Modernität und Progressivität gelten sollen. Was wurde und wird nicht alles angestoßen, um unserem Land bei der Digitalisierung jene Vormachtstellung zu erkämpfen, die man sich selbst so gern attestieren würde. Doch bleiben die erhofften Effekte weitgehend aus.
Seitdem der Mensch durch Technik Informationen schneller bewegen kann als sich selbst, werden im Zusammenhang mit dem Phänomen dieser »Informationsrevolution« fortwährend soziale Beziehungen sowie kulturelle, ökonomische und auch wissenschaftliche Herangehensweisen neu verhandelt. Aus dieser engen Wechselbeziehung zwischen der technischen Entwicklung auf der einen und ihrer sozialen Anwendungen auf der anderen Seite ergeben sich immer neue Herausforderungen, in denen Gesellschaften oder gesellschaftliche Teilsysteme sich irgendwie zurechtfinden müssen.
Dabei schreibt Technik nicht vor, wohin genau sich entwickelt werden muss. Zugleich kann keine Gesellschaft in Anbetracht der neuen Möglichkeiten einfach an etablierten Praktiken festhalten. Ständig muss neu ausgehandelt werden, was Technik leisten kann, was die Gesellschaft braucht und was die Bedingungen sind, unter denen man zusammenfindet. Im Kontext der »digitalen Revolution« hat dieser Prozess der Aushandlung, so scheint es, nur in Teilen stattgefunden, mit dem Ergebnis, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.
Um sich den Gründen für diese Differenz anzunähern, ist es sinnvoll, sich die Verzahnung von Lebenswelt – ursprünglich konzeptualisiert als Welt natürlicher, vorwissenschaftlicher Alltäglichkeit – und technischer Errungenschaften genauer anzuschauen. Denn weder ein isolierter Blick auf die Technik, noch ein solcher auf die Gesellschaft reichen uns, um das Gesamtgefüge zu verstehen. Schnell sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, was der Wandel im Zuge der Digitalisierung bzw. der digitalen Transformation für das bedeutet, was unser Leben ausmacht.
Was ist passiert? Missverstehen wir diese Frage? Denn irgendwo muss etwas fatal schiefgegangen sein, wenn so viel Einsatz zu so wenig Ertrag führt. Da so viel unternommen wurde, müssen wir nicht darüber diskutieren, was unterlassen wurde, um das Ziel einer möglichst weitreichenden Digitalisierung umzusetzen. Es muss vielmehr hinterfragt werden, was wir angestellt haben, dass notwendige Prozesse der Digitalisierung verlangsamt, in die Irre geführt oder regelrecht blockiert wurden.
Damit sprechen wir ein Grundproblem an: Eine der wichtigsten Aufgaben für Wissenschaft und Technik besteht im 21. Jahrhundert darin, es zu ermöglichen, zweckrational zu handeln. Die Ergebnisse solchen zweckrationalen Handelns beeinflussen wiederum die Strukturierung der Lebenswelt – also von dem, was uns in allen Lebensbereichen umgibt. Denn die Lebenswelt verhält sich nicht neutral zur Digitalisierung. Wir leben vielmehr in einem komplexen, soziotechnischen System, das durch starke Wechselbeziehungen geprägt ist. Technik ordnet einen bestimmten gesellschaftlichen Wandel nicht an – auch wenn Start-ups das gerne glauben (machen) wollen. Doch kann die Gesellschaft auch nicht einfach eine neue Technik wie ein Modeaccessoire bestellen, in der Erwartung, dass damit ihre ureigensten Probleme erledigt seien – auch wenn Politiker das gerne glauben (machen) wollen. Denn jeder, der eine neue Form von Technik in einer Gruppe Menschen oder sogar einer ganzen Gesellschaft zu etablieren versucht, bekommt nur selten genau die Ergebnisse, die er vorher erwartet hat. Mit Sicherheit aber werden sich unerwartete Begleiterscheinungen einstellen.
Führen wir uns die aktuelle Gemengelage vor Augen, so macht weniger die Digitalisierung als solche, sondern vielmehr die digitale Transformation das Problem aus, an dem wir so eindrucksvoll scheitern.
Denn die Digitalisierung funktioniert letztlich recht gut. Doch was hilft es mir, wenn ich zwar mit einer Behörde auf digitalem Wege einen Termin vereinbaren kann, alle Formulare aber trotzdem ausdrucken, per Hand ausfüllen und dann wieder einscannen und per Mail versenden, sie zur Post bringen oder gar persönlich einreichen muss? Ist Schülern mit einem »Smartboard« wirklich gedient, von dem sie dann das digitale Tafelbild doch wieder abschreiben müssen? Und was habe ich als Kunde davon, dass meine Anfragen von einem Mitarbeiter in seinem Büro aus einer Hängematte heraus statt von einem Schreibtisch aus bearbeitet werden?
Was ist Digitalisierung also genau? Und inwiefern unterscheidet sie sich von digitaler Transformation? Digitalisierung ist zunächst einmal die Übersetzung von Analogem in Digitales – nicht mehr, aber auch nicht weniger: Texte werden eingescannt und damit von einem Blatt Papier in ein PDF übertragen, von flächig ausgewalztem und mit Tinte oder Toner bedrucktem Faserstoff in Reihen aus Nullen und Einsen überführt. Musik wird in die akustisch relevanten Teile zerlegt und z. B. in einer MP3-Datei wieder zusammengefügt. Landkarten werden eingelesen und in ein Gerät mit GPS-Empfänger übertragen.
Bei der Digitalisierung verändert sich die Form, in der etwas dargereicht wird, dank der Verwendung eines anderen »Aufschreibesystems«, wie der Medientheoretiker Friedrich Kittler es nannte. Es verändert sich jedoch nicht das Ding als solches: Eine eingescannte Steuererklärung wird durch ein neues Aufschreibesystem nicht zu einem Shakespeare-Drama, die Aufnahme der Blockflötengruppe Dellstedt nicht zu einem Charterfolg, ebenso wenig wie die Landschaft, durch die ich fahre aus dem Grunde schöner und die Straße besser wird, weil mir eine Landkarte nun digital vorliegt. Digitalisierung macht einiges für einige einfacher zugänglich, sie verändert aber die Sache als solche nicht zu etwas Anderem oder macht sie zu etwas Besserem oder gar »Bürgerfreundlichem«.
Das kann Digitalisierung auch gar nicht leisten. Denn das Ziel der Digitalisierung besteht darin, etwas zu übersetzen. Das, was übersetzt wird, wird im ursprünglichen Zustand bereits als ›ideal‹ verstanden, ist jedoch in seiner bisherigen Form der Darreichung ›unpraktisch‹ und wird deshalb digitalisiert: »This Must Be The Place« von den Talking Heads ist bereits ein guter Song, als auf Vinyl gepresste Datenmenge aber nicht sehr handlich und unterwegs auf unseren Smartphones nicht verfügbar. Dank der Digitalisierung tragen wir Musik nun sozusagen schränkeweise in der Hosentasche herum. Und wir brauchen auch keinen Beifahrer mehr, der mit der patentierten Falttechnik von gedruckten Landkarten kämpft.
Transformiert indes wurde hier, wenn überhaupt, nur unsere Handhabung der Daten. Die digitale Transformation meint jedoch mehr – und sie setzt bei einem sehr konkreten Sachverhalt oder Problem an, bei dessen Bewältigung eine digitale Technologie helfen kann. Gelungene Transformation ist also kein Selbstzweck nach dem Motto: »Ist jetzt alles so schön bunt hier!«, sondern das Ergebnis eines ›Aushandlungsprozesses‹, durch den digitale Technologien im Rahmen ihrer Möglichkeiten genutzt oder erweitert werden, um konkrete Bedürfnisse zu erfüllen. Als ›Aushandlungsprozess‹ oder ›Aushandlung‹ verstehen wir einen kommunikativen, iterativen und letzthin integrativen Prozess. Die Natur dieser Prozesse kennen alle, die einmal das Weihnachtsessen für eine Großfamilie geplant haben. Digitale Technologien wären in diesem Bild der Supermarkt, der die Rohstoffe zur Verfügung stellt. Die Bedingungen des Essens, Gerichte, Menüfolge, Tischdekoration, Sitzordnung und viele andere Aspekte müssen indes in Absprache mit den Teilnehmenden unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse, Geschmäcker und Vorlieben ausgehandelt werden.
Transformationsprozesse sind Prozesse, in denen der Gegenstand selbst verändert wird. Dieser Prozess ist dann gescheitert, wenn trotz seiner Überführung in ein digitales Format der Gegenstand noch immer an seine alten Grenzen stößt. Transformation meint also nicht die möglichst exakte Übertragung von einem analogen Produkt in ein digitales. Es geht vielmehr darum, ein neues Produkt zu schaffen oder ein vorhandenes Produkt auf ein neues Level seiner Existenz zu heben.
Nehmen wir die erwähnte Landkarte, um das zu illustrieren. Inzwischen können wir in Echtzeit erkennen, ob wir in Kürze in einen Stau geraten werden, wo im näheren Umkreis das Benzin am günstigsten ist oder welche Autobahnraststätte am wenigsten schlecht bewertet wurde. Alle diese Funktionen konnten erst auf Basis einer digitalen Karte entwickelt werden. Es sind zugleich Funktionen, die wir heute nicht mehr missen wollen. Die auf Papier gedruckte Landkarte wurde also nicht nur digitalisiert, sondern durchlief den Prozess einer digitalen Transformation und wurde zu etwas grundlegend anderem.
Das abstrakte Konzept »digitale Transformation« hat es geschafft, zu einer Art gesellschaftlichem Sehnsuchtsort unserer Zeit zu werden. Eine gelungene Transformation wird oft sogar mit der eigenen Zukunftsfähigkeit gleichgesetzt: Unternehmen, Behörden oder auch nur Abläufe, die transformiert wurden, haben in der Wahrnehmung vieler den Schritt ins Morgen geschafft.
Unglücklicherweise wird Digitalisierung oft mit Transformation verwechselt. Und schlimmer noch: Die Sehnsucht nach digitaler Transformation tritt gerne zusammen mit einem grundsätzlichen Unverständnis darüber auf, wie solch ein Transformationsprozess sinnvoll ablaufen sollte.
Das ist nachvollziehbar und liegt an der Sache selbst. Denn während die Digitalisierung ein eindeutiges digitales Abbild präsentiert, bei dem jede und jeder sich von seiner Qualität dadurch überzeugen kann, dass man das Ergebnis direkt mit dem Original vergleicht, charakterisiert die digitale Transformation eine grundsätzliche Ergebnisoffenheit. Nirgends wird genau vorgegeben, wie eine Veränderung, die auf einem digitalen Unterbau basiert, für eine spezifische Funktion genau aussehen sollte. Denn dieses Ergebnis kann wie gesagt nur das Resultat eines anspruchsvollen Aushandlungsprozesses sein.
Und genau diese Ergebnisoffenheit und die mit ihr einhergehende Unklarheit darüber, wohin eine digitale Transformation konkret führen soll, ist Quelle für eine ganze Reihe von Missverständnissen. Ständig begegnet man Investitionen in irgendwelche digitalen Artefakte, Projekte, die »irgendwas mit KI« entwickeln wollen, Innovationslaboren in angesagten Berliner Hinterhöfen oder Versuchen der Politik, das eigene Unverständnis dadurch zu kaschieren, dass man große Beratungshäuser engagiert. Andernorts wird die digitale Transformation zur »Chefsache« erklärt und ein CDO (Chief Digital Officer) angestellt, um »agile« Start-up-Nähe in die alteingefahrene Organisation zu tragen, indem man ein iPad verwendet und die Vokabeln der Zukunft abspult. In Kombination mit ungünstigen Rahmenbedingungen hat sich ein toxisches Gemisch ergeben, das die Transformation lähmt. Und aus dieser Lage scheinen wir uns, trotz großer Mühe, kaum befreien zu können.
Drei Punkte sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig:
1 Jeder, der ein soziotechnisches System verändern will, braucht Expertise sowohl darüber, was genau das technische Problem ist, als auch darüber, wie genau der soziale Kontext aussieht, in dem eben dieses Problem angegangen werden soll. Oft werden solche Projekte jedoch von Menschen geleitet, denen eben diese Kompetenzkombination fehlt, die dafür aber beispielsweise das richtige Parteibuch besitzen. Wem es an Erfahrung und Expertise fehlt, dem wird schnell ein X für ein U vorgemacht und dem bleibt im Zweifel keine andere Wahl, als für viel Geld das X zu kaufen – also jene Lösung, die technisch gesehen unzureichend ist oder am Kern des Problems vorbeigeht. Am Markt zeigt sich dann schnell, dass es sich gar nicht lohnt, das funktionierende U anzubieten, weil ja doch immer wieder das günstigere X gekauft wird. Und so verödet der Markt: Es wird mit Zitronen gehandelt (es entsteht ein »market for lemons«).
2 Gerne begegnet man in diesem Kontext der typisch deutschen Tendenz, Prozesse und Entscheidungen durch Ausschüsse und Komitees zu steuern. Was in der Theorie eine faire Beteiligung aller Interessengruppen sicherstellen soll, nachvollziehbar wirkt und ›demokratisch‹ klingt, entpuppt sich in der Praxis nicht selten als Spießrutenlauf durch Partikularinteressen, die mit dem eigentlichen Problem gar nichts zu tun haben. Der damit verbundene Aufwand geht mit gravierenden Opportunitätskosten einher, also jenen Kosten, die dadurch entstehen, dass man keine Zeit dafür findet, sich um die eigentliche Fragestellung zu kümmern. Für den zeitaufwendigen Aushandlungsprozess, der für eine gelungene digitale Transformation nötig ist, mangelt es dem Ausschuss und dem Komitee am Ende an Zeit.
3 Im öffentlichen Sektor herrschen die strengen Vorgaben des Vergaberechts: Der Versuch, ein einfaches branchentypisches Softwaretool zu bestellen, unterscheidet sich im Prozess wenig von der Bestellung eines Satelliten. Eine pragmatische Lösung wird selten gefunden, denn diese würde verlangen, mutig und jenseits der ausgetretenen Pfade Entscheidungen zu treffen und Eigeninitiative aufzubringen. Das Ganze verzögert sich nicht selten so lange, bis die zum Zeitpunkt der Auftragserteilung drängende Problemlage nicht mehr aktuell ist. Kommt es doch zu einem Abschluss, werden oft die kostengünstigsten Lösungen gewählt, auch wenn diese Defizite im Bereich der Kompatibilität mit bereits bestehenden Strukturen oder Mängel in der späteren Wartung und Betreuung aufweisen, sollte das Produkt tatsächlich einmal eingesetzt werden. Aber die Lösung scheint in dem Moment dem Kriterium der »Wirtschaftlichkeit« zu genügen – eben weil (siehe 1.) die nötige Expertise fehlt.
Bürgerinnen und Bürger bekommen dank dieser Faktoren allzu oft Transformationsversuche präsentiert, die erschreckend blass bleiben oder direkt wieder zurückgenommen werden. Es verwundert kaum, dass das, was man als »digitales Mindset« bzw. spezifisch digitale Denkweise bezeichnen könnte, leidet. Solchen Schaden richtete etwa die E-Akte (eine vollelektronische Akte, die die Verwaltung deutlich erleichtern sollte) an, mit der man jetzt dank eines international nicht kompatiblen Systems zu einer abgeschotteten Insel im statt zu einer des Digitalen geworden ist.
Der Hauptfehler bei allen diesen Beispielen liegt darin, nicht in ausreichender Form in einen Aushandlungsprozess eingetreten zu sein, der zu einer nachhaltigen und für alle befriedigenden Lösung hätte führen können. Denn da letztlich die Qualität der Aushandlung über den Erfolg eines Transformationsprozesses entscheidet, ist die kritische Auseinandersetzung mit der Ausgangssituation notwendige Bedingung für ein Gelingen des Prozesses.
Oft ist ein weiteres Phänomen zu beobachten: Vermeintliche Lösungen werden durch eine Uminterpretation der Verhältnisse herbeigeführt, bei der zwar das Ergebnis zufriedenstellend wirkt, das eigentliche Problem jedoch nach wie vor ungelöst im Raum steht. Ein Paradebeispiel für solche Lösungen bietet der Film Asterix erobert Rom. Asterix steht vor der anscheinend unlösbaren Aufgabe, in einem Verwaltungstempel einen Passierschein zu bekommen. Seine Lösung ist einfach: Er erfindet einen anderen Passierschein, um in dem »Haus, das Verrückte macht«, an den Passierschein A 38 zu kommen, nämlich den »Passierschein A 39, wie er im neuen Rundschreiben B 65 festgelegt ist«, der allein es von nun an ermöglicht, an den eigentlichen Passierschein A 38 zu gelangen. Das Problem, an den Passierschein zu kommen, wurde im Einzelfall gelöst, indem das System mit seinen eigenen Waffen geschlagen wurde. Gebracht hat dies aber herzlich wenig: Die »agile« Lösung der Gallier adressiert nur ein akutes Problem und nicht das systemische Versagen, das dem Problem zu Grunde liegt. Der Nächste wird wieder an der Aufgabe scheitern. Eine nachhaltige Lösung wurde nicht gefunden.
Digitale Transformation besteht also weder in der bloßen Übersetzung von Analogem in Digitales, noch handelt es sich um einen Prozess, dessen Gelingen man erzwingen kann, indem man irgendwelche Werkzeuge oder Wissen einkauft oder listige, kurzfristige Lösungen für Einzelprobleme entwickelt. Digitale Transformation ist vielmehr ein zusammenhängender, kollaborativer Prozess, der ein Verständnis aller Beteiligten von den relevanten Mechanismen, Praktiken, Problemen und Chancen verlangt. Am wichtigsten bleibt es jedoch, zu überlegen, was konkret verändert und erreicht werden soll – morgen, im nächsten Schritt, und nach Möglichkeit in zehn Jahren. Denn (digitale) Transformation ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht dann abrupt endet, wenn man einen neuen Dienst eingeführt hat.
Schaut man sich solche Prozesse in der Praxis näher an, begegnen einem regelmäßig bestimmte Merkwürdigkeiten, und zwar sowohl in Bezug auf das Verständnis als auch die Durchführung der Transformationsprozesse.
Die folgenden acht kurzen Essays beleuchten diese Missverständnisse im Feld der digitalen Transformation (die Überschrift eines jeden Abschnittes nennt das Missverständnis). Zuerst ist dies der Wunsch, den digitalen Wandel durch eine möglichst weitreichende Vision anzustoßen, die gerne so entkoppelt von der Gegenwart entworfen wird, dass sie die tatsächliche Arbeit am Transformationsprozess demotiviert. Dann ist da eine ausgeprägte Technikhörigkeit, die davon ausgeht, dass moderne Technologien so potent sind, dass ihre bloße Anwesenheit bereits zu Lösungen führt.
Ein weiteres Missverständnis ist die wahrgenommene Beschleunigung in allen Lebensbereichen, die übertragen auf Transformationsprozesse zu ›Schnellschüssen‹ führt. Daran schließt sich die Annahme an, dass die eigene Innovationsfähigkeit allein dadurch ausgereizt werden kann, dass man sich immer intensiver vernetzt und dass nur das, was neu ist, auch gut ist.
Zwei weitere Missverständnisse bestehen in falschen Annahmen, dass nämlich ein Mehr an Transparenz automatisch dafür sorgt, dass Informationen sichtbarer werden und man um jeden Preis von Start-ups lernen muss. »Disruption«, eines der Mode- bzw. Buzzwörter der Digitalisierung, wird gerne falsch verstanden und dann überall gefürchtet. Apropos falsch: Nicht minder missverstanden ist die »neue Fehlerkultur«, die im Rahmen digitaler Transformationsprozesse immer wieder gefordert wird.
Wie blockieren diese Missverständnisse gut gemeinte Transformationsprozesse? Wie sorgen sie dafür, dass die Prozesse zu völlig anderen Ergebnissen führen als eigentlich beabsichtigt war? Ziel ist es, über diese kurzen Betrachtungen der inhaltlichen Entkernung der Begriffe »Digitalisierung« und »digitale Transformation« entgegenzuwirken und sie wieder mit Leben zu füllen.