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Teil I Heidis Lehr- und Wanderjahre Zum Alm-Öhi hinauf
ОглавлениеVom freundlich gelegenen alten Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne Fluren bis zum Fuße der Höhen, die groß und ernst auf das Tal hemiederschauen. Wo der Fußweg zu steigen anfängt, beginnt bald das Weideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutem.
Auf diesem schmalen Bergpfad stieg an einem hellen, sonnigen Junimorgen ein junges Mädchen mit einem Kind an der Hand hinan. Das Kind war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Es mochte kaum fünf Jahre zählen und hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwollentuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte.
Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und „Dörfli“ heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von der Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends halt, sondern erwiderte alle ihm zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne stillzustehen.
„Bist du müde, Heidi?“, fragte das junge Mädchen, „Nein, es ist mir heiß“, entgegnete das Kind.
„Wir sind jetzt gleich oben; du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte nehmen“, ermunterte die Gefährtin.
Jetzt gesellte sich eine breite, gutmütig aussehende Frau zu den beiden. Das Kind wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch gerieten.
„Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?“, fragte jetzt die neu Hinzugekommene.
»Ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muss dort bleiben.“
„Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk’ ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!“
»Das kann er nicht, er ist der Großrater. Ich habe das Kind bis jetzt gehabt, nun soll er das Seine tun.“
»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon“, bestätigte die breite Bärbel; „aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch mit einem so kleinen! Das hält’s nicht aus bei ihm! Wo willst du denn hin?“
„Nach Frankfurt“, erklärte Dete, „da bekomm’ ich eine gute Stellung.“
„Ich möchte nicht das Kind sein“, rief die Bärbel mit abwehrender Gebärde aus. „Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem will er etwas zu tun haben. Ich möchte nur wissen, was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken lässt. Mac sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?“
Die Bärbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli verheiratet und war noch nicht so ganz vertraut mit allen Erlebnissen und Persönlichkeiten der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte hier gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr. Da war diese gestorben, und Dete war nach Bad Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kind von Ragaz hergekommen; bis Mayenfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heim fuhr und sie und das Kind mitnahm. — Die Bärbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht ungenutzt Vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: »Du weißt, was mit dem Alten ist und ob der immer ein solcher Menschenhasser war!“
„Ob er immer so war, kann ich nicht genau wissen: ich bin jetzt sechsundzwanzig, und er ist sicher siebzig Jahr alt; so hab’ ich ihn nicht gesehen, als er jung war, das wirst du nicht erwarten.“
Sie sah sich um, ob das Kind nicht zu nahe sei und alles anhöre, was sie sagen wollte; aber Heidi war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es jedoch im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt.
»Jetzt seh’ ich’s“, erklärte die Bärbel; „siehst du dort?“, und sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. „Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Es ist aber gerade recht, er kann nun nach dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzählen“.
„So viel ist da nicht zu erzählen. Der Alte zog schon als ganz junger Bursche hinaus in die Fremde und hat dort auch geheiratet, aber seine Frau bald wieder verloren. Nie hat er darüber gesprochen, und es hätte nicht einer im Dörfli etwas von der Ehe gewusst, wenn er nicht bei seiner Heimkehr nach langen Jahren den Buben, den Tobias, mitgebracht hätte. Gerade weil niemand etwas Bestimmtes wusste, wurde so mancherlei gemunkelt. Der Alte soll es zu Reichtum gebracht und das Geld wieder vertan haben. Aber er musste noch etwas besitzen, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen. Der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Dem Alten traute keiner, weil er selbst zu keinem Vertrauen hatte. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Großmutter mit seiner Großmutter Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der Alm-Öhi.“
„Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?“, fragte gespannt die Bärbel.
„Wart’ nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen“, erklärte Dete. „Der Tobias war in der Lehre und als er fertig war, nahm er meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt. Sie lebten sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, als der Tobias an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Die Adelheid bekam vor Schrecken und Leid heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen. Sie war ohnehin nicht sehr kräftig. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch sie. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben, und der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen. Aber er wurde grimmig und verstockt und redete mit niemand mehr. Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seitdem ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Als nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel in Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich. zu nähen und zu flicken verstehe, und im Frühling kamen die Leute aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr kennengelernt hatte und die mich mitnehmen wollen. Übermorgen reisen wir ab.“
»Mich wundert, was du denkst, Dete“, sagte die Bärbel vorwurfsvoll.
»Was soll ich denn mit dem Kind machen? Ich denke, ich kann eins, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Bärbel? Wir sind ja schon halbwegs auf der Alm“,
»Ich bin auch gleich da, wo ich hin muss“, entgegnete die Bärbel. »Ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt für mich. So Leb’ wohl!“
Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese auf die dunkelbraune Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschützt war.
Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, damit sie da die kurzen, kräftigen Kräuter abfressen konnten. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Beruf gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann die Geißenpeterin genannt, und die blinde Großmutter kannten weit und breit alt und jung nur unter dem Namen Großmutter.
Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert. Auf einmal setzte es sich auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, legte sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen und reckte die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geißen und neben dem Peter her. So langten endlich die Kinder samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: »Heidi, -was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft für den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles ist fort!“
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter: „Dort!“ Die Dete folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas, und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
„Ich brauch’ es nicht“, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.
»Ach, du unglückseliges, vemunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?“, jammerte und schalt die Tante. »Wer soll nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol’ das Zeug!“
Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Tante loben musste.
„Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja auch den Weg“, sagte die Dete jetzt. Willig übernahm der Bub den Auftrag. Das Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhis stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte befanden sich drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen.
Auf einer Bank saß der Öhi, eine Pfeife im Mund, bade Hände auf seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Dete herankletterten. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Guten Tag, Großvater!“
Der Alte gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an. Heidi gab den Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern, denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war verwunderlich anzusehen.
„Ich wünsche dir guten Tag, Öhi“, sagte nun die Dete, „und hier bring’ ich das Kind vom Tobias und der Adelheid.“
„So, was soll das Kind bei mir?“, fragte der Alte kurz. „Und du dort“, rief er dem Peter zu, „du kannst gehen mit deinen Geißen!“ Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
„Es muss eben bei dir bleiben, Öhi“, gab die Dete auf seine Frage zurück. „Ich habe, denk’ ich, das Meine an ihm getan die vier Jahre durch, es wird jetzt wohl an dir sein, das Deine auch einmal zu tun.“ „So“, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. „Und wenn nun das Kind anfängt dir nachzuflennen, was muss ich dann mit ihm anfangen?“
„Das ist deine Sache“, gab die Dete zurück. „Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und du bist der Nächste für das Kind.“
Die Dete hatte kein gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie sehr erregt geworden. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich, dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: „Mach’, dass du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig’ dich nicht so bald wieder!“
Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen, „So leb wohl, und du auch, Heidi“, sagte sie schnell und lief den Berg hinunter.
Beim Großvater
Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts darin. Das Kind setzte seine Untersuchung fort und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die andere Ecke der Hütte herum und kam vom wieder zum Großvater zurück:
„Was willst du jetzt tun?“, fragte er, als das Kind vor ihm stand.
„Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte“, sagte Heidi.
„So komm!“ und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte hinein. „Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit“, befahl er.
„Das brauch’ ich nicht mehr“, erklärte Heidi.
Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein konnten. „Es kann ihm nicht an Verstand fehlen“, sagte er halblaut. „Warum brauchst du nichts mehr?“, setzte er laut hinzu.
„Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte Beinchen.“
„So, das kannst du, aber hol’ das Zeug, es kommt in den Kasten.“ Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tür auf, und das Kind trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da standen ein Tisch und ein Stuhl darin; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen hing der große Kessel über dem Herd, und auf der anderen Seite war eine große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin, und in den Fächern lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher, und auf einem Gestell befanden sich Teller, Tassen, Gläser, Brot, geräuchertes Fleisch und Käse. Heidi kam schnell heran und stieß sein Zeug hinein, so weit hinter des Großvaters Kleider wie möglich, damit es nicht so leicht wiederzufinden sei. Nun sah es sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: „Wo muss ich schlafen, Großvater?“
„Wo du willst“, gab dieser zur Antwort.
Das war dem Heidi eben recht. Es fuhr in alle Winkel hinein. In der Ecke, vorüber an des Großvaters Lagerstätte, war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab. „Hier will ich schlafen“, rief Heidi hinunter, „hier ist’s schön! Komm und sieh einmal, Großvater!“
„Weiß schon“, tönte es von unten herauf.
„Ich mache jetzt das Bett“, rief das Kind wieder, indem es oben geschäftig hin- und herfuhr; „aber du musst heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man.“
„So, so“, sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen Hemden Leinenzeug und eine Wolldecke hervor.
„Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen“, sagte jetzt der Großvater, „oder was meinst du?“
Heidi hatte über dem Eifer des Bettens alles andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen kam, stieg ein großer Hunger in ihm auf und es sagte zustimmend: „Ja, ja, ich mein’ es auch.“
„Wo willst du sitzen?“, fragte der Öhi. Auf dem einzigen Stuhl saß er selbst. Heidi schoss pfeilschnell zum Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß herbei und setzte sich darauf.
„Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig tief“, sagte der Großvater; „aber von meinem Stuhl aus wärst du auch zu kurz, um auf den Tisch zu langen; jetzt musst du aber einmal etwas haben, so komm!“ Damit stand er auf und füllte das Schüsselchen mit Milch. „Gefällt dir die Milch?“, fragte er.
„Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken“, antwortete das Heidi,
„So musst du mehr haben“, und der Großvater füllte das Schüsselchen noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnüglich in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse daraufgestrichen hatte. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Großvater in den Geißenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen, und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen säuberte, dann frische Streu legte, dass die Tierchen darauf schlafen konnten. Danach ging er in den Schuppen nebenan, wo er runde Stöcke zurechtschnitt und an einem Brett herumhobelte und Löcher hineinbohrte und dann die runden Stöcke hineinsteckte und aufstellte. Da war es auf einmal ein Stuhl wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi staunte das Werk an, sprachlos vor Verwunderung.
So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den alten Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die Ohren und ins Herz hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und unter den Tannen umherhüpfte und sprang, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt.
Jetzt erschallte ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen Sprüngen, der Großvater trat heraus. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und mitten drin der Peter. Mit einem Freudenruf schoss Heidi in das Rudel hinein und begrüßte die Freunde von heute morgen. Bei der Hütte stand alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke Geißen, eine weiße und eine braune. Sie sprangen auf den Großvater zu und leckten seine Hände, denn er hielt ein wenig Salz darin wie jeden Abend.
Der Peter verschwand mit seiner Schar. Heidi war ganz glücklich über die Tierchen. „Sie sind unser Großvater? Kommen sie in den Stall? Bleiben sie immer bei uns?“, so fragte das Heidi hintereinander in seinem Vergnügen, der Großvater konnte kaum sein stetiges: »Ja, ja!“ zwischen die eine und die andere Frage hineinbringen.
„Wie heißen sie, Großvater, wie heißen sie?“, wollte das Kind nun wissen.
„Die weiße heißt Schwänli und die braune Bärli“, gab der Großvater zurück.
„Gut’ Nacht, Schwänli, gut’ Nacht, Bärli!“ rief Heidi, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank seine Milch; aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz herunter. So machte es schnell fertig, ging dann hinein und stieg zu seinem Bett hinauf, in dem es auch gleich nachher so fest und herrlich schlief.
Nicht lange nachher, noch ehe es völlig dunkel war, legte auch der Großvater sich auf sein Lager, denn am Morgen war er immer schon mit der Sonne wieder draußen, und die kam sehr früh über die Berge hereingestiegen in dieser Sommerzeit. Mitten in der Nacht stand der Großvater auf und stieg die Leiter hinauf und trat an Heidis Bett heran. Jetzt kam der Mondschein eben leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf Heidis Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner schweren Decke, und ganz ruhig und friedlich lag es auf seinem runden Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen sah ganz wohlgemut aus.
Heidi erwachte am frühen Morgen. Es schaute erstaunt um sich und wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des Großvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: woher es gekommen war, und dass es nun auf der Alm beim Großvater war. So war es sehr froh, als es sich erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte, und was es heute wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles wieder angezogen, was es gestern getragen hatte. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, dass sie sich der Gesellschaft anschlössen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.
„Willst du mit auf die Weide?“, fragte der Großvater. Das war dem Heidi eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freuden. „Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist; sieh, dort ist’s für dich gerichtet.“ Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang hin und plantschte und rieb, bis es ganz sauber war.
Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem Peter zu: „Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack mit!“ Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug. „Mach’ auf!“ befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot und ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen weit auf, denn die Stücke waren wohl noch einmal so groß wie die zwei, die er als sein eigenes Mittagsmahl drinnen hatte. »So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein“, fuhr der Öhi fort, »denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gibt acht, dass es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?“
Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten darauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alm, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen, goldenen Zistusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die flimmernden, winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und auch den Peter.
»Komm nach!“ rief der Peter. „Du darfst nicht über die Felsen hinunterfallen, der Öhi hat’s verboten.“
Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich haltmachte mit seinen Geißen und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße des hohen Felsen. An der einen Seite der Alm zogen sich Felsenklüfte weit hinunter, und der Großvater hatte recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war, streckte sich der Peter lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
Heidi setzte sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten im vollen Morgenglanz. Dem Heidi war es so wohl zumute wie in seinem Leben noch nie.
Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen, und als es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel, wie es nie einen gesehen hatte.
„Peter, Peter, erwache!“ rief Heidi laut. „Sieh, der Raubvogel ist da, sieh, sieh!“
Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich über den grauen Felsen verschwand.
„Wo ist er jetzt hin?“, fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
„Heim ins Nest“, war Peters Antwort.
„Ist er dort oben daheim? Warum schreit er so?“, fragte Heidi weiter.
„Weil er muss“, erklärte Peter.
Gegen Mittag holte Peter den Sack herbei. Dann nahm er das Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli. Dann rief er Heidi herbei.
Heidi fing bei seiner Milch an, und als es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Da brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und reichte es dem Buben hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und sagte: „Das kannst du haben, ich habe genug.“
Peter schaute das Heidi sprachlos an. Er zögerte noch ein wenig, dann sah er, dass es ernst gemeint war; er erfasste sein Geschenk, nickte dankbar und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi schaute derweilen nach den Geißen aus. „Wie heißen sie alle, Peter?“, fragte es.
Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in seinem Kopf behalten, da er daneben wenig drin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen. Heidi hörte aufmerksam zu, und es währte gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen.
Peter hatte sein Mittagsmahl beendet und kam auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran, das erneut allerlei Betrachtungen angestellt hatte. Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar waren Schwänli und Bärli.
Auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den Geißen nach, und das Heidi lief hinterdrein; da musste etwas geschehen sein, es konnte nicht Zurückbleiben. Der Peter lief mitten durch das Geißenrudel der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein, wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und die Beine brechen konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es schon packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht auf stehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend: »Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar weh.“
Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an der sein Glöcklein um den Hals gebunden war. Heidi erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück.
So war unbemerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen.
Heidi saß wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die Zistusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht, und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln. Auf einmal sprang Heidi auf und schrie: „Peter! Peter! es brennt! es brennt! es brennt! alle Berge brennen, und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh, sieh, der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige Schnee! Peter, steh auf! Sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist in Feuer!“
„Es war immer so“, sagte der Peter gemütlich und schälte an seiner Rute fort, „aber es ist kein Feuer.“
„Was ist es, Peter, was ist es?“, rief Heidi wieder.
„Es kommt von selbst so“, erklärte Peter.
Oh, sieh, sieh“, rief Heidi in großer Aufregung, „auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzen Felsen! Wie heißen sie, Peter?“
„Berge heißen nicht“, erwiderte dieser.
„Oh, wie schön, sieh den rosaroten Schnee! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!“ Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich alles zu Ende.
„Es ist morgen wieder so“, erklärte Peter. „Steh auf, nun müssen wir heim.“
Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und der Heimweg angetreten.
„Ist’s alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?“, fragte Heidi, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
„Meistens“, gab dieser zur Antwort.
„Aber gewiss morgen wieder?“, wollte es noch wissen.
„Ja, ja, morgen schon!“ versicherte Peter.
Nun war Heidi wieder froh, und es hatte so viele Eindrücke in sich aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es schwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte.
„O Großvater, das war so schön!“ rief Heidi. „Aber, Großvater, warum hat der Raubvogel so gekrächzt?“
„Jetzt gehst du ins Wasser, und ich gehe in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir zusammen hinein in die Hütte und essen zur Nacht, dann sag’ ich dir’s.“
Als Heidi später auf seinem hohen Stuhl saß vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: „Warum krächzt der Raubvogel so, Großvater?“
„Der verhöhnt die Leute dort unten, dass sie so zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er hinunter: ‚Würdet ihr auseinandergehen und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär’s euch wohler!“ Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch emdrücklicher wurde in der Erinnerung.
„Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?“, fragte Heidi wieder.
„Die haben Namen“, erwiderte dieser, „und wenn du mir einen so beschreiben kannst, dass ich ihn erkenne, so sage ich dir, wie er heißt.“
Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau, und der Großvater sagte wohlgefällig: „Recht so, den kenn’ ich, der heißt Falkniß. Hast du noch einen gesehen?“
Heidi beschrieb den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee in Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden und auf einmal ganz bleich und erloschen war.
„Den erkenn’ ich auch“, sagte der Großvater, „das ist die Scesaplana.“
Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage und besonders von dem Feuer am Abend, und der Großvater sollte auch sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon gewusst.
„Siehst du“, erklärte der Großvater, „das macht die Sonne: wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt.“
Das gefiel dem Heidi, und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder ein Tag komme, da es hinauf könnte auf die Weide.