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Bei der Großmutter

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Am anderen Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter mit den Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm gar nie etwas fehlte. Als es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing, sagte der Großvater: „Heut’ bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen.“

Wenn das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus. Einmal wusste er vor Langeweile nun gar nichts mehr anzufangen, wenn das Heidi nicht bei ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die Geißen so störrisch an diesen Tagen, dass er die doppelte Mühe mit ihnen hatte. Sie waren nun auch so an Heidis Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es nicht dabei war. Heidi wurde niemals unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich. Auch das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters waren sehr unterhaltend für Heidi. Und traf es sich, dass er gerade die schönen, runden Geißkäschen zubereitete, so war es ein ganz besonderes Vergnügen, dieser merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor allem anziehend war für Heidi an solchen Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben.

Dann wurde es kalt, und der Peter, hauchte in die Hände, wenn er früh am Morgen heraufkam. Dann auf einmal fiel über Nacht tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm weiß. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi schaute ganz verwundert durch das klöne Fenster, denn nun fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen. Am anderen Tage ging der Großvater hinaus — denn nun schneite es nicht mehr — und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große Schneehaufen aufeinander. Nun waren die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, da polterte auf einmal etwas heran und schlug immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren. Eigentlich war der ganze Peter von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so durchkämpfen müssen, dass große Stücke an ihm hängengeblieben und auf ihm festgefroren waren in der scharfen Kälte. Aber er hatte nicht nachgegeben, heute wollte er zum Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht gesehen.

„Guten Abend“, sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah wie möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts; aber sein ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war wie ein Wasserfall.

„Nun, General, wie steht’s?“, fragte jetzt der Großvater. „Nun bist du ohne Armee und musst am Griffel nagen.“

„Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?“, fragte Heidi sogleich.

„Im Winter muss er in die Schule gehen“, erklärte der Großvater; „da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, und da hilft’s ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt — nicht wahr, General?“

„Ja, ’s ist wahr“, bestätigte Peter.

Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden, und es hatte sehr viele Fragen über die Schule und alles, was dort geschah und zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen musste, so konnte er derweilen schön trocknen. Es war Immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte er’s besonders schwer, denn kaum hatte er eine Antwort zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als Antwort erforderten. Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.

„So, General, nun bist du im Feuer gewesen und brauchst Stärkung!“ Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor. Der Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. Als er nun „Gute Nacht“ und „Dank Euch Gott“ gesagt hatte und schon unter der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: „Am Sonntag komm’ ich wieder, heut über acht Tag’, und du solltest auch einmal zur Großmutter kommen, hat sie gesagt.“

Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen sollte. Und gleich am folgenden Morgen war Heidis erstes Wort: „Großvater, jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.“

„Es hat zu viel Schnee“, erwiderte der Großvater abwehrend.

Am vierten Tage, als draußen die ganze Schneedecke ringsum hart gefroren war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, stieg der Öhi auf den Heuboden hinauf, brachte die dicke Decke herunter und sagte: „So komm!“

In großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus.

Der Großvater war in den Schuppen gegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten Er setzte sich hin, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um und um in die Decke ein und drückte es fest mit dem linken Arm an sich. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Der Schlitten schoss davon, dass das Heidi meinte, es fliege wie ein Vogel. Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom Geißenpeter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte: „So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann komm wieder heraus, und mach’ dich auf den Weg!“

Als Heidi in das Stüblein trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran saß eine Frau und flickte Peters Wams. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes Mütterchen und spann. Heidi wusste gleich, woran es war; es ging geradeaus auf das Spinnrad zu und sagte: „Guten Tag, Großmutter.“

Die Großmutter hob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie sie erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie: „Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?“

„Ja, ja“, bestätigte das Kind, „jetzt gerade bin ich mit dem Großvater im Schlitten heruntergefahren.“

„Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so erzählt vom Alm-Öhi“, sagte die Großmutter; „ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen da oben! Wie sieht es auch aus, Brigitte?“

„Es ist fein gegliedert, wie die Adelheid war“, gab sie zur Antwort, „aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den zweien gleich.“

Unterdessen war Heidi nicht müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: „Sieh, Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er wieder festhält.“

„Ach, du gutes Kind“, sagte die Großmutter, „sehen kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl. Es kracht und klappert überall, wenn der Wind kommt. Es hält nichts mehr zusammen, und in der Nacht, wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es falle alles über uns zusammen und schlage uns alle drei tot. Ach, und da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte an der Hütte; der Peter versteht’s nicht.“

„Aber warum kannst du denn nicht sehen, Großmutter? Sieh, jetzt wieder, dort, gerade dort!“ Und Heidi zagte die Stelle deutlich mit dem Finger.

„Ach, Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts mehr“, klagte die Großmutter.

Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es fortwährend: „Wer kann dir denn helfen? Kann es gar niemand?“ Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr nicht so bald.

Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke, und es fing an von seinem Leben mit dem Großvater und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem Großvater zu erzählen. Die Großmutter hörte mit großer Aufmerksamkeit zu.

Mit einemmal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter. Als er das Heidi erblickte, schnitt er die aller freundlichste Grimasse:

„Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt?“, rief die Großmutter ganz verwundert aus; „so geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?“

„Gleich“, gab der Peter zur Antwort.

„So, so“, sagte die Großmutter ein wenig seufzend, „ich habe gedacht, es gäbe vielleicht eine Änderung.“

„Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?“, fragte Heidi gleich mit Interesse.

„Ich meine nur, dass er das Lesen noch hätte lernen können“, sagte die Großmutter. „Ich habe dort oben auf dem Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch nicht mehr; nun habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so könne er mir manchmal ein gutes Lied vorlesen. Aber es ist ihm zu schwer.“

„Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel“, sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte: „der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich’s merkte.“

Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: „Gut’ Nacht, Großmutter, ich muss heim, wenn es dunkel wird“.

Die Großmutter rief besorgt: „Wart’, wart’, Heidi; so allein sollst du nicht fort, der Peter muss mit dir, hörst du?“

Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Großvater kommen. Er packte das Kind wieder fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg hinauf.

Sobald sie oben angekommen waren, sagte das Heidi: „Großvater, morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden festmachen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr.“

Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte sagte: „Ja, Heidi, wir wollen dafür sorgen, dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter.“

Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte das Kind vor die Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte: „Nun geh hinein, und wenn’s Nacht wird, komm wieder!“ Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: „Da kommt das Kind!“ Heidi lief zu ihr und rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe an sie heran. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge am Haus, dass die Großmutter vor Schrecken zusammenfuhr und zitternd ausrief: „Ach, du mein Gott, jetzt fällt alles zusammen!“ Aber Heidi sagte tröstend: „Nein, nein, Großmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer; jetzt macht er alles fest, dass es dir nicht mehr angst und bang wird.“

„Ach, ist so etwas möglich!“ rief die Großmutter aus. „Hast du’s gehört, Brigitte? Geh hinaus, und wenn es der Alm-Öhi ist, so sag’ ihm, er soll doch dann einen Augenblick hereinkommen, dass ich ihm danken kann.“

Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer Gewalt neue Kloben in die Mauer ein; Brigitte trat an ihn heran und sagte: „Ich wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und wir haben zu danken, dass du uns einen solchen Dienst erweist…“ „Mach’s kurz“, unterbrach sie der Alte; „was ihr vom Alm-Öhi haltet, weiß ich schon. Geh nur wieder hinein: wo’s fehlt, find’ ich selber.“

Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte weiter, bis er auch den letzten Nagel angeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen und kaum hatte er seinen Schlitten hinter dem Geißenstall hervorgezogen, als auch das Heidi aus der Tür trat.

So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen, und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere. Vom frühen Morgen an lauschte sie auf den trippelnden Schritt, und ging die Tür auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude: „Gottlob, da kommt’s wieder!“ Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass der Großmutter die Stunden dahingingen, ohne dass sie es merkte.

Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag hindurch an dem Geißenpeterhäuschen herumklopft. Es krachte und klapperte nun nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen können. Das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.

Heidi

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