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1574
Würzburg

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Das neue Jahr war gerade erst wenige Monate alt, da bereuten bereits einige der Domherren, ihre Stimme Julius Echter gegeben zu haben. Solch einen sittenstrengen Fürstbischof hatten sie nun doch nicht haben wollen, ebenso wenig wie der Großteil der Würzburger. Anhänger des alten Glaubens und Protestanten lebten bislang gut und vergnügt miteinander. Warum sollte sich das ändern? Der Mensch war nicht dafür gemacht, sich die wenigen Lustbarkeiten, die das ohnehin schon harte Leben zu bieten hatte, zu versagen. Immer mehr bekannten sich sowieso zum lutherischen Glauben. Und wen störte es, wenn Mönche und Nonnen beieinanderlagen und Priester und Domherren sich Mätressen hielten? Außer dem neuen Fürstbischof offenbar niemanden.

Julius Echter war zwar gewählt worden, aber bestätigt durch den Papst und den Kaiser war die Wahl bisher nicht. Auch seine Priesterweihe hatte er noch nicht empfangen. Manche Hoffnung ruhte auf dem jetzigen Kaiser, denn Maximilian II. war dem Protestantismus nicht abgeneigt. Ganz anders als seine Vorgänger, sein Onkel Karl und sein Vater Ferdinand. Sollte Kaiser Maximilian tatsächlich zum neuen Glauben übertreten, konnte Julius Echter mit dessen Zustimmung nicht rechnen. Sicher, Papst Gregor würde Echter bestätigen, doch was, wenn der Kaiser sie ihm versagte? Dann besäße Echter nur die geistliche Macht in Würzburg, aber nicht die weltliche. Was würde dann geschehen?

Simon kümmerte es nicht, wer das Hochstift nun regierte. Seine Tage bestanden aus Arbeit, Arbeit und Arbeit und der Erduldung von Wulfs Bösartigkeiten. Kaum ein Tag verging, an dem Wulf nicht irgendetwas ausheckte, um Simon das Leben so schwer wie möglich zu machen oder, was er am liebsten tat, die Schuld, wenn etwas schiefgegangen war, auf ihn zu schieben. Simons Mutter hörte kaum hin, wenn er sich bei ihr über seinen Stiefbruder beschwerte. Seit Jahresbeginn schlief er in einer Ecke des Lagerhauses, nachdem Melchior darauf bestanden hatte, Simon solle sich das Zimmer mit Wulf teilen, damit die beiden Mädchen in einer Kammer schlafen konnten.

Wortlos hatte er Strohmatratze, Decke und Kissen genommen, war in den angrenzenden Hof gegangen und hatte sich im Lager eingerichtet. Anna hatte ihn angefleht, es doch mit Wulf zu versuchen, und dabei sogar ein paar Tränen vergossen.

»Simon, kannst du auch einmal an mich denken? Ich bin zu jung, um bis an mein Lebensende ein Witwendasein zu führen, deshalb habe ich wieder geheiratet. Melchior ist ein guter und angesehener Mann, wir hätten es schlechter treffen können. Er behandelt Barbara und dich wie sein eigen Fleisch und Blut, ich verstehe nicht, was du gegen ihn hast.«

Ihre Worte hatten ihn nur verächtlich auflachen lassen.

»Lass gut sein, Mutter. Lieber schlafe ich bei den Eseln, als mit Wulf eine Kammer zu teilen.«

Die Turmuhr schlug dreimal. Simon rieb sich den Schlaf aus den Augen und schälte sich aus seiner Decke. Er stieg in seine Kleidung, ging nach draußen zum Brunnen und wusch sich das Gesicht. Das eiskalte Wasser vertrieb die Müdigkeit, und er fröstelte.

Heute mussten sie noch mehr Brote backen als sonst, denn Fürstbischof Julius hatte Gesandte geladen, die er nach Rom schicken wollte, um die Bestätigung seiner Wahl durch den Papst zu erhalten. Am morgigen Abend würde auf der Burg ein fürstliches Bankett für die Gesandten, Domdekan Neidhart von Thüngen, Chorherr Georg Fischer vom Stift Neumünster und alle Domherren stattfinden. Eine stattliche Anzahl von sechsundfünfzig Männern, die zu verköstigen der Koch und seine Gehilfen allein nicht bewältigen konnten. Daher war die Order ergangen, ein Bäcker aus der Stadt sollte zusätzliches Brot backen. Die Zunft hatte das Los entscheiden lassen, wer den fürstbischöflichen Auftrag erhalten möge, und Bernbeck war der glückliche Gewinner gewesen.

Vor einigen Tagen war Simon zur Brauerei gegangen, um sich Hefe zu besorgen. Eigentlich war es Wulfs Aufgabe, doch dieser hatte sich einmal mehr davor gedrückt. Ächzend hob er einen Sack Roggenmehl an und verteilte einen Teil des Inhalts auf mehrere hölzerne Wannen. Die Hefe, die er mit Sauerteig und Wasser vermischen wollte, gab er in eine Schüssel.

»Verdammt, Wulf, wo ist der Sauerteig?«, fluchte er leise vor sich hin und sah sich suchend um.

»Redest du mit mir?« Wulf stand plötzlich in der Backstube. Die Arme vor dem Körper verschränkt lehnte er am Durchgang zum Hof.

»Ja. Wo ist der Sauerteigansatz? Ich brauche ihn, um den Teig fertigzustellen.«

»Hab ich gestern aufgebraucht«, erwiderte Wulf leichthin.

»Bist du noch bei Trost? Wieso hast du einen Teil davon nicht weitergezüchtet? Es dauert Tage, bis wir wieder einen Sauerteig haben!«

»Hüte deine Zunge, Schwachkopf, es geht auch ohne Sauerteig. Los, bring Wasser!«, zischte Wulf und gab Salz und Hefe in die Holzwannen.

»Du kannst das Wasser selbst holen. Ich gehe zu Meister Wachter und werde ihn um Sauerteig anbetteln.« Simon riss sich die Schürze vom Leib und stürzte aus der Tür.

»Was fällt dir ein?«, schrie Wulf wütend hinter ihm her, doch Simon kümmerte es nicht.

Um zum zweiten Zunftmeister, Robert Wachter, zu kommen, musste er fast die ganze Stadt durchqueren. Keuchend rannte er durch die noch dunklen Gassen, wich einer zwielichtigen Gestalt aus, die nach ihm griff, und erreichte schließlich schwitzend und mit rasendem Herzschlag Wachters Backstube. Der Meister und sein Geselle kneteten die Teige in den Wannen und sahen erstaunt auf, als plötzlich Simon auftauchte.

»Meister Wachter, Ihr müsst mir helfen!«

»Dein Benehmen lässt zu wünschen übrig. Solltest du uns nicht zunächst begrüßen?«, spottete der Geselle gutmütig.

»Verzeiht, natürlich, Gott zum Gruße, verehrter Zunftmeister und Geselle Jörg«, antwortete Simon mit hochrotem Kopf.

»Schon gut, Junge. Was treibt dich um diese Zeit zu uns?«, brummte Wachter, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

»Könnt Ihr mir mit etwas Sauerteig aushelfen?«

Wachter runzelte die Stirn. »Wie kann es sein, dass in Bernbecks Backstube kein Sauerteig vorhanden ist? Hast du ihn etwa ausgehen lassen? Du bist schon lang genug dabei, um zu wissen, dass dies nicht geschehen sollte. Dein Meister sollte dir die Ohren lang ziehen.«

»Es war nicht meine Schuld. Könnt Ihr mir nun aushelfen oder nicht?« Er klang patzig.

»Jörg, gib ihm etwas Sauerteig. Und du, Simon Reber, bist nur ein Lehrjunge und solltest es in Zukunft nicht an Höflichkeit und Respekt fehlen lassen. Hast du mich verstanden?«

Der Geselle reichte Simon eine kleine irdene Schale gefüllt mit Sauerteig.

»Ja, Meister. Und habt Dank.« Er wandte sich zum Gehen, doch Wachter hielt ihn auf.

»Wenn es nicht deine Schuld war, wie du sagst, wessen war es dann?«

Simon blieb stumm. An seiner Statt antwortete Jörg.

»Es war Wulf, Melchiors Sohn, nicht wahr?«

Das darauffolgende Schweigen war Antwort genug.

»Nun geh schon«, entließ ihn der Zunftmeister seufzend.

Als Simon zurück zu Bernbecks Haus kam, empfing ihn sein Stiefvater mit einer Ohrfeige und riss ihm die Schale aus der Hand. »Wie oft hab ich dir eingebläut, dass der Sauerteig immer weitergezüchtet werden muss.«

Wulf stand feixend daneben, nahm seinem Vater das Gefäß ab und verschwand in der Backstube.

»Hast du nichts zu sagen?«

Simon schüttelte den Kopf. Melchior würde die Wahrheit nicht hören wollen und sicher auch nicht glauben.

»Zur Strafe wirst du die Sauerteigbrote allein fertigen. Und nun verschwinde.«

Wulf hatte während Simons Abwesenheit den Roggenteig geknetet. Immerhin hatte er den Ofen angefacht, denn es dauerte eine Zeit, bis die Backsteine die richtige Temperatur besaßen. Stirnrunzelnd beobachtete Simon seinen Stiefbruder. Offenbar hatte Wulf zu viel Wasser genommen und gab nun Mehl nach. Wusste er denn nicht, dass der Teig das gar nicht mochte? Doch er hütete sich, Wulf zurechtzuweisen. Nachdem dieser mit seiner Arbeit fertig war, verließ er ohne ein Wort die Backstube. Die hölzernen Wannen, in denen der Roggenteig geknetet worden war, hatte er einfach stehen lassen. Wie jeden Tag kümmerte er sich nicht darum, sie sauber zu machen. Dafür gab es ja schließlich den Lehrjungen.

Simon war es nur recht, dann hatte er wenigstens seine Ruhe. Sorgfältig schrubbte er die Wannen und bereitete alles für seinen Teig vor. Nicht einmal ein halber Sack Roggenmehl war übrig. Für zwanzig Laibe würde er nicht ausreichen. Zischend stieß er die Luft aus. Nun musste er auch noch zum Mehllager gehen und die schweren Säcke vom Dachboden hinunterschleppen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass kein Roggenmehlsack mehr dort war. Nur noch Weizenmehl. Nun gut, dann würde er eben mischen. Ächzend warf er sich den Sack über die Schulter und stieg die steile Treppe hinab.

Allmählich knurrte sein Magen, doch das Frühstück musste noch warten. Simon verteilte die Mehle in die Wannen, gab Sauerteig und warmes Wasser dazu und begann zu kneten. Es war eine anstrengende Arbeit, doch in den letzten Monaten hatten seine Hände so viel Kraft bekommen, dass sie ihm kaum mehr etwas ausmachte. Simon liebte inzwischen das Gefühl des Teiges zwischen seinen Fingern. Ganz anders als Wulf, von dem er wusste, dass er das klebrige Gemisch verabscheute.

Während der mit einem Leintuch zugedeckte Teig ruhte, ging er über den Hof zum Stall, wo die beiden Esel schon auf ihn warteten und ihre langen Ohren spitzten.

»Ihr habt Hunger, so wie ich, nicht wahr?« Simon rieb den beiden Grautieren die Stirn, nahm die Heugabel und schob einen ordentlichen Haufen Futter in die Box. Während die Tiere fraßen, mistete er aus, streute frisches Stroh und füllte die Wassereimer nach.

Als er endlich in die Küche kam, um sich seinen Gerstenbrei zu holen, war es längst hell geworden. Seit er im Lager hauste, aß er nur noch selten mit der Familie. In der Küche traf er auf seine Mutter, die Berta, der Magd, Anweisungen erteilte.

»Simon, dein Vater …«

»Mein Stiefvater.«

Anna wischte den Einwand mit einer Handbewegung unwirsch beiseite. »… ist außer sich. Du beschämst ihn als Meister, sagt er, wenn du den Zunftmeister um Anstellgut bitten musst, weil du nicht aufgepasst hast.«

»Wer nicht aufgepasst hat, ist Wulf. Er hat den Sauerteigansatz aufgebraucht, nicht ich«, erwiderte Simon und schlang den Brei hinunter.

»Wulf ist kein Lehrling«, entgegnete seine Mutter, »er weiß, dass das nicht geschehen darf.«

»Ach, ist das so? Nur weil ich in die Lehre gehe, bin ich an allem schuld, was dieser Taugenichts falsch macht? Melchior sollte ihm mal die Ohren lang ziehen. Es vergeht kein Tag, an dem Wulf nicht irgendeinen Fehler macht. Zudem ist er faul und hochfahrend«, schleuderte Simon ihr wütend entgegen.

»Das glaube ich nicht. Wulf ist höflich und fleißig und bei der Zunft sehr beliebt. Du solltest dankbar sein, dass du solch eine Familie hast.«

Simon war fassungslos. War seine Mutter so blind, oder wollte sie die Wahrheit nicht wissen?

»Glaub, was du willst, Mutter, ich weiß es besser. Und wenn Melchior sich weniger in den Wirtshäusern und mehr in der Backstube aufhalten würde, wüsste er es auch.« Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging zurück in die Backstube, wo Wulf gerade dabei war, Laibe zu formen. Wie immer gab er sich nicht sonderlich Mühe, gleichmäßige Laibe zustande zu bringen.

»Los, sieh nach der Glut und rühr sie durcheinander, damit der Ofen eine gleichmäßige Hitze bekommt«, blaffte Wulf ihn an.

»Sieh doch selbst nach.«

Wulf trat drohend auf ihn zu. »Willst du Prügel? Kannst du haben.« Er hatte kaum ausgesprochen, als seine Faust Simon am Kinn traf und ihn an die Wand schleuderte.

Simon schüttelte sich und ging mit gesenktem Kopf auf Wulf los, rammte ihm seinen Schädel in die Magengrube und schlug ihm mit der geballten Rechten in die Nierengegend. Sein Stiefbruder sackte zusammen und krümmte sich vor Pein. Just in diesem Augenblick erschien Meister Bernbeck. Mit einem Wutschrei packte er Simon am Kragen und prügelte auf ihn ein. Simon riss die Hände nach oben, um seinen Kopf zu schützen. Erst als er mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden lag, ließ Bernbeck von ihm ab, jedoch nicht ohne ihm zuvor noch einen Tritt zu verpassen.

»Verfluchter Bengel! Totschlagen sollte ich dich wie einen räudigen Hund!«, spie Bernbeck aus. »Wulf, mein guter Junge, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Mein Bauch schmerzt. Wie gut, dass du rechtzeitig gekommen bist. Wer weiß, ob er mich nicht umgebracht hätte.«

»Weswegen seid ihr in Streit geraten?«

»Ich habe ihn gebeten, nach der Glut im Ofen zu sehen, weiter nichts. Und plötzlich hat er auf mich eingeschlagen.«

Melchior Bernbeck schüttelte den Kopf. »Geh ins Haus und ruh dich etwas aus. Ich werde Simon die Flausen schon austreiben.«

Als Wulf verschwunden war, schnappte Bernbeck seinen Stiefsohn am Arm und riss ihn in die Höhe.

»Du wirst heute und morgen allein arbeiten. Die Maifeier der Zünfte kannst du vergessen, du bleibst hier. Und wehe dir, die Brote für den Fürstbischof sind nicht von allerhöchster Güte. Hast du mich verstanden?«

Simon nickte schwach, sein Kopf dröhnte, und ihm wurde speiübel. Nur mit Mühe unterdrückte er den Brechreiz. Bernbeck warf ihm noch einen warnenden Blick zu, bevor er mit zorngerötetem Gesicht die Backstube verließ.

Morgen würde Simons Körper mit blauen Flecken übersät sein und ihm noch mehr Schmerzen bereiten als jetzt. Es war nicht das erste Mal, dass sein Stiefvater ihn windelweich prügelte. Mehr denn je wünschte sich Simon, die Lehrzeit ginge endlich zu Ende. Doch davon war er noch weit entfernt.

Vielleicht konnte er ja den restlichen Teig noch retten. Allerdings bezweifelte er dies. Teige hatten ein Eigenleben, wie er schnell gelernt hatte, und man musste sie mit Sorgfalt behandeln. Tat man es nicht, nahmen sie es einem übel. Er griff in den Teig. Viel zu zäh. Missmutig gab er Wasser hinzu, knetete es unter, aber das Ergebnis war ernüchternd. Das konnte er spüren. Simon leckte seinen Zeigefinger ab und verzog das Gesicht. Wulf hatte viel zu viel Salz in den Teig gemischt, kein Wunder, dass der Teig nichts taugte. Bestimmt hatte er das Salz nicht abgewogen, was er aber unbedingt hätte tun müssen, denn zu viel davon ließ den Teig nicht richtig aufgehen. Wütend brachte er den unbrauchbaren Teig nach draußen und vergrub ihn unter dem Misthaufen. Am liebsten hätte er seinen Stiefbruder gleich mitverscharrt. Nur seinetwegen musste er auf die Maifeierlichkeiten der Zünfte verzichten, denen er seit Wochen entgegenfieberte.

Die wenigen Apotheker der Stadt besaßen keine eigene Zunft, aber sie waren in der Gewürzhändlerzunft eingebunden, und Simon hatte sich schon mit der Apothekertochter Julia tanzen sehen. Daraus wurde nun nichts. Mit hängenden Schultern schlurfte er zu den Eseln und klagte ihnen leise sein Leid, unterdrückte ein Schluchzen. Die Tiere schienen seine Traurigkeit zu spüren und bliesen ihm tröstend ihren warmen Atem ins Gesicht. Er verweilte eine Zeit lang bei den Grautieren, bis er sich wieder beruhigt hatte, und ging zurück in die Backstube, um neuen Teig anzusetzen.

Später formte er sorgfältig die Laibe, gab jeden für sich in einen geflochtenen Weidenkorb, damit sie dort noch eine Weile ruhten, und bestäubte sie mit Mehl. Während die Laibe auf Gare waren, säuberte Simon die Wannen und ging nach draußen, um auf Vorrat Holz zu spalten. Die Scheite stapelte er ordentlich in der Scheune und fegte anschließend die Späne zusammen.

Als er wieder hereinkam, waren die Buchenscheite inzwischen vollständig heruntergebrannt, und der Ofen strahlte eine enorme Hitze aus. Schnell fegte er die Asche in einen metallenen Kasten und spießte einen nassen Lappen auf den Feuerhaken, um den Großteil des Aschestaubs aus dem Ofen zu entfernen. Mit geübten Handgriffen stülpte er die Laibe aus den Körben auf ihre bemehlte Seite, ritzte mit einem Messer ein Kreuz hinein, damit der Teig Platz hatte, um im Ofen aufzugehen, und die Brote später gleichmäßig aussahen. Dann schoss er flink einen Laib nach dem anderen mit dem Schieber in den Ofen. Eine knappe Stunde würde es dauern, bis die Brote fertig gebacken waren. Simon rieb sich die Augen und gähnte herzhaft, ein kleines Schläfchen käme ihm jetzt gelegen. Doch er verwarf den verlockenden Gedanken, als er sich vorstellte, was geschehen würde, sollten Wulf oder sein Stiefvater ihn dabei erwischen.

Sein Blick fiel auf den kleinen Beutel feinsten Weißmehls, den der Müller ihm letztes Mal geschenkt hatte, als Simon in der Grabenmühle gewesen war. Ein Sturm hatte Äste und Blattwerk in die Kürnach befördert und den kleinen Fluss behindert, der die Mühle antrieb. Simon hatte wortlos mit angepackt und dem Müller und seinen Gesellen geholfen.

»Bist ein guter Junge, Simon, hier, nimm das Weißmehl zum Dank für deine Hilfe. Ich bin sicher, du wirst etwas Besonderes daraus machen«, zwinkerte der Müller ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter.

Nun, vielleicht war heute der Tag, an dem er das feine Mehl verarbeiten sollte. Etwas Süßes würde er daraus machen, so süß wie Julias Lächeln.

»Simon!« Aufgeregt platzte Barbara in die Backstube.

Das Gesicht seiner Schwester war bleich, ihre blauen Augen mit den ungewöhnlichen Sprenkeln darin vor Furcht geweitet. Genauso blass erschien Sibylla, die ihr wie immer auf dem Fuß folgte.

»Du musst Mutter helfen, es geht ihr nicht gut!«

Simon wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Was ist denn? Ich hab keine Zeit, die Brote …«

Barbara packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. »Seit dem Morgenmahl spuckt sie nur …«

»Sie wird sich den Magen verdorben haben, da kann ich nichts machen«, gab Simon barsch zurück.

»Aber jetzt ist sie ohnmächtig geworden!«

»Wo ist dein Vater, Sibylla? Sollte er sich nicht um Anna kümmern?«

Sibylla zuckte mit den Schultern. »Er ist mit Wulf weggegangen, wohin, weiß ich nicht.«

Simon seufzte und folgte den Mädchen zu den Wohnräumen im Obergeschoss. Im Schlafzimmer seiner Mutter roch es säuerlich nach Erbrochenem. Anna Reber lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Wangen fahl. Ihre Lider flatterten, als Simon ihre Hand nahm.

»Mutter, kannst du mich hören?«

Anna schlug die Augen auf und nickte schwach. »Ich habe schrecklichen Durst«, krächzte sie.

»Barbara, Sibylla, holt ihr einen Becher verdünnten Wein«, befahl er den Mädchen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Mutter schenkte.

»Was ist mit dir? Hast du etwas Verdorbenes gegessen?«

Seine Mutter schloss einen Lidschlag lang die Augen.

»Nein. Ich bin schwanger. Simon, ich habe solche Angst, das Kind zu verlieren. Melchior wünscht sich so sehr einen weiteren Sohn«, flüsterte sie.

Simon ließ abrupt ihre Hand los. »Das ist alles? Dann kann ich beruhigt nach meinem Ofen sehen. Ich kann mich noch erinnern, wie schlecht es dir ging, als du mit Barbara schwanger warst. Wochenlang hast du gespien, aber meine Schwester kam gesund und munter zur Welt.«

»Du bekommst ein Geschwisterchen, Simon. Freust du dich denn nicht?«

Er sah auf sie hinunter, sah das Flehen in ihren Augen. Wortlos wandte er sich ab und verließ die Schlafkammer. Beinahe wäre er mit Barbara zusammengestoßen.

»Es ist nichts Schlimmes, Schwester, unsere Mutter bekommt nur ein Kind.« Er strich ihr über den Kopf und eilte zurück in die Backstube, ohne sich weiter zu kümmern.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein weiterer Stiefbruder. Trotzig schüttelte er den Gedanken ab und gab das Weißmehl in eine Schüssel. Etwas ganz Besonderes wollte er daraus backen. Dafür würde er kein Wasser nehmen. Milch sollte es sein. Simon stahl sich in die Vorratskammer und nahm sich Milch, Butter und Eier. Seine Augen schweiften umher, wanderten die Regale auf und ab. Rosinen, Haselnüsse, Zimt und Zucker. Letzteres ein teurer Schatz, selbst wenn die Preise nicht mehr ganz so hoch waren, seit aus den fernen Ländern immer mehr des weißen Goldes hierhergelangte. Noch teurer allerdings war Zimt. Wozu hatte Melchior Zimt gekauft? Er buk keine süßen Brote oder Kuchen.

»Da du das Erbe meines Vaters verprasst, brauche ich wenigstens kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mir einen Teil davon zurückhole«, murmelte er vor sich hin und griff nach dem Gefäß mit dem stark duftenden Gewürz.

Simon erwärmte einen Teil der Milch, gab sie dann in die Schüssel zu Mehl und Hefe. Salz und Zucker schüttete er dazu und schnitt kleine Stückchen von der Butter, die er auf dem Mehl verteilte. Nach einer Weile schlug er die Eier auf, vermengte alles und rührte die Masse kräftig mit einem Holzlöffel, bis ein gleichmäßiger Teig entstand. Während der Teig ruhte, kochte er die Milch zusammen mit den zerstoßenen Haselnüssen, dem Zimt, weiterem Zucker und den Rosinen auf. Nachdem die Mischung etwas abgekühlt war, steckte Simon den Zeigefinger hinein und leckte ihn ab. Mit geschlossenen Lidern spürte er mit der Zunge der süßen Masse nach. Wundervoll.

Es war Zeit, die Brote aus dem Ofen zu holen und auskühlen zu lassen. Er klopfte auf den Boden eines Laibes. Der hohle Klang zeigte ihm an, dass das Brot durchgebacken war. Melchior Bernbeck mochte ein Trinker und ein Weiberheld sein, doch sein Handwerk verstand er. Simon beobachtete stets genau, was sein Stiefvater tat. Als er alle Laibe nahe ans Fenster gelegt hatte, wandte er sich seinem süßen Brot zu. Mit einer hölzernen Walze glättete er den Teig. Julias schwarze Zöpfe kamen ihm in den Sinn, und wie von selbst teilten seine Hände den Teig in gleichmäßig dicke Stränge, die er mit der Füllung bestrich, und flocht daraus einen Zopf. Mit den restlichen Rosinen bildete er den Buchstaben ›J‹ auf der Mitte seines Werkes ab. Im Milchkrug befand sich noch ein Rest, den er auf die Oberfläche des Gebäcks strich, bevor er es in den Ofen schob.

Am frühen nächsten Morgen spannte Simon die Esel vor den Karren, lud die Brotlaibe in Körben darauf, und in einem Leinenbeutel verstaute er seinen süßen Zopf. Seine Arme schmerzten noch von der harten Arbeit des vorigen Tages, ebenso wie die blauen Male an seinem Körper. Todmüde war er gestern auf sein einfaches Lager gesunken. Nachdem er die Brote in der Burg abgegeben hatte, wollte Simon sein süßes Backwerk zu Julia zu bringen. Wenn er schon nicht mit zu den Maifeierlichkeiten konnte, wollte er sie wenigstens damit überraschen. Kurz kamen ihm Zweifel, ob das Gebäck auch wirklich schmeckte, doch der Teig war gut gewesen, also was zum Teufel sollte schiefgegangen sein?

Der steile Anstieg zur Festung ließ die Esel schnaufen, und Simon begann, in der Maisonne zu schwitzen. Die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen, von Vogelgezwitscher und dem zarten Duft der Apfel- und Birnenblüten. Einen Augenblick hielt Simon inne, um sich umzusehen. An den Hängen blühten die Obstbäume in voller Pracht, der Main am Fuße des Marienberges glitzerte blausilbern, die Dachziegel der Häuser in der Stadt glänzten, und die Kreuze auf den Turmspitzen des Doms funkelten in der Sonne. Ob es noch ein schöneres Fleckchen Erde als dieses hier gab? Simon konnte es sich nicht vorstellen.

Die Wachen ließen ihn durch, nachdem er ihnen die Brotkörbe gezeigt hatte. Er war nicht der Einzige, der Waren brachte. Weinhändler, Bierwagen, Jäger mit kürzlich erlegtem Wild, Metzgerkarren beladen mit deftigen Würsten und gepökeltem oder geräuchertem Fleisch. Fürstbischof Echter ließ es seinen Gästen an nichts fehlen, obwohl er bekannt dafür war, sich selbst meist zu kasteien. Julius Echter kniete lieber vor einem Altar, betete, um die Dämonen der Versuchungen zu vertreiben.

Eine lange Wagenschlange hatte sich im Innenhof gebildet. In der lauen Frühlingsluft wartete jeder geduldig darauf, dass seine Waren Gnade vor den Augen des Hofmeisters fanden. Simon lehnte sich an den Karren, schloss schläfrig die Lider und dachte an Julia. Vor seinem inneren Auge erschien ihr von dunklen Locken umrahmtes Gesicht, und sie lächelte ihm zu.

»Junge, lass sehen, was du hast«, riss ihn die schnarrende Stimme des Hofmeisters aus seinem Tagtraum.

»Ja, Herr«, antwortete Simon und schlug eilig das große Leinentuch zurück, unter welchem sich die Körbe mit den Broten befanden.

Der Hofmeister nahm eines der Brote heraus, befühlte die Kruste und roch daran. Zufrieden nickte er und legte den Laib auf eine Waage. Die römische Schnellwaage pendelte im Lot. Genau ein Pfund. Der Mann nahm noch drei weitere Brote aus den verschiedenen Körben, alle hielten der Prüfung stand.

»Stell dich dort drüben an«, er wies mit dem Kinn auf eine weitere Schlange, »die Knechte werden abladen, und der Kämmerer zahlt dich aus.«

Simon nahm die Zügel und führte seine Esel in die angegebene Richtung. Hinter ihm hörte er den Hofmeister aufstöhnen.

»Glaubst du, Eure Exzellenz duldet, dass dieses Fleisch aufgetischt wird? Das ist gerade gut genug für die Hunde!«

»Aber Herr, mein Meister …«

Der Rest ging im Stimmengewirr unter, als Simon sich weiter vom Hofmeister entfernte. Er musste nicht lange warten, denn die Knechte arbeiteten schnell und entluden die Karren in Windeseile. Der Kämmerer saß hinter einem Tisch, vor ihm eine Liste, auf der er akribisch alles aufzeichnete.

»Der Nächste.«

Kurz sah der Mann mit dem Spitzbart hoch.

»Was bringst du?«

»Zwanzig Brotlaibe, Herr.«

»Wer ist dein Meister?«

»Melchior Bernbeck, Herr.«

Der Mann tauchte die Feder in das Tintenfässchen und schrieb eine weitere Zeile auf den Bogen Papier. Dann öffnete er ein Kästchen und fischte einige Münzen hervor, die er Simon vorzählte.

»… neununddreißig, vierzig.«

Simon nahm die Pfennige und verstaute sie in einem kleinen Lederbeutel, den er am Gürtel trug.

»Danke, Herr.«

Der Kämmerer brummte und bedeutete Simon, Platz für den Mann hinter ihm zu machen. Das Geld klimperte im Beutel, als er die Esel mit dem Karren durchs Tor führte.

»So, ihr beiden Hübschen, auf geht’s zu Julia«, frohlockte Simon und stellte sich das hübsche Gesicht der Apothekertochter vor. Bestimmt würde sie sich über sein Geschenk freuen und sein Gebäck gebührend loben. Plötzlich fiel es ihm ein. Verdammt, der süße Zopf war in einem der Brotkörbe verstaut gewesen! Er musste umkehren und versuchen, den Leinenbeutel wiederzubekommen. Doch die Esel stellten sich stur und wollten nicht wieder den steilen Berg hinauf.

»Nun kommt schon, bitte, ich verspreche euch einen großen Haufen Heu«, bettelte er und zog an den Zügeln. Doch Betteln und Drohen half nichts, ebenso wenig wie ein Hieb mit dem Stock, den er dem linken Esel versetzte. Das Einzige, was er damit bewirkte, war, sich den Unmut des Tieres zuzuziehen, denn es legte die langen Ohren an.

Verzweifelt seufzte Simon auf. »Es tut mir leid, das hätte ich nicht tun sollen, aber ich muss wieder zur Burg«, redete er auf die Tiere ein.

»Junge, mach den Weg frei«, dröhnte es hinter ihm.

Ein großer Bierwagen, gezogen von zwei mächtigen Braunen, näherte sich. Simon blieb nichts anderes übrig, als seinen Weg nach unten fortzusetzen, denn es gab nicht genügend Platz, damit das Fuhrwerk an ihm vorbeiziehen konnte. Bergab war genau im Sinne der Esel, und zügig schritten sie aus. Simon bildete sich ein, ein spöttisches Grinsen auf ihren Gesichtern zu sehen.

Nachdem sein Geschenk für Julia auf der Burg geblieben war, verzichtete er auf einen Besuch und kehrte nach Hause zurück. Als er die Esel ausgeschirrt und versorgt hatte, stapfte er in die Küche. Den Münzbeutel knöpfte er vom Gürtel und legte ihn auf einen Mauervorsprung am Fenster. Später würde er das Geld Bernbeck geben. Doch jetzt musste er seinen hungrigen Magen beruhigen. Er fand einen Käse, von dem er großzügig abschnitt und ihn zusammen mit einem Kanten Brot in sich hineinschlang. Erst jetzt fiel ihm auf, wie eigenartig still es war. Sollten alle bereits zu den Maifeierlichkeiten aufgebrochen sein? Selbst Berta war nirgends zu sehen.

Simon stieg die Treppe nach oben.

»Mutter?«

Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie mit zur Feier gegangen war. Gestern war ihr noch sterbenselend gewesen.

»Mutter?«, rief er erneut und blieb vor der Tür ihrer Schlafkammer stehen.

Das Ohr an die Tür gelegt, lauschte er für einen Augenblick, klopfte. Nichts. Gerade wollte er sich wegdrehen, als ein leises Stöhnen an sein Ohr drang. Simon drückte die Tür auf und betrat das Zimmer, wobei er beinahe über die am Boden liegende Gestalt gestolpert wäre. Seine Mutter lag mit bleichem Gesicht auf dem Rücken, die Augen geschlossen, auf ihrem weißen Nachtgewand hatte sich im Schoß ein großer Fleck gebildet. Unter ihr hatte sich eine dunkel schimmernde Lache ausgebreitet. Blutgeruch stieg in Simons Nase.

»Heiliger Vater im Himmel!«, entfuhr es Simon. »Mutter, kannst du mich hören?«

Sanft tätschelte er ihre Wange, doch Anna Reber zeigte keine Regung. Behutsam schob Simon die Hand unter ihren Nacken, versuchte, seine Mutter aufzurichten. Sie stöhnte und ließ sich gegen seinen Körper sinken.

»Simon«, flüsterte sie, »ich habe das Kind verloren, geh und hol einen Priester. Schnell, eil dich! Ich will nicht ohne Beichte sterben.«

»Nein!«, stieß Simon erstickt hervor. »Ich helfe dir aufs Bett. Du musst dich nur ausruhen.«

Schwach bewegte sie den Kopf hin und her. »Ich war dir keine gute Mutter, mein Junge, nachdem ich Melchior geheiratet habe. Verzeih mir. Und jetzt geh!«

Langsam ließ er ihren Oberkörper zurücksinken, schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Dann hastete er aus der Kammer, stürzte die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter und rannte zur Marienkapelle. Heute hatte er keinen Blick für die prächtige Kirche, die er sonntags immer besuchte. Er stieß das südliche Portal auf, über das links und rechts in Stein gehauene Figuren wachten. Adam und Eva, geschaffen von einem der berühmtesten Männer Würzburgs, Tilman Riemenschneider. Wie oft hatte Gebhard seinem Sohn von dem Bildhauer erzählt und Simons Begeisterung für Schnitz- und Bildhauerarbeiten geweckt.

Fast wäre er mit dem Mann zusammengestoßen, den er suchte.

»Was fällt dir ein, Junge, ein Haus Gottes betritt man ehrfürchtig …«

»Hochwürden, verzeiht, meine Mutter …«, unterbrach Simon keuchend den Pfarrer.

Erst jetzt erkannte Pfarrer Magnus den aufgeregten Burschen, mit dessen Vater er oftmals über die Schönheit der Marienkapelle und auch der anderen gottgeweihten großartigen Bauten in dieser Stadt gesprochen hatte.

»Simon, Simon Reber, nicht wahr?«

»Ja, Hochwürden. Sie stirbt, bitte eilt Euch! Sie will nicht sterben, ohne gebeichtet zu haben«, schniefte Simon und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Warte hier, ich hole alles, was ich brauche, um die Sterbesakramente zu spenden.«

Wenig später folgte er eiligen Schrittes dem aufgelösten Jungen durch die Gassen.

Sie kamen zu spät. Anna Reber war, ohne ihre Sünden zu bekennen, von dieser Welt gegangen. Pfarrer Magnus half Simon, den Leichnam auf das Bett zu legen, faltete Annas Hände und besprengte ihren Körper mit Weihwasser, während Simon eine Kerze entzündete.

»Lass uns beten, Simon.«

Der Junge legte die Handflächen aneinander, kniete nieder und murmelte leise mit.

»… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen«, beendete der Pfarrer das Vaterunser. »Ich werde nun gehen und eine Seelnonne schicken, die den Leib deiner Mutter waschen wird.«

Simon nickte nur. Er war wie betäubt. So garstig war er zu ihr gewesen. Im Streit waren sie auseinandergegangen, und nun konnte er seine Mutter nicht mehr um Vergebung bitten. Das würde er sich nie verzeihen. Er setzte sich auf den Boden, die Arme auf den Knien verschränkt, vergrub sein Gesicht darin und weinte leise.

Als die Kirchturmglocken schlugen, erschien eine ältere Frau. Unter ihrem Skapulier trug sie eine hellbraune Tunika, ihren Kopf bedeckte eine Haube derselben Farbe. Simon hatte sie nicht einmal die Treppen hochkommen gehört. Sanft berührte die Seelnonne ihn an der Schulter.

»Steh auf, mein Junge.«

Mühsam stemmte sich Simon hoch, starrte die Frau mit vom Weinen geröteten Augen an.

»Geh, ich werde jetzt deine Mutter waschen«, sagte sie und schob ihn zur Tür.

Mit hängenden Schultern ging er die Treppe hinunter und über den Hof und fand Trost bei den Eseln. Eigentlich hätte er Melchior suchen müssen, um ihm von Annas Tod zu berichten, doch er fand nicht die Kraft dazu.

Ein Schrei weckte ihn auf. Es war bereits dunkel geworden, irgendwann musste er erschöpft eingeschlafen sein. Simon zupfte ein paar Strohhalme von seinen Kleidern und ging zum Haus.

»Simon«, brüllte Melchior. »Wo steckst du, du Faulpelz?«

»Hier.« Seine Stimme hörte sich eigenartig dünn an.

In der Backstube stand sein Stiefvater, die beiden Mädchen drängten sich weinend an ihn. Wulf lehnte am Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Was ist geschehen? Los, rede!«, herrschte Melchior ihn an.

Simon räusperte sich und sah zu Boden. »Sie hat ihre Leibesfrucht verloren. Als ich von der Burg kam, lag sie blutend auf dem Boden der Schlafkammer. Sie schickte mich nach einem Priester.«

»Hast du nicht daran gedacht, uns zu holen, damit wir Abschied nehmen können?« Melchiors Gesicht nahm eine ungesunde Röte an.

»Ich … als ich mit Pfarrer Magnus zurückkam, war es bereits zu spät, ich …«

Bernbeck verpasste ihm eine Ohrfeige. »Sie ist in Sünde gestorben? Das ist alles deine Schuld, du elender Nichtsnutz«, brüllte er und begann, auf Simon einzuprügeln, der die Arme schützend vor sein Gesicht riss.

»Vater, nicht, bitte!«, flehte Sibylla, und Barbara fiel weinend ein. »Bitte, hör auf.« Gemeinsam zerrten die Mädchen an Bernbecks Hemd.

Schwer atmend ließ der Bäckermeister von ihm ab. Simon nahm die Hände herunter und erhaschte Wulfs hämisches Grinsen.

»Geh mir aus den Augen, Simon«, presste Melchior hervor. »Wulf, morgen früh holst du den Totengräber, er soll die Leiche aus dem Haus schaffen.«

»Wollen wir nicht gemeinsam für ihre Seele beten und Totenwache halten?«, fragte Sibylla leise.

Simon war überrascht. Das Mädchen war meist still im Gegensatz zu seiner Schwester Barbara.

»Ja, kommt ihr Mädchen, Wulf, wir gehen nach oben.« Damit stellte Melchior klar, dass er Simon nicht dabeihaben wollte. »Ach, und bring mir das Geld, das du für die Brote bekommen hast.«

Simon blieb allein zurück. Es machte ihn sprachlos, dass Melchior den Nachbarn nicht einmal die Möglichkeit geben wollte, sich von Anna zu verabschieden. Normalerweise blieben die Toten nach ihrem Hinscheiden zwei bis drei Tage aufgebahrt im Haus, bevor der Totengräber sie mitnahm. Was war der Bäckermeister nur für ein Mensch?


Fürstbischof Julius aß wie immer wenig. Nur einen halben Teller Suppe, eine dünne Scheibe Braten mit etwas Brot und Gemüse. Innerlich rümpfte er die Nase über seine Gäste, die all die aufgetischten Köstlichkeiten nur so in sich hineinschlangen. Den meisten hätte es besser gestanden, sich zurückzuhalten. Ohnehin schoben sie bereits stattliche Bäuche vor sich her, und ihre geröteten Nasen und geäderten Wangen zeugten von übermäßigem Weingenuss.

»Sobald die Bestätigungen aus Rom und Prag eingegangen sind, werde ich der Universität Würzburg neues Leben einhauchen«, sagte er zu seinem Nachfolger im Amt des Domdekans, der zu seiner Linken saß. »Die Gesandten werden dieses Anliegen beim Papst und beim Kaiser vorbringen.«

»Ein Vorhaben, das ich jederzeit unterstütze, Exzellenz«, antwortete Neidhart von Thüngen. »Zu lange warten die Würzburger darauf. Eine Universität ist ein leuchtender Stern für eine Stadt, nicht nur, dass sie Gelehrte aus vielen Ländern anzieht, nein, sie bietet auch Arbeit für viele Menschen.«

Julius Echter nickte und griff nach seinem Weinglas, ein fein geschliffenes Stück Arbeit aus der Innsbrucker Hofglashütte.

»Einhundertfünfundsiebzig Jahre sind wahrlich eine lange Zeit. Doch dieses Mal wird es gelingen. Ich habe noch einige Pläne, um das Leben der Menschen im Hochstift Würzburg zu verbessern und zu verändern.«

Zu oft hatte Julius Echter bei seinen Gängen durch die Stadt erschüttert feststellen müssen, wie viele Arme keine Versorgung erhielten und wie viele sterbend in den Gassen lagen. Das musste geändert werden, und er, Fürstbischof, der er nun war, ausgestattet mit Geld und Macht, saß an der richtigen Stelle, um dies zum Guten zu wenden.

Diener brachten die Nachspeisen. Süße Krapfen, mit Honig glasierte Äpfel der letzten Ernte aus den Fruchtkellern der Stadt, frische Feigen, Mandeltopfen, Küchlein mit Ingwer und Anis. Johann Voit von Rieneck, der Neffe eines Domherrn, besaß die Ehre, dem Fürstbischof aufzuwarten.

»Eure Exzellenz, dieses Gebäck scheint der Bäcker nur für Euch gefertigt zu haben. Es gibt kein Weiteres seiner Art und ein ›J‹ ziert seine Mitte.«

Voit von Rieneck stellte eine Platte vor den Fürstbischof, der erstaunt auf das ungewöhnliche Backwerk starrte. Tatsächlich waren die Rosinen zu einem Buchstaben geformt worden. ›J‹ wie Julius.

»Seid so gut und schneidet mir ein Stück davon ab«, bat Echter.

Es schmeckte wundervoll. Die Rosinen und die Nussfüllung hatten das süße Brot frisch und feucht gehalten. Julius aß ganz gegen seine Art drei weitere dünne Scheiben davon. Süßgebäck war das Einzige, dem er frönte, wenn er es sich auch eher selten gestattete. Was für ein schöner Einfall des Bäckers, ihm ein Gebäck zu widmen. In seinem Herzen erwachte eine Kindheitserinnerung: Seelenbrot. Ja, dieses Backwerk schmeckte wie Christina Alberdinens Seelenbrot.

*

Wieder starrte Simon in ein offenes Grab und hielt die Hand seiner Schwester. Barbara presste die dünnen Lippen aufeinander und kämpfte mit den Tränen. Neben ihm standen Melchior, Wulf und Sibylla Bernbeck, die Hände gefaltet, die Köpfe andächtig gesenkt. Simon nahm den beiden Männern ihre zur Schau gestellte Trauer nicht ab, nur Sibylla schien ehrlich betrübt. Während er der Predigt lauschte, fragte er sich, was die Zukunft für Barbara und ihn bereithalten mochte.

Der Leichenschmaus fand wieder im ›Stachel‹ statt. Die Zunftmitglieder und Nachbarn sprachen tröstende Worte, bevor sie sich an Speisen und Wein gütlich taten. Schnell war der Anlass ihres Hierseins vergessen, und man widmete sich den Alltagsdingen. Der Tod war ein ständiger Begleiter. Jeden Tag starben Menschen, alt oder jung, reich oder arm.

Auch Julia war mit ihren Eltern zum Begräbnis gekommen, was Simon tief berührt hatte. Sehnsüchtig schielte er immer wieder hinüber zu dem Tisch, an dem der Apotheker mit seiner Familie saß, doch er traute sich nicht, aufzustehen und hinüberzugehen. Julia schenkte ihm ein Lächeln, welches sein Herz schneller schlagen ließ. Wie hübsch sie aussah mit den hellblauen Bändern im Haar. Gerade als er all seinen Mut zusammengenommen hatte, um sich zu der Apothekerfamilie zu setzen, schob Wulf neben ihm plötzlich seinen Stuhl zurück und schlenderte seinerseits zum Tisch der Sterzings. Simon konnte nicht hören, was er sagte, doch Wulf wurde eingeladen, sich dazuzusetzen. Als er sich neben Julia niederließ und diese ihm scheu zulächelte, brannte Simons Innerstes, als hätte er flüssiges Blei getrunken.

»Was starrst du denn immerzu dort hin?«, flüsterte Barbara zu seiner Rechten und pikte ihm mit dem Zeigefinger in die Rippen.

»Tu ich nicht.«

»Doch.«

»Das bildest du dir ein.«

»Nein. Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du wärst gerne an Wulfs Stelle, nicht wahr?«

Gott im Himmel, war es wirklich so offensichtlich, dass sogar seine neunjährige Schwester es bemerkte?

»Ich muss nach draußen«, antwortete Simon.

Er lief die Gassen entlang, erleichterte sich an einer Ecke und versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden. Seine Füße trugen ihn quer durch die Stadt und zur Marienkapelle. Vor dem Westportal blieb er stehen, sah hinauf zur Statue der Jungfrau Maria, die auf dem Mittelpfeiler thronte und das Jesuskind im Arm hielt.

»Heilige Mutter Gottes, sag mir, was ich tun soll. Am liebsten möchte ich von hier fortlaufen«, sprach er leise zu der steinernen Figur. Doch er erhielt keine Antwort.

*

Eine Woche nach Anna Rebers Begräbnis kam Wulf grinsend in die Backstube.

»Heute Abend bekommen wir Besuch. Möchtest du raten, wen Vater eingeladen hat?« Er erwartete keine Antwort und fuhr fort: »Apotheker Sterzing mit seiner Frau und seiner Tochter. Vater hat Berta einen fetten Schweinebraten besorgen lassen, damit es ein Festessen wird. Julia und ich haben übrigens viel getanzt bei den Maifeierlichkeiten. Einen Kuss vermochte ich ihr gar zu rauben, und es wird sich schon bald eine weitere Gelegenheit bieten, da bin ich mir sicher.«

»Dein Vater scheint ja sehr um meine Mutter zu trauern«, entgegnete Simon verächtlich und zwang sich, ruhig zu bleiben, »wenn er, kaum dass die Trauerzeit begonnen hat, sich Leute ins Haus lädt.«

Wulf trat drohend einen Schritt näher. »Was willst du damit sagen?«

»Das weißt du ganz genau. Melchior und dir ist Mutters Tod doch gleich.«

Ein Stoß vor die Brust ließ ihn zurücktaumeln.

»Mein Vater leidet. Es ist nur gut für ihn, wenn etwas Leben ins Haus kommt und er für wenige Stunden abgelenkt ist. Er hat einen Sohn verloren und ich einen Bruder, als Anna starb«, spie Wulf aus. Speicheltröpfchen landeten auf Simons Gesicht, die er sich angeekelt mit dem Hemdärmel abwischte.

»Woher willst du wissen, dass das Kind ein Junge geworden wäre? Aber wie dem auch sei, dein Vater hat eine eigenartige Weise, seine Trauer zu zeigen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich heute in aller Frühe die Schankmagd vom ›Stachel‹ sich aus dem Haus schleichen sah. Oder war sie etwa in deinem Bett?«

Wulf starrte ihn verblüfft an. Offenbar hatte er davon nichts gewusst, und das hehre Bild, das er von seinem Vater pflegte, schien einen ersten Riss zu bekommen.

»D… das ist eine Lüge.«

Simon zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Sie hatte nicht einmal ihr Kleid anständig verschnürt, ich konnte einen Blick auf ihre weißen dicken Brüste werfen. Aber anstatt hier herumzustehen, könntest du besser arbeiten. Die Wecken müssen noch gemacht werden.«

Plötzlich stand Melchior Bernbeck wie aus dem Boden gestampft in der Tür zur Backstube.

»Du erteilst meinem Sohn keine Befehle! Was fällt dir ein? Geh in den Hof! Der Eselmist muss weggefahren werden, der Haufen ist schon wieder viel zu groß.«

»Ich bin Bäckerlehrling und kein Knecht«, entfuhr es Simon. »Was ist mit Matthes, dem Dummen, der den Mist sonst abholt?«

Matthes war der einfältige, aber herzensgute Sohn eines Bauern, der regelmäßig in die Stadt kam, um den Mist wegzuschaffen und ihn auf den Feldern auszubringen. So verdiente er sich ein paar wenige Pfennige, und die Besitzer der Tiere oder der Mietställe waren froh, die Arbeit nicht selbst verrichten zu müssen.

»Ich will, dass der Hof heute noch sauber gemacht wird. Wer weiß, wann Matthes wiederauftaucht. Also, scher dich hinaus und kümmere dich um den Mist.«

Simon öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Bernbeck packte ihn bereits am Kragen und schüttelte ihn.

»Wag es nicht. Du tust, was ich sage. Bisher hat deine Mutter dich immer in Schutz genommen, doch das ist nun vorbei«, drohte er.

Simon konnte den schalen Weindunst riechen, den der Bäckermeister noch immer ausströmte. Er fragte, sich, wann und wie ihn seine Mutter denn je vor Melchior in Schutz genommen hatte, doch er fand keine Antwort darauf. Allerdings war er sicher, dass er künftig mit mehr Prügel zu rechnen hatte.

Gerade rechtzeitig war Simon mit der Arbeit fertig geworden, um sich Gesicht und Hände zu waschen und saubere Kleidung anzulegen, bevor die Sterzings erschienen. Mit einem grobzinkigen Kamm fuhr er sich durch seine dichten blonden Haare, die er von seinem Vater geerbt hatte. Ein verführerischer Duft drang durch das Haus. Berta hatte sich mit ihren Kochkünsten offenbar selbst übertroffen. Simon lief das Wasser im Munde zusammen. Er hastete in die an die Küche grenzende Stube, wo Barbara und Sibylla den Tisch gedeckt hatten. Die Mädchen hatten sich redlich Mühe gegeben. Ein weißes Leinentuch, Teller und Becher standen bereit und in den Leuchtern steckten neue Kerzen. Sogar Blumen hatten die beiden gepflückt und die Stängel ineinander verwoben, sodass eine Kette aus Gänseblümchen und Primeln entstanden war, die die Tischmitte zierte. Der Boden war frisch gefegt, und der mit grünen Reliefkacheln verzierte Ofen strahlte eine wohltuende Wärme aus.

»Das sieht schön aus«, lobte Simon und erntete dafür strahlende Gesichter.

»Hilfst du uns, die Kerzen zu entzünden?«, fragte Sibylla.

Simon nickte und ging in die Küche, um einen Kienspan zu holen. Dort legte Berta letzte Hand an das Gemüse. Möhren, Zwiebeln und Mairübchen. Über dem Feuer köchelte ein großer Topf Suppe vor sich hin. Simons Augen blieben an einer gusseisernen, mit einem Deckel verschlossenen Pfanne auf der Herdstelle hängen. Er wollte gerade den Deckel lüften, als Bertas Stimme ihn innehalten ließ.

»Untersteh dich! Außerdem würdest du dir die Finger verbrennen.« Die Magd schnappte sich ein Tuch und hob augenzwinkernd den Deckel, um Simon einen Blick auf die Schweinebratenstücke werfen zu lassen, die in einer dunklen Biersoße schwammen. »Nimm dir ein Stück Brot, Junge.« Berta hatte ihn schon immer gemocht.

Simon tunkte Brot in die Soße und ließ es genießerisch zwischen seinen Lippen verschwinden.

»Hmmm, wunderbar. Brauchst du noch Hilfe?«

»Nein, nein, das schaffe ich schon. Nun geh, ich hab noch zu tun«, sagte sie und scheuchte ihn hinaus.

Simon saß zwischen seiner Schwester und Sibylla, ihnen gegenüber Wulf, Julia und ihre Mutter, an den beiden Tischenden hatten der Apotheker und Melchior Platz genommen. Das Tischgespräch führten die beiden Männer, während die Übrigen sich wortlos Suppe, Fleisch und Gemüse munden ließen. Ab und an trafen sich Simons und Julias Blicke für nur einen Lidschlag lang, und jedes Mal durchzuckte Simon ein wohliger Schauer. Schon den ganzen Tag über fragte er sich, warum sein Stiefvater die Familie Sterzing eingeladen hatte, doch er fand keine Erklärung.

»Nun, da meine liebe Frau verstorben ist, müssen die Mädchen mehr mithelfen«, sagte Bernbeck gerade. »Sie sind alt genug, um Berta zur Hand zu gehen. Je früher sie lernen, wie man einen Haushalt führt, desto besser.«

Teresa Sterzing nickte zustimmend.

»Julia musste auch schon früh mit anpacken. Jetzt ist sie fünfzehn und weiß, worauf es in einem Haushalt ankommt.«

Melchior Bernbeck atmete tief durch.

»Nun, da Ihr die Apotheke erwähnt. Mein Sohn Wulf hat den Wunsch geäußert, nicht in meine Fußstapfen treten zu wollen. Was mich einerseits betrübt, andererseits möchte ich seiner Zukunft nicht im Wege stehen.«

Konrad Sterzing lachte leise.

»Guter Meister Bernbeck, sicher wisst Ihr, dass Wulf bereits mit mir gesprochen hat. Ich habe über sein Ansinnen nachgedacht. Euer Sohn ist ein ausgesprochen höflicher junger Mann und nicht auf den Kopf gefallen. Allerdings gibt es sehr viele Dinge, die er zu lernen hat, um sich einmal Apotheker nennen zu können.«

Simon blieb das Stück Fleisch, das er gerade hinunterschlucken wollte, beinahe im Hals stecken. Wulf möchte Apotheker werden? Wenn er dafür so viel Ehrgeiz an den Tag legt wie in der Backstube, sterben die Leute wie die Fliegen, wenn er die Arzneien nicht richtig abwiegt. Und von ›höflich‹ kann nicht die Rede sein.

»Ich bin bereit, Tag und Nacht zu lernen«, beeilte sich Wulf zu sagen. »Ich bitte Euch, verehrter Apotheker, mir die Möglichkeit zu geben, Euch zu überzeugen.«

»Nun, Wulf, wie ist es bei dir mit Lesen, Schreiben und Rechnen bestellt? Und Latein? Beherrschst du Latein?«

»Ego … dabo … meum optimum«, erwiderte Wulf zögernd und sah Sterzing erwartungsvoll an.

Dieser lachte dröhnend. »Du wirst dein Bestes geben. Ich sehe, dir ist es ernst. Gut, du sollst die Gelegenheit bekommen und bei mir anfangen. Nach einem Jahr werden wir weitersehen.«

Wulfs Gesicht leuchtete freudig auf. »Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich … Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen soll«, stammelte er.

Simon wurde beinahe übel, als er sich vorstellte, wie Wulf täglich Julia beäugen konnte.

»Dann ist es beschlossene Sache?«, wandte sich Konrad Sterzing an Melchior.

»In der Backstube wird mir mein Sohn sehr fehlen, geschickt und fleißig, wie er ist. All die Arbeit nur mit einem Lehrjungen zu bewältigen wird schwer«, erwiderte der Bäckermeister seufzend.

Unwillkürlich stieß Simon einen verächtlichen Laut aus, und alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Simon, du scheinst anderer Meinung zu sein«, sagte der Apotheker und zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Seine Meinung ist nicht von Belang«, fauchte Wulf. »Er ist nur neidisch und gönnt mir nichts. Seit er hier aufgetaucht ist, macht er mir das Leben schwer.«

Wütend stand Simon auf, die Hände auf den Tisch gestützt, neigte er sich nach vorn.

»Elender Lügner! Du bist faul und taugst zu nichts. Wie oft schon habe ich deine Fehler ausmerzen müssen.«

»Raus!«, donnerte Melchior. »Auf der Stelle! Wie kannst du es wagen, so über Wulf zu reden.«

Simon zuckte mit den Schultern. »Weil es die Wahrheit ist, und du weißt es.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt, stürmte aus der Stube und ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen.

*

»Wulf? Wieso soll er in der Apotheke lernen?«, wagte Julia ihren Vater zu fragen, als sie nach Hause kamen.

Sie war entsetzt gewesen, hatte kaum ihren Schrecken verbergen können. Schon beim Leichenschmaus nach der Beerdigung von Simons Mutter war ihr Wulf unangenehm aufgefallen. Seine schmalen, eng stehenden Augen hatten sie gemustert, als wäre sie ein Pferd, das er zu kaufen gedachte. Einmal hatte er es sogar gewagt, unter dem Tisch ihr Knie zu berühren.

»Julia, ich brauche irgendwann einen Nachfolger in der Apotheke. Wulf ist jung und nicht glücklich damit, sein Leben als Bäcker zu verbringen. Das hat er mir gestanden. Er lernt eifrig Latein, und das zeigt mir, es waren nicht nur leere Worte, als er mich gebeten hat, ihn anzunehmen.«

»Ich mag ihn nicht«, erwiderte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Schluss damit, Julia. Wulf wird hier ausgebildet, ob es dir gefällt oder nicht. Er wird mit uns essen, aber schlafen wird er zu Hause, weil er keinen weiten Weg hat. Und du wirst dich benehmen und nett zu ihm sein.«

»Aber …«

»Julia, lass gut sein«, warnte ihre Mutter, »vielleicht lernst du ja, Wulf zu mögen, wenn du ihn besser kennenlernst. Er ist bestimmt kein schlechter Kerl.«

»Kann nicht Simon anstelle von Wulf zu uns kommen?«

Konrad Sterzing wechselte einen schnellen Blick mit seiner Frau und rollte die Augen. »Geh zu Bett, Julia, ich will nichts mehr davon hören.«

Spät in der Nacht wurde Simon plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Melchior packte ihn an den Haaren und schleuderte ihn gegen die Wand. Bevor Simon sich aufrappeln konnte, war der Bäckermeister über ihm und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er hörte seine Nase krachen, Blut schoss heraus. Ein Schlag in den Bauch ließ ihn sich zusammenkrümmen, gefolgt von einem Tritt in die Nieren. Ein lauter Schrei entfuhr ihm, und die Esel begannen, unruhig zu wiehern. Weitere Schläge und Tritte hagelten auf ihn ein. Melchior Bernbeck war rasend vor Zorn.

»Merk dir ein für alle Mal: Nie wieder wirst du dich in meinem Haus so benehmen!«

Er schlägt mich tot, fuhr es Simon durch Kopf.

Der nächste Hieb ließ alles schwarz werden.

Wie lange er besinnungslos gewesen war, vermochte er nicht zu sagen, als er langsam wieder zu sich kam. Durch die Ritzen der Stalltür konnte er fahles Licht erkennen. Er erinnerte sich, dass Vollmond war. Mühsam wollte er sich aufrichten, doch sein Schädel schien bei jeder Bewegung zerplatzen zu wollen, und jede Handbreit seines Körpers schrie vor Schmerz. Stöhnend blieb er liegen. Selbst das Atmen tat weh, vermutlich hatte Bernbeck ihm eine Rippe gebrochen. Auch sein Sehvermögen war beeinträchtigt, das linke Auge war zugeschwollen. Ganz vorsichtig hob er die rechte Hand und fasste an seine Nase, spürte ihre Schiefe unter seinen tastenden Fingern. Simon schloss die Augen, nahm seine Nase zwischen die gekrümmten Zeige- und Mittelfinger. Mit einem beherzten Ruck richtete er das gebrochene Nasenbein und unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Seine Gedanken schwirrten. Keinen Tag wollte er hier länger bleiben. Aber was sollte er tun? Er könnte die Zunft anrufen. Meister Schlichting mochte ihn. Bestimmt würde er ihm helfen, eine andere Lehrstelle zu finden. Die Zunftordnung sah vor, dass bei übermäßiger Gewalt, zu langen Arbeitszeiten und Tätigkeiten, die mit der Ausbildung nichts zu tun hatten, ein Lehrling sich an das Schiedsgericht wenden konnte.

»Bernbeck hat mich übel zugerichtet, und ich schufte jeden Tag zu lange. Zudem lässt er mich andere Arbeiten verrichten, wie sich um die Esel zu kümmern, nur weil er zu geizig ist, einen Knecht einzustellen. Nicht, dass ich die Esel nicht mag, aber all dies sollte ausreichen, von der Zunft einen anderen Lehrmeister zugeteilt zu bekommen«, überlegte Simon hoffnungsvoll.

Diese Aussicht verlieh ihm die Stärke, sich trotz der Pein aufzurichten. Mit zitternden Beinen lehnte er an der Wand, hielt sich an einer Leiter fest, bis er sicher war, nicht umzufallen. Quälend langsam schlurfte er hinaus in den Hof, schöpfte Wasser aus dem Brunnen, kühlte sein Gesicht und machte sich in der aufziehenden Dämmerung auf zu Meister Schlichting.

Der Weg erschien ihm zweimal so lange wie sonst, doch schließlich erreichte er sein Ziel. Schlichting besaß ein stattliches dreigeschossiges Haus, die große Tür zur Backstube im Erdgeschoss stand offen. Für einen Augenblick lauschte Simon den Gesellen, die ein Lied angestimmt hatten.

»Uns vor allem auf der Welt,

das Bäckerhandwerk gut gefällt,

knet den Teig auf rechte Weise,

so erhält man gute Speise …«

So ging es also in einer Backstube zu. Gut gelaunte, fröhliche Menschen, die ihre Arbeit liebten und offenbar gerne zusammenarbeiteten. Wie anders war es doch bei Bernbeck. Simon pochte an die offen stehende Tür und machte einen Schritt in die warme, nach frischem Brot duftende Backstube.

»Grüßt euch Gott«, sagte er laut.

Die Gesellen sahen zur Tür, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Einer knetete zwei Laibe auf einmal, der andere streute Mehl darüber, ritzte mit einem Messer die Oberfläche ein und schoss die Brote in den Ofen. Simon war beeindruckt, wie die beiden Hand in Hand arbeiteten.

»Was willst du, Junge?«, brummte der bärtige Mann am Ofen über die Schulter gewandt. Argwöhnisch betrachtete er die dunklen Blutflecken auf Simons Hemd. »Hungerleider sind nicht willkommen, geh und bettle woanders.«

»Ich bin kein Bettler«, erwiderte Simon, »ich bin ein Lehrjunge und suche Meister Schlichting.«

Die letzten Laibe wanderten in den Ofen, und die Männer wischten sich ihre bemehlten Hände an ihren Schürzen ab.

»Der Zunftmeister ist auf dem Weg zum Stadtrat«, gab der Bärtige Auskunft.

»Was willst du von Schlichting?«, fragte der andere, ein hagerer Mann mit einer wulstigen Narbe im Gesicht, und musterte ihn neugierig.

»Das kann ich nur dem Meister selbst sagen.« Simons Beine begannen zu zittern. Der Weg hierher hatte ihm einiges abverlangt.

»Er fällt uns gleich um, Karl«, warnte der Hagere und ging zur Tür, um Simon zu stützen.

Als er ihm den rechten Arm um die Körpermitte legte, stöhnte Simon auf.

»Ich glaube, eine Rippe ist gebrochen«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

»Was prügelst du dich auch. Es gehört sich nicht für einen Lehrjungen. Und überhaupt, wo ist deine Schürze? Du weißt wohl, dass du ohne sie nicht aus dem Haus gehen sollst«, schimpfte der Bärtige.

»Lass ihn, Karl, ich habe so eine Ahnung, warum er zum Meister will. Setz dich hierhin, Junge.« Sanft ließ er Simon auf die gemauerte Bank an der Wand gleiten.

»Sei bedankt. Ich heiße übrigens Simon. Simon Reber.«

»Ich bin der Lois. Was ist mit deinem Gesicht geschehen, du siehst ziemlich schaurig aus.«

»Was schon? Er wird sich mit anderen gerauft haben«, fuhr Karl dazwischen und begann, kleine runde Wecken aus Roggenteig zu formen.

»Mein Meister …«, sagte Simon leise und schluckte.

»Dein Meister hat dir das angetan?« Lois pfiff leise durch die Zähne. »Hab ich’s mir doch gedacht. Siehst du, Karl?«

»Ein paar Ohrfeigen haben noch keinem geschadet, wer weiß, was er ausgefressen hat.«

»Das waren wohl nicht nur ein paar Ohrfeigen. Diese Narbe hier«, wandte er sich an Simon und zeigte auf den dicken roten Wulst, der sich von seinem Unterlid bis zum Kinn zog, »hat mir einst mein Lehrmeister verpasst. Er war sturzbetrunken und behauptete, ich hätte ihn bestohlen. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und ist auf mich losgegangen.«

»Du hast Glück gehabt«, antwortete Simon. »Wann wird Meister Schlichting zurück sein?«

»Ich weiß nicht. Geh nach Hause und komm morgen wieder.«

»Kann ich nicht hierbleiben?«, flüsterte Simon, dem angst und bange wurde, wenn er nur daran dachte, zurückzugehen.

Lois schüttelte bedauernd den Kopf, und Simon erhob sich ächzend.

»Hier, nimm, du hast heute sicher noch nichts gegessen.«

Dankbar nahm Simon das Stück Brot entgegen, schenkte dem Gesellen ein trauriges Lächeln und verschwand.

Seine Füße trugen ihn zur Lilien-Apotheke. Vielleicht würde ihm Sterzing helfen, schließlich war dieser einer seiner Bürgen. Auf keinen Fall konnte er zurück zu Bernbeck.

Als er scheu den Laden betrat, befanden sich bereits eine Frau und ein Mann in der Offizin. Konrad Sterzing war mit beiden ins Gespräch vertieft und bemerkte den Neuankömmling nicht. Simon verzog sich in eine Ecke, hielt den Kopf gesenkt und lauschte dem Apotheker.

»Aquae vitae sind gesund und dienen der Verdauung. Nach dem Essen trinkt Ihr einen Schluck und werdet spüren, wie Euer Magen leichter wird. Zu viel auf einmal solltet Ihr aber nicht davon genießen.«

Das Ehepaar entschied sich für einen nach Kräutern schmeckenden Trank, bezahlte und verließ mit einem herzlichen »Ad Deum« die Apotheke. Simon war erstaunt, meist sagten die Leute nur noch ›Ade‹, kaum einer machte sich die Mühe, den Gruß ganz auszusprechen.

Scheu trat er auf Konrad Sterzing zu, der mit dem Rücken zu ihm gewandt hinter dem großen Tisch stand und seine Finger suchend über die Keramikgefäße im Regal gleiten ließ.

»Grüßt Euch Gott, Herr Apotheker«, brachte er trotz seines plötzlich trockenen Mundes hervor.

Sterzing drehte sich um und starrte ihn an, verblüfft und mitleidig zugleich, als er Simons geschwollenes Auge und der Blutspuren im Gesicht gewahr wurde. Doch dann verwandelte sich seine Miene. Die Augenbrauen waren so zusammengezogen, dass sie sich beinahe berührten, sein Mund glich einem dünnen Strich. Sterzing war zornig.

»Was willst du? Reicht es nicht, dass du deine Familie beleidigt hast? Für mich und die meinen war dein Verhalten beschämend.«

»Ich … ich«, Simon schluckte, »ich wollte Euch als meinen Bürgen um Hilfe bitten. Aber ich merke schon, es ist vergebens.«

»Melchior hat dich büßen lassen, weil du unverschämt warst. Und du hast die Tracht Prügel verdient. Leiste Abbitte bei deinem Stiefvater und Lehrmeister, das ist die einzige Hilfe, die ich dir geben werde.«

»Aber …«

»Vater, Mutter schickt mich, sie …«

Plötzlich erschien Julia in der Offizin, die Locken flossen über ihre schmalen Schultern, und ihre dunklen Augen wurden noch größer, als sie Simon erblickte.

»Oh, du bist es«, freute sie sich.

Simon hatte schnell den Kopf gesenkt, damit sie die Spuren, die Melchiors Schläge hinterlassen hatten, nicht sehen konnte.

»Julia, geh und sag deiner Mutter, ich bin gleich bei ihr. Und du«, wandte sich Sterzing an Simon, »verschwinde und tu, was ich dir geraten habe.«

Julia sah von einem zum anderen und rührte sich nicht. »Was geht hier vor?«

»Hast du nicht gehört, Julia, geh! Dasselbe gilt auch für dich, Simon.«

Sterzing riss die Tür auf und deutete mit dem Zeigefinger hinaus auf die Straße.

Er war noch nicht weit gekommen, als er Julia rufen hörte.

»Simon, warte!«

Die dunklen Locken wippten auf ihren Schultern, als sie eiligen Schrittes näher kam.

»Mein Vater wollte mir nichts sagen, also habe ich mich davongestohlen. Was ist mit deinem Gesicht geschehen? Tut es sehr weh?«, sprudelte es aus ihr heraus.

Sie hat das blaue Auge vorhin doch bemerkt, dachte Simon.

»Bernbeck hat mich halb totgeschlagen, weil ich es gewagt habe, die Wahrheit über seinen lausigen Sohn auszusprechen. Das ist geschehen.«

»Ich glaube dir, was du über Wulf gesagt hast. Die Worte kamen so plötzlich, dass sie einfach die Wahrheit sein mussten. Ich mag Wulf nicht, er ist zwar freundlich, aber er mustert mich, als ob ich ein Stück Vieh auf dem Markt wäre.«

»Er sagt, ihr beide hättet sehr viel getanzt und er hätte dich geküsst …«

Sie winkte ab. »Einen Tanz. Und der Kuss ist gelogen. Du warst nicht da, und ich habe dich vermisst. Warum bist du den Feierlichkeiten ferngeblieben?«

Die dunklen Augen sahen ihn fragend an, und Simon glaubte sich in ihnen zu verlieren. Wie in tiefen ruhigen Seen.

»Wir hatten Streit, Wulf und ich. Nicht zum ersten Mal. Bernbeck kam dazu und hat mir befohlen, die Arbeit allein zu machen, und verboten, zur Feier zu gehen.«

Mitfühlend nahm sie seine Hand. Warm und tröstlich fühlte sie sich an. Es tat gut.

»Was hast du nun vor?«, fragte sie und strich sich eine Locke hinter ihr linkes Ohr.

»Ich werde den Zunftmeister anrufen, vielleicht kann er mir helfen. Er war nicht in seiner Backstube, der Geselle sagte, ich solle morgen wiederkommen.«

»Und bis dahin? Wo willst du bleiben? Du wirst doch sicher nicht nach Hause wollen.«

Immer noch hielt sie seine Hand, und er wünschte, sie würde nie wieder loslassen.

»Irgendwo werde ich ein Plätzchen zum Schlafen finden, gut, dass es nachts nicht mehr so kalt ist.«

Mit ihrer Linken zupfte sie an ihrer Unterlippe. Dann strahlte sie ihn plötzlich an. »Komm mit«, sagte sie. »Ich bringe dich auf unseren Dachboden, dort bewahren wir die Vorräte auf und trocknen die Kräuter.«

»Damit handelst du dir viel Ärger ein, Julia. Ich komme schon zurecht.«

»Das lass mal meine Sorge sein. Nun komm schon.« Sie packte seine Hand fester und zerrte ihn hinter sich her.

»Und wie sollen wir ungesehen an deinem Vater vorbeikommen?«, zischte er.

»Es gibt eine Außentreppe«, entgegnete sie augenzwinkernd.

Während Julia Simon ein behagliches Plätzchen in einer Nische auf dem nach Kräutern und Gewürzen duftenden Dachboden einrichtete, eilte Melchior Bernbeck durch die Gassen der Stadt. Sein Weg führte ihn am Ziehbrunnen vor dem Rathaus mit dem gewaltigen Grafeneckart vorbei. Der Turm beherbergte Glocken, die bei Sturm und Feuer geläutet wurden, um die Bürger zu warnen, und tief in seinem Inneren befand sich das Lochgefängnis. Im Wenzelsaal, im Seitenflügel des Turms, fanden die Ratsversammlungen statt, und just in dem Augenblick, als die Turmuhr elfmal schlug, öffnete sich die Tür. Die Ratsherren traten hinaus in die Sonne, lüpften die Hüte zum Abschiedsgruß und zerstreuten sich. Melchior entdeckte die gedrungene Gestalt des Zunftmeisters und rief: »Sebastian, das trifft sich gut, ich war auf dem Weg zu dir.«

Schlichting rückte seine Kopfbedeckung zurecht. »Was kann ich für dich tun?«

Bernbeck zog ein missmutiges Gesicht.

»Mein Lehrjunge ist wie vom Erdboden verschluckt. Dieser elende Bengel bringt mir nur Ärger ein.«

»Lass uns ein paar Schritte gehen, mir schmerzt der Rücken nach dem langen Sitzen auf den Ratsstühlen«, schlug der Zunftmeister vor. »Hast du eine Ahnung, warum er sich aus dem Staub gemacht hat?«

»Ich habe ihn bestraft, weil er Wulf vor meinen Gästen unmöglich gemacht hat. Einen Lügner und Taugenichts hat Simon ihn genannt. Es steht ihm nicht zu, über meinen Sohn so zu reden. Und dies auch noch vor anderen.«

Schlichting hob die Augenbrauen. »Und wegen einer Ohrfeige ist er abgehauen?«

»Zwei. Zwei Ohrfeigen«, Bernbeck grinste schief. »Ich wollte dir als Zunftmeister sein nicht hinnehmbares Verhalten anzeigen. Wenn er wiederauftaucht, wünsche ich, dass er aus der Zunft ausgeschlossen wird.«

Schlichting seufzte. »Ich nehme deine Anzeige zur Kenntnis, du weißt, die gesamte Zunft hat darüber zu entscheiden, nicht nur ich. Aber erzähl mir, was genau sich zugetragen hat.«

Zwischen all den Trockengestellen, Korbgefäßen, Krügen und Schränkchen mit Schubladen war Simon, den Kopf an einen Balken gelehnt, eingenickt. Plötzlich schrak er hoch, als er Schritte auf der knarrenden Holztreppe hörte, die zum Dachboden führte. Es gab keinen Schlupfwinkel, wo er sich hätte verstecken können, und so atmete er ganz flach und rührte sich nicht.

Teresa Sterzing kam auf den Dachboden, leise vor sich hinmurmelnd.

»Lavendel, Borago, was noch? Süßholz.«

Simon hörte, wie eine Schublade aufgezogen und wieder zugeschoben wurde, gefolgt vom leisen Rascheln getrockneter Kräuterbündel. Staub kitzelte seine Nase. Er hielt den Atem an. Der Schmerz in seiner rechten Seite nahm zu, dafür verschwand der Niesreiz. Simon schickte ein stummes Dankesgebet zum Himmel.

»Ah, bist du endlich in die Falle gegangen«, sagte Teresa, Befriedigung lag in ihrer Stimme. »Du warst eine schlaue Maus, aber nicht schlau genug. Dem vergifteten Speck konntest du dann doch nicht widerstehen.«

Julias Mutter öffnete das kleine Fenster im Giebel und warf das tote Nagetier hinaus. Mit Schwung schloss sie das Fenster, und der Luftzug wirbelte feinsten Kräuterstaub auf. Simon entfuhr ein kräftiges Niesen, sodass die Apothekerfrau mit einem spitzen Aufschrei herumfuhr.

»Heiliger Jesus!«, stieß sie hervor, als sie Simon erblickte. »Wie kommst du denn hierher?«

Simon kroch aus seiner Nische, krümmte sich erneut vor Schmerz und hielt sich die Seite.

»Julia hat mich hierhergebracht«, presste er hervor, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.

Teresa Sterzing krauste die Stirn, wartete stumm auf seine Erklärung.

»Ich war beim Zunftmeister, aber er war nicht da, und dann hatte ich gehofft, Euer verehrter Gatte, als mein Bürge, würde mir vielleicht helfen …«

»Helfen? Wobei?«

»Bitte, ich kann nicht mehr zurück. Bernbeck schlägt mich tot«, flehte Simon.

Teresa ließ sich seufzend auf eine Holzkiste sinken. »Er hat dich sicher so zugerichtet, weil du seinen Sohn vor aller Augen gedemütigt hast.« Sie erwartete keine Antwort. »Das hast du dir selbst eingebrockt.«

»Ich weiß, aber ich habe nur die Wahrheit gesagt. Wulf ist faul, und gewalttätig ist er auch. Wie sein Vater«, erwiderte Simon zerknirscht und lehnte sich vorsichtig an die Wand.

»Und was, denkst du, soll ich jetzt tun?«

»Ich werde verschwinden. Alles, um was ich Euch bitte, ist, vergesst, dass Ihr mich gesehen habt.«

»Unsinn. Wo willst du denn hin, und was glaubst du, wie weit du ohne Geld kommst? Nichts da, du bleibst hier, und ich versuche, eine Lösung zu finden.«

»Wirklich? Ihr wollt mir helfen?«

Teresa lächelte und deutete ein Kopfnicken an.

»Warum wollt Ihr das tun? Euer Gatte wird nicht begeistert sein.«

»Du bist ein guter Junge, Simon, und meine Tochter mag dich sehr. Und ich dich auch. Dein Bruder behagt mir nicht …«

»Stiefbruder. Wulf ist mein Stiefbruder.«

»Ja, dein Stiefbruder. Mir gefällt nicht, wie er Julia beäugt. Und wie er Konrad dazu gebracht hat, ihn als Apothekerlehrling anzunehmen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Zieh dein Hemd aus. Dass du Schmerzen hast, ist nicht zu übersehen.«

Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen zog Simon sich das Hemd über den Kopf und drehte ihr seine rechte Körperhälfte zu. Die Apothekerfrau stand auf und beäugte den dunklen rotblauen Fleck auf Simons Haut.

»Darf ich?«, fragte sie und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. »Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun. Jedenfalls nicht mehr, als du schon erdulden musst.«

Sanft tastete sie eine Rippe nach der anderen ab. Hörbar sog Simon die Luft zwischen den Zähnen ein, hielt aber still.

»Nur die Letzte ist wahrscheinlich gebrochen. Du kannst dich wieder anziehen. Arnikasalbe wird die Pein lindern. Ich werde später nach dir sehen und sie dir bringen«, sagte sie und wandte sich zur Tür.

»Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll«, stammelte Simon.

»Wer an seinem Nächsten vorübergeht, geht auch an Gott vorüber. Das hat einst Martin Luther gesagt.« Damit ließ sie ihn allein und verschloss die Tür.

Simon blieb grübelnd zurück. Bedeuteten die letzten Worte, dass die Sterzings Protestanten waren? Und wenn schon. Teresa war ein netter und hilfsbereiter Mensch. Was kümmerte es ihn, ob sie protestantisch war oder der alten Lehre anhing. Bernbeck dagegen ging zwar zur Beichte, aber einen angenehmen Zeitgenossen machte dies wahrhaftig nicht aus ihm.

*

Die Zunft trat nur alle vier Wochen zusammen. Heute war es wieder so weit. Die Zunftmitglieder würden neben anderen Dingen auch über die Zukunft Simon Rebers entscheiden.

Teresa Sterzing hatte sich bei ihrem Ehegatten noch am selben Abend für den Jungen starkgemacht. Mit ihrer Beichte, was oder vielmehr wer sich unter ihrem Hausdach befand, hatte sie gewartet, bis sie in ihre Schlafkammer gegangen waren.

»Wie stellst du dir das vor? Simon muss zurück zu seinem Stiefvater. Auf keinen Fall wird er hierbleiben. Außerdem bin ich als sein Bürge verpflichtet, ihn zurückzubringen.«

»Und wenn Bernbeck ihn noch übler zurichtet als dieses Mal? Was dann? Ich würde mich schuldig fühlen, wenn Simon etwas Ernsthaftes geschieht. Zumal Wulf ihn auch nicht leiden kann. Zwei gegen einen, Konrad.«

»Er war in der Apotheke, ich habe das blaue Auge gesehen, Teresa, aber er hatte nur eine kräftige Ohrfeige bekommen«, winkte der Apotheker ab. »Und wenn du mich fragst, hatte er sie auch verdient.«

»Bernbeck hat ihm die Nase und eine Rippe gebrochen. Simon kann von Glück sagen, dass es nur die eine war. Seine Nase hat er selbst wieder gerade gerückt. So wie sein unterer Rücken aussieht, bin ich sicher, Bernbeck hat ihm in die Nieren getreten. Auf die Frage, ob sein abgeschlagenes Wasser jetzt rötlich gefärbt ist, wurde er verlegen, bejahte aber. Ich möchte mir nicht ausmalen, was sein Stiefvater mit ihm anstellt, wenn er zurückkehrt.«

Sterzing verzog das Gesicht und blies hörbar die Luft durch die Nase. »Ich gebe zu, Bernbeck hat es mit seiner Bestrafung übertrieben.«

Teresa Sterzing setzte sich auf das gemeinsame Bett, hob die Hände hinter den Kopf und löste ihre Flechten. Sie wusste, Konrad konnte sich nie daran sattsehen, wenn ihre Haarpracht wie eine schwarze Flut über ihre Schultern floss, fast bis hinab zu ihren Lenden. Auch dieses Mal verfehlte ihr Tun seine Wirkung nicht. Konrad schlang seine Arme um ihre schmalen Hüften und zog sie an sich.

»Du bist immer noch so schön wie damals. Keinen Tag älter scheinst du geworden zu sein«, raunte er heiser und schob ihr das Unterkleid über den Kopf.

Teresa überließ sich seinen Händen, bis er sie schließlich um die Körpermitte packte und sie auf den Rücken drehte. Heftig atmend sah er mit glänzenden Augen auf sie hinab. Teresa wusste, nun konnte sie alles von ihm haben, und hob ihm ihr Becken entgegen. Konrad stöhnte.

»Warte, Liebster, noch nicht«, flüsterte sie, legte ihm die Hand auf die Brust und schob ihn von sich.

»Teresa, du kleine Hexe, bitte«, bettelte Konrad und zog sie an sich.

»Lass ihn hier. Simon, meine ich.« Sie leckte sich langsam über die Lippen, tastete mit ihren Händen nach Konrads Gemächt.

»Ja, ja, alles, was du willst«, keuchte er.

Als er in sie glitt, stieß sie ein glucksendes Lachen aus. Teresa wusste, wie sie ihren Willen bekam.

Wer der Zusammenkunft der Zunft fernblieb, musste zwei Pfennige in die Zunftkasse zahlen, und zudem bekam er für acht Tage ein Backverbot auferlegt. Einzig wer ernsthaft krank war, wurde nicht mit einer Strafe belegt.

Simon stand vor dem langen Tisch, an dem die beiden Zunftmeister saßen, Sebastian Schlichting, der die Weißbäcker vertrat, und Robert Wachter für die Roggenbäcker. Rechts und links von ihnen weitere Zunftgenossen, andere hatten sich an zwei in der Nähe stehenden Tischen verteilt. Heute hatte Simon keinen Blick für die fein gedrechselten Stühle mit ihren kostbaren Schnitzereien in den Lehnen, die das Backhandwerk darstellten. Zahlreiche Kerzen erhellten den Zunftsaal und tauchten ihn in ein warmes Licht. Auch Simons Bürgen hatten sich eingefunden, der Apotheker Konrad Sterzing und der Schreinermeister Johann Stamitz. Nach und nach füllte sich der Raum mit den letzten Zunftgenossen.

Robert Wachter ergriff das Wort, als alle Platz genommen hatten, und das Scharren der Stuhlbeine auf dem Holzboden verstummte.

»Heute werden wir darüber abstimmen, ob Simon Reber Lehrjunge bei Bäckermeister Melchior Bernbeck bleiben soll oder nicht. Melchior, ich erteile dir das Wort, lass uns hören, was sich zugetragen hat.«

Bernbeck stand von seinem Platz auf. »Mein Lehrjunge Simon Reber, der auch mein Stiefsohn ist, hat sich in unziemlicher Weise benommen, während ich in meinem Haus Gäste bewirtete. Er hat meinen Sohn Wulf aufs Höchste beleidigt. Nachdem ich ihn dafür gerügt habe, ist er heimlich davongelaufen. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass jeder Lehrling auf das Zunftbuch schwört, nicht zu stören und nicht zu entlaufen. Simon hat sich beidem schuldig gemacht, und daher fordere ich seinen Ausschluss aus der Zunft.«

Ein Raunen ging durch den Saal, als Melchior sich wieder hinsetzte.

»Gibt es noch jemanden unter den Genossen, der dazu etwas sagen möchte?«

Sebastian Schlichting hob die Hand und schob seinen Stuhl zurück. »Nur so viel: Unser geschätzter Meister Bernbeck hat mich aufgesucht, nachdem sein Lehrjunge entlaufen war. Er hat mir den Vorfall genauso geschildert und ihn mir als Zunftmeister angezeigt. Ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«

Simon stand der Schweiß auf der Stirn. Wenn er ausgeschlossen wurde, was dann? Natürlich wollte er nicht zurück zu Bernbeck, andererseits, welcher Bäckermeister würde ihn annehmen, damit er seine Lehre beenden konnte?

Unerwartete Hilfe kam von Lois, Schlichtings Geselle.

»Der Junge kam in die Backstube meines Meisters. Von einer Rüge, wie Melchior Bernbeck behauptet, kann nicht die Rede sein. Simon ist schwer verprügelt worden. Das ist ein Vergehen seitens des Meisters, das nicht geduldet werden kann.«

Alle Köpfe wandten sich Bernbeck zu, dessen Gesicht sich vor Zorn rötete.

»Ein paar Ohrfeigen habe ich ihm verpasst, von verprügeln kann nicht die Rede sein. Wer weiß, mit wem er sich auf dem Weg zu Meister Schlichtings Haus angelegt hat? Mein Sohn Wulf kann ein Lied davon singen. Kaum ein Tag, an dem Simon nicht auf ihn losgegangen ist.«

Lautes Stimmengewirr setzte ein, und Simons Beine begannen zu zittern. Melchior verdrehte die Tatsachen, und er, Simon, konnte nichts dagegen tun, außer die Wahrheit zu erzählen.

»Junge, was hast du dazu zu sagen?«, wandte sich Wachter an ihn.

»Ja, ich habe meinen Stiefbruder beleidigt, und ja, ich bin abgehauen, aber nur, weil ich Angst hatte, mein Meister schlägt mich tot. Und nein, ich bin keiner, der Händel sucht. Wulf hat immer den Streit angefangen.«

»Aber du bist auch nachlässig, was keinen guten Lehrjungen aus dir macht. Warst du nicht bei mir und hast um Anstellgut gebeten, weil du es hast ausgehen lassen?«

Simon ließ seine Augen durch die Menge gleiten, hoffte, den Gesellen Jörg zu entdecken, damit dieser ihm zu Hilfe kam. Jörg hatte gleich gewusst, wessen Schuld es gewesen war. Doch der Geselle war nirgends zu entdecken.

»Aber Ihr wisst, dass das nicht wahr ist. Wulf hat den Sauerteigansatz …«, erwiderte Simon verzweifelt.

»Es scheint, du schiebst deine Fehler immer auf andere«, schnitt Wachter ihm das Wort ab.


Fürstbischof Julius Echter erfreute sich an der Bestätigung seines Amtes durch den Papst. Eine weitere Gesandtschaft war, vier Wochen nach dem Aufbruch der ersten nach Rom, zu Kaiser Maximilian nach Prag gereist. Es würde wohl noch dauern, bis er auch seitens des Kaisers seine Anerkennung erhielt.

Julius Echter schlief wenig und arbeitete viel. Das ganze Bistum litt seit Jahren unter unfähigen oder faulen Männern und hatte einen immensen Schuldenberg angehäuft. Das riesige Gebiet reichte bis an die Landgrafschaft Hessen im Norden, erstreckte sich nach Osten bis zum Hochstift Bamberg und nach Westen bis zum Neckar. Im Süden grenzte es an die Fürstpropstei Ellwangen. Unterteilt war das Bistum in zehn Archidiakonate und diese wiederum in Landkapitel mit ihren Pfarreien.

Es wurde Zeit, Ordnung zu schaffen. Nahezu täglich erließ Echter neue Gesetze und Verordnungen, und oftmals erschien er ohne Ankündigung in den Amtsstuben, um sich zu vergewissern, ob die Amtsleute sich an die Neuerungen hielten und sie umsetzten. Dank ihm wurden wieder peinlich genau Akten geführt, nachdem diese Arbeit jahrelang vernachlässigt worden war. Der junge Fürstbischof bestimmte die Arbeitszeiten und verfügte, die Amtmänner dürften keinerlei Geschenke oder Gefälligkeiten annehmen. Aus gutem Grund. Viel zu lange hatten seine Vorgänger es durchgehen lassen, dass manche Domherren reiche Pfarreien an ihre Verwandten vergaben oder gar verkauften. Es wurde Zeit für Julius, sich zum Priester weihen zu lassen, um nicht nur in den Amtsstuben für Ordnung zu sorgen, sondern auch in den Archidiakonaten. Doch er würde damit warten, bis er die Bestätigung des Kaisers für sein fürstliches Amt erhielt.

»Exzellenz, neue Schriften sind angekommen«, berichtete Johann Voit von Rieneck, »und der Zimmermeister wünscht Euch zu sprechen.«

Julius Echter unterbrach seine Aufzeichnungen und legte die Feder beiseite. »Nur herein mit ihm. Die Schriften lasst zur Hofbuchbinderei bringen.«

Kurz nach seinem Amtsantritt hatte der Fürstbischof begonnen, die Hofbibliothek zu erneuern, da sie ein Jahr zuvor ein Raub der Flammen geworden war. Seither arbeiteten Steinmetze und Zimmermänner daran, den zerstörten Südflügel der Burg wiederaufzurichten. Echter kaufte keine Bücher, stattdessen ließ er sich gedruckte Seiten von den Messen liefern, welche seine Buchbinder in Bänden zusammenfügten, denn Julius war ein Schöngeist und wollte einheitlich aussehende Bände. Gebunden zwischen hölzernen Deckeln, überzogen mit hellem, fast weißem Schweinsleder, die Buchrücken mit goldenen Lettern und Jahreszahlen versehen und die Buchdeckel geprägt mit dem Wappen der Echterfamilie, sahen die Bücher wahrhaftig fürstlich aus. Einer der Buchbinder hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, um eine der begehrten Stellen im fürstbischöflichen Haushalt zu bekommen.

Gregor Schenks ungewöhnliches Buch hatte den Fürstbischof verzückt. Zwischen zwei kreisrunden, mit Kalbsleder bezogenen und mit Ornamenten verschönerten Holzdeckeln befanden sich Drucke in lateinischer Sprache, unter anderem De Sacramentis Ecclesiae. Die Deckel waren geviertelt und konnten unabhängig voneinander aufgeklappt werden, und der umlaufende Goldschnitt der Seiten war mit Blumenranken und den Wappen der Stadt und der Familie Echter verziert. Zwischen den Ranken konnte man die Gestalt des Bischofs erkennen, samt Stab und Schwert. Ein unglaubliches Kunstwerk.

Julius hatte sich vorgenommen, die Festung Marienberg zu einer prachtvollen Residenz auszubauen und sie bis weit über die Grenzen des Hochstifts bekannt werden zu lassen. Jedermann sollte ihn, den Fürstbischof von Würzburg, für seine Bauwerke rühmen. Bauwerke von solcher Kunstfertigkeit und Pracht, wie er sie in Italien zu seiner Studienzeit gesehen hatte. Er brauchte nur noch einen geeigneten Baumeister für seine Vorhaben.

»Was führt Euch zu mir, Meister Heber?«, fragte Julius, als der Zimmermann, den schwarzen krempigen Hut in Händen haltend, hereintrat.

»Eure Exzellenz, soeben haben die Dachdecker die letzte Schindel aufgelegt. Wir können mit dem Innenausbau beginnen.«

»Das sind gute Nachrichten, Heber«, ein seltenes Strahlen legte sich auf Echters Gesicht. »Ich werde den Hofkämmerer und den Hofmeister benachrichtigen, sie sollen sich um alles kümmern. Doch nun lasst mich Euer Werk betrachten.«

Die Zimmerleute, Dachdecker und Steinmetze hatten gute Arbeit geleistet. Der Südflügel war größtenteils wiederhergestellt, in welchem Echters Hofbibliothek Einzug halten sollte. Der Fürstbischof nahm Meister Heber beiseite.

»Ich habe vor, die Burg weiter auszubauen. Ein fürstliches Schloss soll daraus entstehen, dessen Pracht über ganz Würzburg und darüber hinaus erstrahlen soll. Ihr kommt viel herum, wart Ihr jemals in Italien und habt die Paläste und Kirchen dort gesehen? Für mein Vorhaben brauche ich Meister, die ihr Handwerk nicht nur verstehen, sondern es lieben wie ihr eigenes Kind.«

»Ich bedaure, Exzellenz. Allerdings habe ich auf der Baustelle in der Grafschaft Schwarzburg gearbeitet, und ich kann mir vorstellen, was Ihr mit ›Pracht‹ meint. Graf Albrecht lässt in Rudolstadt die Burg zu einer Residenz ausbauen, ein Schloss mit drei Flügeln, mehrgeschossig mit unzähligen Fenstern, klaren Linien und hohen Bögen. Federführend ist der Baumeister Joris Robijn. Ein außerordentlicher Baumeister aus Flandern.«

Julius Echter rieb sich den rötlich-braunen Bart. »Es scheint, ich habe genau den richtigen Mann gefragt. Nun, Meister Heber, es gibt hier genügend Arbeit für Euch, sofern Ihr nicht bereits einen anderen Auftrag in Aussicht habt.«

»Das Angebot nehme ich gerne an, Eure Exzellenz.«

»Dann ist es beschlossene Sache. Wir werden einen neuen Vertrag aufsetzen, sobald alle Arbeiten hier an Südflügel und Sonnenturm abgeschlossen sind.«

Als Echter zurück in seiner Kanzlei war, gestattete er sich einen Moment der Ruhe und richtete seinen Blick auf das fein geschnitzte Kreuz an der Wand. Stumm hielt er Zwiesprache mit seinem Schöpfer, wie er es oft tat, um sich bei Gott zu vergewissern, das Richtige zu tun. War er nur prunksüchtig, und sein Stolz war die treibende Kraft hinter dem Vorhaben, die Festung zu erweitern? Nein. Die zukünftige Residenz sollte eben genauso über die Grenzen des Frankenlandes bekannt sein wie das Spital, das er zu gründen gedachte. Eine Einrichtung für Kranke, gleich, ob arm oder reich, ausgestattet mit den besten Ärzten. Ein Ort des Gesundens für alle, die von Krankheiten niedergestreckt wurden, und ein Ort, der auch nach seinem Tod sich auf ewig erhalten sollte. Ein großer Akt der Nächstenliebe, der ihm einen Platz im Himmel sicherte. Nur einen passenden Ort hatte er noch nicht dafür gefunden. In der Stadt war es zu eng für ein Vorhaben dieser Art. Doch das bereitete ihm keine Kopfschmerzen, er hatte in seinen jungen Jahren schon so vieles erreicht und zustande gebracht.

Echters Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Vor seinem geistigen Auge erschien seine Heimat, Schloss Mespelbrunn. Ein fast verwunschener Ort in den Wäldern des Spessarts, gelegen in einem Tal und umgeben von einem durch den Krebsbach gespeisten Gewässer. Als er sechs Jahre alt gewesen war, hatten es sich seine Eltern in den Kopf gesetzt, die seit mehr als hundertfünfzig Jahren in Familienbesitz befindliche Burg wohnlicher zu machen. Aus dem eher finsteren, kalten Gemäuer war nach achtzehn Jahren Bauzeit ein verträumtes Wasserschloss aus gelbem Sandstein geworden. Er war der Zweitgeborene von insgesamt neun Geschwistern, und seine Mutter hatte manchmal darüber gescherzt, dass sie nur Knaben zustande brächte, nachdem der dritte Sohn geboren worden war. Doch sie sollte nicht recht behalten, Julius bekam noch vier Schwestern und einen Bruder.

Echter liebte seine Familie über alles, und es war zunächst nicht einfach gewesen, als sein Vater ihn mit neun Jahren ins Kollegiatstift nach Aschaffenburg sandte. Die Trennung von seinen Geschwistern hatte ihm das Herz schwer werden lassen, doch die brüderliche Aufnahme in St. Peter und Alexander und die gemeinsamen Gebete halfen Julius über das Heimweh hinweg. Drei Jahre war er dortgeblieben, dann zog er nach Würzburg und zwei Jahre später nach Mainz, wo er dem Domstift angehörte. Im selben Jahr folgte er seinem älteren Bruder Adolf nach Köln, um die Jesuitenschule zu besuchen.

Julius sog Wissen in sich auf wie ein Dürstender Wasser in der Wüste. Gemeinsam mit seinem Bruder Sebastian, der nur ein knappes Jahr jünger war, führte ihn sein Weg von Köln nach Flandern. Beide verschrieben sich dem Studium der Rechte. Unzertrennlich waren sie in den nachfolgenden Jahren gewesen, reisten von Flandern nach Frankreich und weiter nach Italien, um dort ihre Studien abzuschließen. Als sie schließlich zurückkehrten, wurde Julius Mitglied des Domkapitels zu Würzburg, um nur vier Jahre später zum Fürstbischof gewählt zu werden.

Ein lautes Geräusch, das durch die Fenster hereindrang, brachte Julius in die Gegenwart zurück. Nun, da er gerade an seinen geliebten Bruder Sebastian gedacht hatte, tauchte er die Feder in das Tintenfässchen, um diesem sogleich einen Brief zu schreiben.

*

»Simon Reber, dein Lehrvertrag bei Meister Bernbeck wird widerrufen«, erklärte Schlichting, nachdem sich die Zunftgenossen beraten hatten. »Du kannst deine Lehre bei einem anderen Meister fortsetzen. Das Bürgschaftsgeld von Meister Stamitz und Apotheker Sterzing soll Melchior Bernbeck zur Entschädigung erhalten.«

Dem Lehrjungen fiel ein Stein vom Herzen. Wenigstens hatten sie ihn nicht aus der Zunft ausgeschlossen. Fragte sich nur, wer ihn überhaupt noch als Bäckerlehrling annahm. Hier in Würzburg sehr wahrscheinlich keiner. Das bedeutete, er musste die Stadt verlassen und sein Glück anderswo versuchen.

»Ist jemand von den anwesenden Bäckermeistern bereit, Simon anzunehmen?«, fragte Wachter in die Runde.

Betretenes Schweigen setzte ein, Blicke wurden zu Boden gesenkt. Das war zu erwarten gewesen.

»Wenn er nicht unbedingt Bäcker werden will, dann nehme ich ihn«, ließ sich plötzlich Sterzing vernehmen.

Alle Köpfe fuhren herum, und Simon starrte den Apotheker verblüfft an. Niemand rührte sich.

»Nun, Simon, was sagst du dazu?«

»Ich … ich … ja, natürlich! Seid bedankt, Herr Apotheker«, stammelte Simon.

Zunftmeister Wachter erklärte, Simon müsse dann die Bäckerzunft verlassen, und die Zusammenkunft galt als beendet. Nach und nach verließen die Genossen den Zunftsaal. Als Simon ins Freie trat, packte Wulf ihn plötzlich am Ärmel.

»Das hast du dir ja fein ausgedacht. Du weißt ganz genau, dass ich zu Sterzing wollte. Das wirst du mir büßen, verlass dich drauf«, zischte sein Stiefbruder ihn an.

»Ich hatte keine Ahnung davon, dass er mich als Lehrling annehmen will. Lass mich endlich zufrieden«, fauchte Simon zurück und riss sich los.

Bevor Wulf noch etwas entgegnen konnte, rief der Apotheker nach Simon. »Komm, wir gehen nach Hause.«

Simon bezog eine winzige Kammer neben dem Laboratorium und lernte täglich all die lateinischen Namen der Pflanzen auswendig und für welchen Zweck sie zu Elixieren und Salben verarbeitet wurden. Sterzing war ein strenger, aber geduldiger Lehrer. Lehrgeld bekam er nicht, solange er das Bürgschaftsgeld nicht abgearbeitet hatte. Wenigstens hatte der Apotheker ihm gezeigt, wie man Marzipan herstellte, nachdem er lange genug gebettelt hatte.

Julia bekam er außerhalb der gemeinsamen Mahlzeiten wenig zu Gesicht. Das Mädchen ging ihrer Mutter zur Hand und erfuhr, wie man die Bücher zu führen hatte. Doch immer öfter suchte sie einen Vorwand, um zu ihm ins Laboratorium oder in die Schneidekammer zu kommen. Dort wurden Wurzeln mit einem Wiegemesser zerkleinert, Samen und Früchte zerstoßen. Ihre Besuche währten nie lange, aber sie erhellten Simons Tag. Einmal hatte sie seine Hand geführt, als er sich ungelenk mit dem Pistill angestellt hatte. Die Berührung hatte sein Herz schneller schlagen lassen, und ihm war ganz heiß geworden. Seither mimte er den Ungeschickten, wann immer Julia auftauchte. Überhaupt hatte sich sein Körper in den letzten Monaten verändert. Seine Stimme besaß nun einen tiefen Klang und er war mindestens einen Kopf größer, sein Rücken war breiter geworden, während die Hüften schmal geblieben waren. Und auf seinen Wangen zeigte sich ein dunkelblonder Bartwuchs. Simon war nicht entgangen, dass Julia zur Frau heranreifte. Kleine runde Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem Kleid ab, und er ertappte sich wieder und wieder bei dem Gedanken, wie sie wohl aussehen und sich anfühlen mochten.

»Simon, das Wollfett geht zur Neige. Lauf zum Markt, und bring außerdem noch Sperma ceti und Castoreum mit«, wies Konrad Sterzing ihn an. »Du weißt, was die Namen bedeuten?«

»Walrat und Bibergeil«, antwortete Simon nach kurzem Überlegen.

Zufrieden mit seiner Antwort gab Sterzing ihm einen Beutel mit Münzen.

Simon liebte es, auf den Markt zu gehen. Die vielen Stände mit ihren unterschiedlichen Waren und die durchdringenden Rufe der Marktschreier, vermischt mit zahlreichen anderen Geräuschen, erfüllten diesen Teil der Stadt mit prallem Leben. Schweine quiekten, Hühner gackerten aufgeregt, Schafe blökten und Gänse schnatterten. Menschen lachten, andere stritten sich, wieder andere feilschten lauthals, und Spielmänner entlockten ihren Flöten und Schalmeien Töne, die mal mehr, mal weniger die Ohren erfreuten. Über all dem schwebte eine Wolke aus verschiedensten Gerüchen. Roch es an einer Ecke nach warmen Fleischpasteten, verströmten ein paar Schritte weiter die Waren der Schuster und Gürtelmacher ihren Ledergeruch. Am wunderbarsten empfand Simon die Düfte der Gewürze aus allen Herren Ländern, von denen er viele nicht benennen konnte.

»Junge, was willst du?«, fragte der Händler, als Simon endlich an die Reihe kam.

»Ein Pfund Wollfett, zwei Seidel Walrat und einen Vierling Bibergeil.«

Während der Händler das Gewünschte abwog und in die mitgebrachten Gefäße füllte, betrachtete Simon das rege Treiben um sich herum. Plötzlich entdeckte er den weizenblonden Schopf seiner Schwester im Gewühl.

»Barbara! Barbara!« Er reckte den Arm in die Höhe, um auf sich aufmerksam zu machen.

Seine Schwester drängte sich weiter durch die Menge. Wahrscheinlich konnte sie ihn gar nicht hören. Was dachte sich Melchior nur dabei, ein kleines Mädchen auf den Markt zu schicken?

Der Händler nannte Simon seinen Preis. Eilig bezahlte er, verstaute die Tontöpfe mit Wollfett und Walrat und ein Säckchen getrockneten Bibergeils in seiner ledernen Tasche und zwängte sich an den Menschen vorbei, um Barbara nachzulaufen. Zuerst glaubte er, sie verloren zu haben, doch nun sah er ihre hellen Haare in der Sonne leuchten, als sie an einem Stand stehen blieb, um Eier und ein frisch geschlachtetes Huhn zu kaufen. Sie löste einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel, um zu bezahlen, als der neben ihr stehende Mann blitzartig danach griff und damit zu entkommen versuchte.

»Haltet den Dieb!«, kreischte Barbara entsetzt.

Die Flucht währte nur wenige Schritte, denn er kam geradewegs auf Simon zu, der ihm ein Bein stellte und zu Fall brachte. Kaum lag der Dieb am Boden, stürzte sich ein wahrer Hüne mit einem dichten Bart auf ihn, riss ihn in die Höhe und drehte ihm einen Arm auf den Rücken.

»Was hat er dir gestohlen, Mädchen?«

»Meine Börse«, schluchzte Barbara, die ihren Bruder noch nicht bemerkt hatte.

»Elender Beutelschneider! Los, gib ihr das Geld zurück«, forderte der Mann und ruckte dessen Arm noch ein wenig höher, was diesem einen Schmerzenslaut entlockte.

Der Dieb nestelte an seinem Hosenbund, hinter welchem der Beutel klemmte. Barbara griff hastig danach und bedankte sich bei dem Hünen.

»Da bin ich ja gerade im richtigen Augenblick zur Stelle gewesen, Schwesterchen«, ließ sich Simon vernehmen.

»Simon!«

Barbara schlang ihrem Bruder die Arme um die Körpermitte und drückte sich an ihn.

»Ich übergebe ihn den Bütteln. Ihr beide müsst mitkommen, damit wir alle bezeugen, was geschehen ist«, meinte der Bärtige.

Unter dem Gezeter des Diebes machten sie sich auf zum Grafeneckart, wo sie den Mann den Stadtknechten übergaben.

»Du Taugenichts, ein kleines Mädchen zu bestehlen«, brummte einer der Knechte kopfschüttelnd und stieß den Dieb in den Rücken, »ab mit dir ins Loch.«

Dreimal in der Woche tagte das Stadtgericht auf der anderen Seite des Mains an der großen Brücke. Neun Schöffen sprachen unter dem Vorsitz des Oberschultheißen Friedrich Albrecht von Heßberg an diesen Tagen Recht über allerlei Straftaten, von Diebstahl und Schlägereien bis zu Mordbrand, Mord, Schändung und Inzucht. Auch peinliche Gerichtsverfahren wurden hier verhandelt, dann allerdings wurden fünf weitere Schöffen hinzugezogen, die aus dem Zent­gebiet Würzburgs stammten. Schulden- und Erbstreitigkeiten hingegen fanden im Kanzleigebäude links neben dem Dom statt, ebenso wie die Lehensgerichte.

Nachdem sie den Dieb abgeliefert, Zeugnis abgelegt und sich noch einmal bei dem bärtigen Hünen bedankt hatten, begleitete Simon seine Schwester zu Melchior Bernbecks Haus.

»Geht es dir gut?«, wollte Simon wissen.

»Ja, mach dir keine Sorgen. Seit du fort bist, muss Vater wieder selbst mehr Zeit in der Backstube verbringen, und manchmal glaube ich«, sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »er bereut, was er dir angetan hat.«

Simon versetzte es einen Stich, als Barbara von Bernbeck als ›Vater‹ sprach.

»Mag sein, aber das wird er nie zugeben. Wieso hat er Berta nicht zum Markt geschickt?«

»Weil sie ein dickes Geschwür am Bein hat und kaum laufen kann. Es sieht ganz schauderhaft aus und stinkt. Sibylla und ich gehen ihr bei allem zur Hand. Waschen, kochen, das Haus sauber halten. Mutter fehlt mir so, Simon. Und du auch.«

»Ich wünschte, ich könnte dich in Sterzings Haus holen, aber das geht nicht«, erwiderte Simon traurig.

Als sie Bernbecks Haus erreichten, trat ihnen Wulf entgegen.

»Was hast du hier zu suchen? Verschwinde auf der Stelle!«, feindete er Simon an und zischte Barbara zu: »Solltest du nicht Eier und ein Huhn besorgen?«

»Sie kann froh sein, dass sie die Börse noch hat …«

»Ja, das stimmt, Wulf. Ein Dieb hat sie mir aus der Hand gerissen. Wenn Simon nicht da gewesen wäre, dann …«

»Dann pass besser darauf auf. Und nun geh zurück und bring, was ich dir aufgetragen habe.« Drohend machte er einen Schritt auf Barbara zu.

Simon schob seine Schwester ein Stück hinter sich. »Geh doch selbst, du elender Faulpelz. Was hast du dir dabei gedacht, Barbara allein loszuschicken? Bist du verrückt geworden? Du weißt ganz genau, wie viel Gesindel sich dort herumtreibt.«

»Ich habe genug in der Backstube zu tun, und es geht dich einen Dreck an.«

Plötzlich packte er Barbara grob am Arm und zerrte sie hinter Simon hervor.

»Los, mach, dass du zum Markt kommst.«

Barbara kreischte laut auf, und Simon versetzte Wulf eine Ohrfeige. Wutentbrannt ließ Wulf Barbara los und rammte Simon seine Faust in den Magen, der sich daraufhin keuchend zusammenkrümmte. Der Beutel rutschte von seiner Schulter und glitt mit leisem Scheppern zu Boden. Augenblicke später gingen beide aufeinander los, rauften und prügelten sich, bis sie am Boden lagen. Simon gewann die Oberhand und setzte sich rittlings auf Wulf, hielt dessen Arme mit den Knien nieder und packte ihn an der Kehle.

»Nie wieder wirst du meiner Schwester wehtun, hast du das verstanden?« Er verstärkte den Druck seiner Hände. Wulfs Gesicht lief rot an. »Hast du mich verstanden?«, wiederholte Simon diesmal lauter und drückte noch etwas fester zu.

Zwei starke Arme rissen ihn von Wulf herunter, und ein gewaltiger Schlag unter das Kinn schickte ihn zu Boden.

»Willst du ihn umbringen?«, brüllte Bernbeck.

Simon rappelte sich auf, wischte sich das Blut von der Unterlippe und den Staub von den Kleidern.

»Lass dich hier nie wieder blicken! Verschwinde von hier, auf der Stelle!«

»Aber Vater, Simon hat nichts ge…«

»Geh zurück ins Haus, Barbara«, unterbrach Melchior sie wütend.

Der Zorn in seinen Augen ließ sie augenblicklich verstummen, und sie machte auf dem Absatz kehrt. Simon sah ihr unglücklich nach. Er wusste, es war zwecklos, Melchior zu erklären, was vorgefallen war.

Hoffentlich sind die Gefäße heil geblieben, dachte er, als er den Lederbeutel aufhob und sich davonmachte.

Gesenkten Hauptes betrat Simon die Lilien-Apotheke. Zuvor hatte er einen Blick in den Beutel geworfen und erleichtert festgestellt, dass nichts zu Bruch gegangen war.

»Wo hast du so lange gesteckt?«, wollte Sterzing wissen, als Simon die irdenen Töpfe auspackte.

»Ich habe meine Schwester getroffen, verzeiht, Herr«, murmelte er.

»Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst«, mahnte der Apotheker. »Geht es ihr gut?«

Seufzend hob Simon den Kopf, doch bevor er eine Antwort geben konnte, sog Konrad scharf die Luft ein. »Du hast dich geprügelt. Warum und mit wem?«

Simon schluckte. »Mit Wulf Bernbeck. Er hat meine Schwester allein zum Markt geschickt. Sie ist erst neun! Nur weil er zu faul ist, selbst zu gehen!«

Konrad rieb sich müde über die Augen. »Wir reden später darüber, Simon. Es gibt noch jede Menge zu tun. Ich treffe mich noch mit einem Kaufmann, und solange ich weg bin, wirst du die Elixiere und das Aqua vitae abfüllen und danach die Gerätschaften im Laboratorium säubern.«

Nach dem Abendbrot rief Sterzing Simon zu sich in die Stube. Verzagt setzte sich der Junge auf einen Stuhl, rutschte unruhig darauf hin und her.

»Es ist besser, du verlässt die Stadt«, eröffnete ihm der Apotheker. »Es wird immer wieder zum Streit zwischen dir und Wulf kommen.«

Simon schien wie vom Donner gerührt, vermochte nichts darauf zu sagen.

»Du wirst mit einer Gruppe von Kaufleuten nach Venedig reisen. Dort lebt ein Vetter meiner Frau. Francesco Tardelli ist Bäcker. Teresa wird dir einen Brief mitgeben, in welchem sie ihn bittet, dich aufzunehmen.«

»Venedig?«

»Es wird dir gefallen, vertrau mir. Dort ist es warm und fast immerzu scheint die Sonne, und du wirst den salzigen Geruch des Meeres riechen können«, geriet der Apotheker ins Schwärmen.

»Aber, meine Schwester …«, wandte Simon ein.

»Sie ist bei Bernbeck gut aufgehoben.«

»Meine Mutter und mein Vater sind hier begraben, ich will nicht von hier fort.« Fest presste Simon die Lippen aufeinander.

Konrad ging nicht darauf ein. »Der Kaufmann Philipp Hansen wird dich mitnehmen, ich kenne ihn gut. Du kümmerst dich um das Pferd, hilfst ihm, den Wagen zu beladen, und passt auf die Waren auf. Dafür bekommst du zu essen und vielleicht auch ein paar Pfennige.«

»Und wenn ich mich weigere?«, traute sich Simon zu fragen.

Sterzing seufzte. »Hör mir gut zu, Simon. Du kannst dich weigern, aber ich werde dich nicht länger unter meinem Dach wohnen und arbeiten lassen. Was dann mit dir geschieht, liegt in deiner und Gottes Hand. Wovon willst du leben, wo wirst du schlafen? Du bist klug und lernst schnell, wie du in den letzten Wochen bewiesen hast. Aber du bist auch ein Hitzkopf, deswegen habe ich diese Entscheidung getroffen. Die Möglichkeit, ein Stück mehr von der Welt zu sehen und viel Neues zu lernen, wird dich reifen lassen wie einen guten Apfel. Denk darüber nach.«

Wie betäubt ging Simon in seine Kammer, setzte sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Venedig? Wo sollte das sein? Es hörte sich an wie das Ende der Welt. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann, jämmerlich zu schluchzen. Alles stürzte auf ihn ein. Der Tod seines Vaters, den er immer noch nicht verwunden hatte. Er vermisste seine Mutter, der er zuletzt garstige Worte an den Kopf geworfen hatte. Die Möglichkeit, sie dafür um Verzeihung zu bitten, hatte er vertan. Was sollte aus ihm werden? Warum hatte er nicht, wie viele andere Lehrjungen, einfach stillschweigend die Ungerechtigkeiten hingenommen und gebetet, die Lehrzeit möge schnell vorbei sein? Warum hatte er sich immer wieder aufs Neue von Wulf reizen lassen? Sterzing hatte recht: Er war ein Hitzkopf.

Eine Hand legte sich sachte auf seine Schulter.

»Warum weinst du so bitterlich?«, fragte eine zarte Stimme.

Peinlich berührt sah er mit geröteten Augen auf. Julia stand vor ihm, die Stirn sorgenvoll gefurcht. Er hatte ihr Hereinkommen nicht bemerkt, so versunken war er in seinem Seelenschmerz. Mit dem Ärmel wischte er über sein Gesicht, zog geräuschvoll die Nase hoch.

»Es ist nichts.«

Julia hob vielsagend die dunklen Augenbrauen, setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Warm und tröstend fühlte sie sich an, und Simon vergaß für einen Augenblick sein Selbstmitleid.

»Und wegen ›nichts‹ bist du so traurig?«, ein winziges erheitertes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Unwillkürlich verzogen sich Simons Lippen zu einem zaghaften Grinsen.

»Dein Vater schickt mich fort, Julia, und ich habe Angst davor.«

»Ich weiß, Simon«, antwortete sie traurig. »Er hat vorhin mit uns darüber gesprochen. Meine Mutter war dagegen, aber er wollte nichts hören.«

Er entzog ihr seine Hand. »Du solltest nicht hier sein. Wenn dein Vater dich sucht und hier findet, wird er mich noch heute auf die Straße werfen.«

»Nein, das wird er nicht. Vater hat mir erlaubt, zu dir zu kommen, weil er dir vertraut, dass du nicht …« Julia stockte.

»Was?«

»Etwas Unanständiges versuchst.« Flüsternd beendete sie den Satz. Dann räusperte sie sich.

»In fünf Tagen brechen die Kaufleute auf, soll ich dir sagen.«

»Julia, was soll ich tun? Ich will nicht von hier weg, aber wenn ich bleibe, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.«

Wieder nahm sie seine Hand. »Du musst dich entscheiden, Simon. Ich will auch nicht, dass du fortgehst.« Plötzlich beugte sie sich vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte einen Kuss auf Simons Lippen. Mit hochrotem Gesicht stand sie auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarze Lockenpracht. »Wenn du gehst, werde ich warten, bis du zurückkommst.« Mit diesen Worten eilte sie aus der Kammer.

Verblüfft starrte Simon ihr hinterher, spürte dem süßen Geschmack ihrer Lippen auf den seinen nach. Ein eigenartiges Ziehen machte sich in seinen Lenden breit, ein neues und aufregendes Gefühl, das ein breites Grinsen auf sein Gesicht zauberte. Sterzings Vertrauen in ihn war gerechtfertigt, niemals hätte er gewagt, Julia zu küssen. Doch wüsste der Apotheker, was seine Tochter soeben getan hatte, würde er sie wahrscheinlich einsperren und den Schlüssel in die Fluten des Mains werfen.

In den folgenden Tagen nutzte Julia jede Gelegenheit, um zu ihm zu kommen, wann immer ihr Vater außer Haus war. Ein verstohlener Kuss zwischen Kräutertöpfen und Flaschen mit Elixieren, ein weiterer im kühlen Keller, wo die Salben und Öle aufbewahrt wurden, damit sie nicht so schnell ranzig wurden. Das Verlangen nach mehr war immer stärker geworden, und ihrer beiden Hände hatten sich gegenseitig durch die Kleidung erforscht. Gestern Nacht hatte sich Julia auf Zehenspitzen in Simons Kammer gestohlen, ihr Kleid aufgeschnürt und sein Gesicht an ihre zarte nackte Brust gedrückt. Simon hatte alle Mühe gehabt, nicht ihre Röcke anzuheben und seinen Gefühlen nachzugeben.

Schwer atmend hatte er sich von ihr gelöst, sie gebeten, ihre Blöße zu bedecken.

»Julia, bitte geh, bevor ich die Beherrschung verliere und uns dein Vater noch erwischt.«

Seufzend hatte sie nachgegeben, ihn lange geküsst und war ohne ein weiteres Wort gegangen.

Die Augustsonne brannte auf Simon herab, der mit geschnürtem Bündel vor der Lilien-Apotheke stand und sich verabschiedete. Konrad hatte ihm bereits in der Offizin Lebewohl gesagt und ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft.

Teresa Sterzing drückte ihn kurz an ihre Brust. »Leb wohl, Simon, gib auf dich acht. Hast du den Brief für meinen Vetter wohl verstaut?«

»Sicher verwahrt in einer Lederhülse, damit ihm nichts geschieht«, antwortete Simon. »Habt Dank für alles, was Ihr für mich getan habt.«

Damit wandte er sich Julia zu, die ihm ihre Rechte entgegenhielt. Ihre langen schlanken Finger verschwanden beinahe in seiner großen Hand. Tränen schimmerten in den dunklen Augen, eine Einzelne löste sich wie eine Perle von ihren langen Wimpern und rann ihre Wange hinunter.

»Bleib nicht zu lange, Julia«, mahnte Teresa und ging hinein. Ihr war wohl bewusst, wie es um die beiden stand, und sie wollte ihnen einen kurzen Augenblick der Zweisamkeit gönnen.

»Ich komme wieder, Julia, versprochen«, sagte Simon.

»Jeden Tag werde ich an dich denken, vergiss mich nicht.« Eine weitere Träne machte sich auf den Weg.

»Niemals. Wie könnte ich das schönste Mädchen in ganz Franken, nein, im ganzen Reich vergessen?«

Zumindest entlockte er ihr damit ein Lächeln. Am liebsten hätte er sie hier auf der Straße vor aller Augen in die Arme geschlossen, doch allein darüber nachzudenken, verbot sich.

»Du weißt doch gar nicht, wie viele schöne Mädchen dir begegnen werden, die alle hübscher sind als ich«, entgegnete Julia.

»Keine. Denn ich werde sie gar nicht bemerken, weil ich immerzu dein Gesicht sehen werde.« Er schluckte. »Es wird Zeit für mich. Leb wohl.«

Widerstrebend ließ sie ihn gehen. Simon stapfte los, den Blick fest geradeaus geheftet, die Kiefer zusammengepresst, um nicht loszuheulen wie ein Kind.

Der Pfeiler der Gerechtigkeit

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