Читать книгу Ein fünfzigjähriges Jubiläum in Weimar - Johannes B. Heimensteiner - Страница 5
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ОглавлениеDer große Festsaal war hell erleuchtet. Die Anwesenden, durchwegs in Festkleidung, in Fracks gekleidet, hatten sich in kleinen Gesprächsgruppen zusammen gefunden. Bedienstete reichten Getränke. Hofrat Meyer begrüßte mit deutlicher Betonung Herrn Eckermann, der seit kurzer Zeit im Hause am Frauenplan viel Zeit mit Geheimrat Goethe verbrachte. Er stellte Dr. Gerresheimer vor mit der Bemerkung, dass dieser mit ihm zusammen heute in Weimar eingetroffen sei. Der Wunsch dieses Mitreisenden aus Frankfurt am Main gehe darauf hinaus, dass er eine Botschaft Herrn von Goethe überbringen solle von dessen Hochschullehrer, Professor Bergler. Die angenehme Reiseatmosphäre, die sich auf der Fahrt von Gotha nach Weimar herausgebildet habe, sei Anlass für ihn, Hofrat Meyer, die Bitte von Dr. Gerresheim nach einem Kontakt zum Geheimrat zu unterstützen „Ich bitte auch Sie, Herr Eckermann, das Ihre zu tun, dass unser Besucher Gelegenheit erhält, den Herrn Staatsminister derart zu sprechen, dass er seinen Auftrag ausführen kann.“ Herr Eckermann erklärte sich gern bereit, behilflich zu sein, er werde versuchen, bei dieser Zusammenkunft jetzt Herrn Dr. Gerresheim Herrn von Goethe vorzustellen. Sinnvoll werde dies aber erst sein, wenn der Großherzog seine vorgesehene Adresse an den Jubilar gerichtet habe.
Dies geschah alsbald. Alle Anwesenden spürten deutlich, dass der Großherzog nicht sich einer seiner vielen Pflichten entledigte, er war sich der Bedeutung dieses Tages sehr gewiss, voller Erinnerungen, voller Emotionen. Es war eine kurze Rede. Er verwies auf die treue Anhänglichkeit des Jubilars, seine Dienstleistungen für das Großherzogtum und das Gemeinwesen und auf die besonderen Beziehungen zwischen ihm, dem Souverän und seinem Staatsminister und unterstrich, dass es sich um eine ungewöhnliche Beziehung handele, die als Freundschaft zu bezeichnen er sich nicht scheue, sondern sich rühme. Dieser Beziehung verdanke er . „den glücklichen Erfolg der wichtigsten Unternehmungen meiner Regentschaft“. Das Auditorium nahm die Worte Carl Augusts mit erkennbarer Anteilnahme, ja mit Hochachtung dem Sprechendem gegenüber zur Kenntnis.
Die Atmosphäre lockerte sich spürbar. Nicht in einem förmlichen Defilee, eher spontan und ungezwungen wandten sich die Gäste dem Jubilar zu, um mit einigen persönlichen Worten an die lange Wohndauer in Weimar zu erinnern. Dabei konnte nicht ausbleiben, dass Ereignisse erwähnt wurden aus den fünf Jahrzehnten, an welche sich die Gratulanten als besondere Ereignisse im besonderem Maße erinnerten. Die Unterhaltung mit Hofrat Meyer allerdings verlief anders. Der Staatsminister fragte unverzüglich, wie es um das in Gotha befindliche Bild des Niederländers bestellt sei. Würde eine Chance bestehen, diesen Breughel für Weimar zu erwerben. Hofrat Meyer konnte keine allzu große Hoffnung erkennen „ Mir scheint, dass man in Gotha sehr stolz auf diesen Erwerb ist, in Schloss Friedenstein wird vordringlich darüber gesprochen, in welchem Raum, in welcher Hängung dieses Bild angebracht werden soll. Ob der Großherzog in einem direkten Kontakt mit seinem Dresdner Nachbar-Regenten einen Erwerb erreichen kann, dürfte zweifelhaft sein. Wenn der Großherzog dies versuchen würde, es wäre wünschenswert. Auch darf ich einen aus Frankfurt am Main in Weimar eingetroffenen Besucher vorstellen. Dr. Gerresheimer ist heute eingetroffen und bittet um ein Gespräch, um eine Botschaft aus Ihrer Heimatstadt zu überbringen.“ Der Angesprochene wandte sich dem Gast aus Frankfurt zu, schaute ihn aufmerksam an. „Welch eine Freude, einen Bürger Frankfurts gerade an diesem Abend hier zu sehen. Und wirklich, vor 50 Jahren verließ ich die Mainstadt zur Reise nach Weimar. Wenn man es genauer betrachtet, mein Aufenthalt als Bewohner in Weimar ist doppelt so, lang wie - lässt man die Studienjahre außer Ansatz - als das Wohnen in der Geburtsstadt. Hier bei der großen Anzahl der Anwesenden gibt es wenig Raum, miteinander zu sprechen. Wenn Sie mich morgen Vormittag aufsuchen wollen, Sie sind mir willkommen.“ Dr. Gerresheimer war sehr angetan davon, am kommenden Tag, möglichst unter vier Augen, mit dem Herrn Staatsminister zu sprechen.
Der Großherzog selbst hatte sich der Tischordnung angenommen, um sicher zu stellen, dass an der langen Tafel jene Gäste möglichst zusammen saßen, die miteinander sprechen würden. Es wurde ein vorzügliches Mahl serviert, sämtliche Weine, sowohl die der Unstrut als die vom Rhein waren edle Getränke, die rundum als außerordentlich empfunden wurden. Da bereits am Festbeginn der Großherzog und der Jubilar – dieser mit einer kurzen, aber ebenso emotional geprägten Dankadresse – sich geäußert hatten, gab es keine Tischreden. Es wurde ein gelungenes Fest. Nahezu alle Teilnehmer äußerten sich beim Verlassen des Stadtschlosses überaus lobend. Dr. Gerresheimer, der dem Wein nur mäßig zugesprochen hatte, suchte das Hotel auf, zog sich in seinen Raum zurück, um nachzudenken darüber, wie er am kommenden Morgen dem Geheimrat am gefälligsten seine Botschaft vortragen könne.
Zu angemessener Zeit betrat der Besucher aus Frankfurt das Haus am Frauenplan und wurde sogleich in das Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Dort traf er Goethe und Hofrat Meyer, die sich in lebhaftem Gespräch befanden. Dr. Gerresheimer erwies beiden seine Reverenz und erklärte, dass er sowohl im Auftrage des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main als auch im Auftrage von Professor Bergler gekommen sei, um Herrn von Goethe einzuladen, einen Blick in seine Stadt zu werfen, wie sie sich in 180, 190, 200 Jahren darstelle. Er sei ermächtigt, den Herrn Geheimrat zu bitten, am kommenden Morgen sich bereit zu halten, um in einem Fahrzeug des 21. Jahrhunderts eine ca. einstündigen Reise von Weimar nach Frankfurt zu unternehmen. Herr Hofrat Meyer sei ebenfalls geladen, an dieser Reise teilzunehmen. Die Reise werde unternommen in einem Luftfahrzeug, das am nächsten Morgen ca. 9 Uhr hier in Weimar eintreffen werde. Er, der Frankfurter Bote, sei ein Mensch des 21. Jahrhunderts, er halte sich für fähig, einem Bewohner Weimars aus dem 19. Jahrhundert zu versuchen darzustellen was sich zwischen dem Jahr 1825 und heute verändert habe. Er wisse sehr wohl, dass dies eine überaus schwierige Aufgabe sei um zu versuchen, dem Bewohner einer Stadt wie Weimar zu erklären, wie das Leben in einer modernen Großstadt sich darstellt, wie dies Frankfurt heute ist. Es werde aber dafür gesorgt sein, dass alle Fragen, die der Herr Geheimrat äußern werde, in kürzester Zeit beantwortet werden würden. Falls Herr von Goethe einen persönlichen Bediensteten für diese Reise glaube zu benötigen, so sei eine Mitreise natürlich möglich, es gebe jedoch in Frankfurt jeglichen Service, ein hiesiger Bediensteter sei insofern nicht zwingend erforderlich.
„Wie mag eine derartige Reise möglich sein?“ Herr von Goethe zeigte sich überaus irritiert. Welche Menschen werde er in Frankfurt sehen und sprechen. Er könne sich noch sehr gut an seinen letzten Aufenthalt in seiner Heimatstadt vor 10 Jahren erinnern, der mit mancherlei besonderen Erinnerungen verknüpft sei. Vor allem die längeren Aufenthalte seiner Zeit in der Gerbermühle bei der Familie von Willemer sind von vielfältiger Bedeutung. Ein leichtes Lächeln überzog das Gesicht des Dr. Gerresheimer „ Wenn wir, wie vorgeschlagen, um 9 Uhr hier starten, sind wir ca. 10 Uhr am Römerberg in Frankfurt. Die wichtigsten Honoratioren der Stadt erwarten Sie zu dieser Zeit im Römer. Anschließend werden wir zur Gerbermühle fahren, wo ein Imbiss vorbereitet ist. Professor Bergler ist der Gastgeber, der sehr begierig ist, mit Ihnen über verschiedene Ihrer Texte zu sprechen.“
„Das alles ist mir unvorstellbar, lieber Freund, was ist ein Luftfahrzeug? Wie soll eine solche Reise vonstatten gehen?“. „Das angekündigte Luftfahrzeug wird auch als Hubschrauber oder Helikopter bezeichnet“ erwiderte Dr. Gerresheimer „ Da ist eine Fahrgastkabine, wo auch der Bediener dieser Maschine, der Pilot, mit seinen Instrumenten seinen Platz hat. Ein Maschine, ein Motor liefert Energie, die über eine feste Zuleitung seine Kraft auf langgezogene Metallblätter überträgt. Diese Blätter werden in sehr hohe Umdrehungsgeschwindigkeit versetzt und sind damit geeignet durch geringfügige Einstellungsänderungen das gesamte Fahrzeug in die Luft zu heben und in jede gewünschte Richtung zu lenken. Die Luft ist, wie wir wissen, ein überaus wichtiges Element und kann, wie sich gezeigt hat, unter bestimmten Bedingungen auch Lasten und Gewichte tragen. Jener Motor wird mit einem Produkt in Betrieb versetzt, das die Natur bietet, nämlich Erdöl, das in einigen Regionen dieser Erde in großen Mengen sich im Laufe der Jahrtausende gebildet hat. In den deutschen Landen gibt es nur wenig Erdöllager, dafür gibt es hier, wie Herr Geheimrat wissen, viele und hochwertige Kohlenvorräte, die im Prinzip nichts anderes sind als verfestigtes Erdöl.“ „ Das ist eine überraschende Erläuterung, auch wenn vieles, was zu hören war, unverändert schwer verständlich erscheint. Aber welche Meinung vertritt Hofrat Meyer, den ich nicht nur als wahren Kunstkenner, sondern auch als praktischen, vernünftigen Menschen kennen gelernt habe?“ „Euer Ehren, ich empfinde wie Sie. Es übersteigt alles Vorstellbare. Indessen, die Begegnungen mit unserem Frankfurter Gast haben mir erwiesen, dass es sich um einen ernsthaften Menschen handelt, der seine Worte zu setzen weiß. Wenn, wie Dr. Gerresheimer sagte, Morgen Vormittag ein Luftfahrzeug hier sein werde, wäre dies ein Beleg der Wahrhaftigkeit seines Vortrages. Wir können sodann dieses Gefährt sehen und uns gleichsam spontan entscheiden, ob wir der Einladung folgen und uns diesem Abenteuer aussetzen.“ „Dies ist“, so der Gastgeber, „keine Annahme Ihrer Einladung, sondern allenfalls als Interesse zu verstehen, ob und welche Merkwürdigkeiten die Zukunft – möglicherweise – in sich trägt.“
Man trennte sich. Dr. Gerresheimer wandte sich, nach dem er den Frauenplan betreten hatte, dem Marktplatz zu und durchschritt angrenzende Straßen und Gassen, die ihn auch zum Hoftheater führten. Auf diesem Wege passierte er auch jenes Gebäude, in welchem Friedrich von Schiller von 1799 bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1805 gelebt hatte. Das so ungewöhnliche Miteinander der beiden Weimarer Goethe und Schiller, diese so ungewöhnliche Zusammenarbeit - trotz so unterschiedlicher Mentalitäten – die so überaus üppige Früchte erbrachte, ging dem Stadtwanderer durch den Sinn. Da haben die Sachkundigen im Nachhinein jedwede Zeile, jede Information gesammelt, um die Ursachen zu finden für jene literarische Produktivität, die in den Jahren der Jahrhundertwende vom 18. ins 19. Jahrhundert hier in Weimar entstanden war. Vielleicht gelingt es, Herrn von Goethe hier oder in Frankfurt, wenn er denn morgen die angebotene Reise antritt, dazu zu bringen, dass er sich anhört, wie heute im 21. Jahrhundert über diese Zusammenarbeit und über das, was dabei literarisch entstanden ist, gedacht wird. Ob er diesen Einsichten zustimmen wird, ob er jegliche Erörterung abweisen wird, oder gar, Überraschendes und Zusätzliches zu diesem wichtigen Umstand sagen wird. Alles dieses würde mit Sicherheit sehr aufregend sein.
Bei seiner Rückkehr in das Hotel Elefant eilte der Wirt herbei und überreichte Dr. Gerresheimer ein Billet. Es kam aus der Hand von Hofrat Meyer, der ihn mit wenigen, freundlichen Worten einlud, den heutigen Abend in seiner Wohnung zu verbringen; ein kleiner Imbiss werde gereicht werden. Er würde seinen Gast am frühen Abend erwarten. Ein Hoteldiener geleitete den Gast zum Haus des Hofrates, der ihm für sein Kommen dankte und ihn willkommen hieß. Man setzte sich sogleich zu Tisch. Eine wärmende Suppe wurde aufgetragen, der eine leichte Mahlzeit folgte. Ein Riesling aus dem Rheingau mundete vortrefflich „Herr Dr. Gerresheimer, alles das, was Sie heute im Hause am Frauenplan vorgetragen haben, ist so ungewöhnlich, so unvorstellbar, dass ich von großen Zweifeln nach der Unterredung mit dem Geheimrat erfüllt bin. Und – überdies –ich empfinde große Verehrung für Herrn von Goethe, dessen Bedeutung nicht nur für Weimar, sondern auch darüber hinausgehend mir sehr bewusst ist. War es nicht leichtfertig, dass ich den Geheimrat, der, wie Sie wissen das 76. Jahr zählt, gleichsam animiert habe, dieses überraschende Abenteuer in Erwägung zu ziehen? Sie haben erlebt, was es bedeutet – nur – von Gotha nach Weimar zu reisen. Dazu benötigt man nahezu einen ganzen Reisetag. Die Entfernung von Weimar nach Frankfurt am Main beträgt viele Meilen. Diesen weiten Weg wollen Sie in einer Stunde zurück legen? Wie kann dies nur möglich sein? Und was erwartet den heutigen Besucher einer kleinen Stadt wie Weimar, die etwa 6.000 Bewohner zählt gegenüber einer Stadt wie Frankfurt, die Sie als Großstadt bezeichnet haben. Wie viele Menschen wohnen im 21. Jahrhundert in dieser Stadt am Main?“ „Etwa 600.000 Einwohner zählt derzeit die Stadt. Jedoch muss bedacht werden, dass Tag für Tag mit Ausnahme der Wochenenden noch einmal viele Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung von Frankfurt in die Stadt kommen, um hier ihren Berufen nachzugehen. Aus dem Spessart, aus dem Odenwald, aus dem Vogelsberg, aus Fulda, aus Marburg, auch aus Mainz und Hanau, aus Aschaffenburg kommen die Menschen am Morgen, arbeiten in vielen Berufen und Einrichtungen und verlassen die Stadt am späten Nachmittag oder Abend, um in ihren Wohnorten, wo ihre Familien sich aufhalten, den Abend und die Nacht zu verbringen. Um sogleich Ihre Frage vorweg zu nehmen, wie es möglich sein kann, derart viele Menschen zu transportieren, so ist zu sagen, dass es im 21. Jahrhundert mehrere Transport- und Reisemöglichkeiten gibt. Kluge Menschen haben eiserne Fahrzeuge erfunden, die als übergroße Kutschen auf eisernen Wegschienen sich bewegen und durch eine Maschine, die als Lokomotive bezeichnet wird, bewegt werden. Diese Maschine erhält durch Kohle ihre Kraft. Sie ersehen daraus, dass das, was die Natur vor vielen Jahrtausenden erbracht hat, uns heute dieses alles möglich macht. Diese Gefährte sind in der Lage, viele Menschen zugleich zu transportieren mit einer Geschwindigkeit, die etwa das 10-fache und noch mehr der Geschwindigkeit einer Postkutsche erreicht. Das Land ist überzogen mit derartigen Schienenwegen und versehen mit Einrichtungen, in denen diese Gefährte bestiegen oder verlassen werden können.“
„Aber das wäre ein so völlig andere Weise des Reisens, die vermutlich sehr viel kommoder sein dürfte als das, was unsere derzeitigen Reisekutschen möglich machen, die Sie, Herr Dr. Gerresheimer, auf unserer gemeinsamen Fahrt kennen gelernt haben.“ „ Das ist in der Tat so“ war die Antwort des Angesprochenen „da die Gefährte aus festen Materialien, vorwiegend aus Eisen bestehen – man nennt daher dies auch Eisenbahn – ist der Insasse vor der Witterung – ob Winter oder Sommer – weitgehend bewahrt. Im Winter werden diese Eisenbahnen mit Heizwärme versorgt.“
„Dies ist aber nicht das einzige Mittel, um bequem und relativ rasch, Menschen von einem Ort zum anderen Ort zu bringen. Neben den Eisenbahnen haben andere kluge Menschen einen Wagen, ein Art Kutschwagen, erfunden, der aus eigener Kraft sich bewegen kann. Dieser Wagen wird als Automobil bezeichnet, der Name erklärt somit, dass aus Eigenem eine Bewegung, das movere, entsteht. Und wiederum ist es die Natur, die jene Mittel liefert, die dem Wagen die Kraft zur Bewegung verleiht. Es ist etwas der Kohle Zugehöriges. Sie wissen, dass vor vielen Jahrtausenden in der Geschichte der Erde, große Wälder durch Fluten, Erdbeben oder Stürmen gleichsam untergingen, unter Erdmassen begraben wurden und hieraus jenes entstand, was wir als Kohle bezeichnen; oder aber, sofern es noch nicht sich zu einem festen Zustand entwickelt hatte, als eine Zähflüssigkeit noch besteht und die man Erdöl nennt. Bearbeitet man dieses Erdöl mit Hilfe verschiedener Materialien, mit Erhitzen, mit Pressen, mit Reinigen und Filtern, mit Hinzufügen von Mineralien, so ist diese sodann hergestellte Flüssigkeit geeignet, in Motoren, die in das Automobil eingebaut sind, Kraft zu erzeugen, die jene Automobile antreiben.“
Mit großer Aufmerksamkeit war Hofrat Meyer den Darlegungen gefolgt. Mit einer hastigen Geste wandte er ein „Was Sie berichten, verehrter Dr. Gerresheimer, erscheint mir so unglaublich, dass mir eine Vorstellung hierüber unmöglich ist. Vor allem: in meiner bisherigen Lebensdauer, die bereits eine Reihe von Jahrzehnten umfasst, hat sich in den Lebensumständen, ob es das Wohnen, das Reisen oder ähnliches anbelangt, kaum etwas verändert. Meine Vorfahren sind ebenso beschwerlich gereist, wie wir dies gestern erlebt haben. Hatten diese Menschen, die nach uns kamen, soviel mehr Kenntnisse und Fertigkeiten, dass sie in 150 Jahren oder ein wenig mehr, derartige Wunder, die Sie beschrieben haben, finden oder erfinden konnten? Kann dies denn sein? Sind die Schulen, die Universitäten, in denen soviel Erfindergeist gelehrt wird, soviel besser als etwa unsere alma mater in Jena?“
„Ob die derzeitigen unteren, mittleren oder Hohen Schulen besser sind, ich weiß es nicht“ so die nachdenkliche Entgegnung von Dr. Gerresheimer. „Soweit mir dies bekannt ist – ich bin weder Pädagoge oder Erziehungswissenschaftler – ist aber doch das, was heute unter Pädagogik verstanden wird, nachhaltig geprägt von Autoren, die zu Ihrer Zeit von sich reden machten und die auch heute noch häufig genannt werden. Vor allem ist der Name Pestalozzi weithin geläufig. Auch die Namen Jean Jaques Rousseau, Voltaire und Montesquieu sind durchaus verbreitet. Dabei sind in der breiteren Öffentlichkeit wohl eher die Namen, die vermutlich in den Schulen genannt werden, bekannt und weniger die genaue Kenntnis ihrer Schriften. Diese sind wohl nur den Fachleuten bekannt. Jedoch hat es den Anschein, als sei es förderlich für die heutigen Menschen, im Gespräch die Namen Rousseau oder Voltaire zu nennen, um damit den Schein des Wissenden und Kenners zu erwecken.“
„Das ist erstaunlich“ so die Bemerkung von Hofrat Meyer „Der Herr Geheimrat erwähnt immer wieder gerade Rousseau und hat mehrfach dessen Meinung als zutreffend unterstrichen, auch wenn er zuweilen kritische Bemerkungen über einzelne Gedankengänge in dessen Schriften anschließt, die aber seiner Hochschätzung gegenüber diesem Autor keinen Abbruch tun.“ „Im übrigen“, so schließt Dr. Gerresheimer an, „hinsichtlich der Ihnen wundersam erscheinenden Erfindungen der Neuzeit sollte nicht übersehen werden, dass die Dinge, die in den vergangenen 150 Jahren – zugegebenermaßen in überaus schneller Folge entstanden sind, auf festen Grundlagen des Wissens beruhen und gleichsam in einem fortschreitenden Prozess sich entwickelt haben. Ist der Grund, die Ursache dafür gefunden, wann immer etwas in gleicher Weise vonstatten geht, sind also die Grundlagen bekannt, so ist es leichter darüber nachzudenken, wie kann ein Prozess schneller, besser, erfolgreicher gestaltet werden. Gerade Ihr Zeitgenosse, von dem wir wissen, dass er auch beim Geheimrat in hoher Achtung steht, der ältere der Brüder Humboldt, hat immer wieder auf das, was wir heute Grundlagenforschung nennen, hingewiesen und deren Bedeutung unterstrichen. Es sei in diesem Zusammenhang auch vermerkt, das bis heute in unsere derzeitige Gegenwart hinein die Universität Berlin den Namen Humboldt-Universität trägt.“
Der von Hofrat Meyer kredenzte Riesling aus dem Rheingau war köstlich. Gastgeber und Gast hatten der Intensität ihres Gespräches geschuldet, nicht recht wahrgenommen, dass sie inzwischen bei der dritten Flasche angelangt waren. Hatte der Hofrat am Beginne ihrer abendlichen Begegnung Reserve, Distanz an den Tag gelegt, war inzwischen unübersehbar, dass beide Gesprächspartner Gefallen aneinander gefunden hatten. Sie spürten allerdings auch die Wirkung des Riesling und kamen zugleich zu der Auffassung, dass es Zeit sei, die Zusammenkunft zu beenden. Dr. Gerresheimer dankte in wohlgesetzten Worten für die erfahrene Gastfreundschaft und bat nachdrücklich, am kommenden Morgen 9 Uhr im Haus am Frauenplan zu sein. Um diese Zeit werde das erwähnte Luftfahrzeug ankommen.