Читать книгу Einführung in das Werk Heinrich von Kleists - Johannes F. Lehmann - Страница 6
I. Der Autor: Mythos und Aktualität
ОглавлениеAls Heinrich von Kleist am 21. November 1811, vor gut 200 Jahren, am Berliner Wannsee seinem Leben mit einem Pistolenschuss ein gewaltsames Ende setzte, hinterließ der nur 34-Jährige ein literarisches Werk, das bei den meisten seiner Zeitgenossen weitgehend auf Unverständnis gestoßen war (Breuer 2009, 410–413). Zu schroff, zu brutal, zu blasphemisch und vor allem zu „anstößig“ erschienen die dramatischen und novellistischen Szenen, die hier zu lesen waren: von einer Penthesilea, die Achill aus Liebe wie eine Hündin buchstäblich auffrisst, von dem Selbstmörder Gustav, dessen zerschmetterter Schädel „zum Theil an den Wänden umher“ (DKV II, 199) hängt, von dem Germanen Herrmann, der ein totes Mädchen in Stücke schneiden und diese an die 15 Stämme Germaniens schicken lässt. Von den acht Dramen, die Kleist in seinem kurzen Leben schrieb, wurden nur drei zu seinen Lebzeiten überhaupt aufgeführt (Die Familie Schroffenstein, Der zerbrochne Krug, Das Käthchen von Heilbronn). Besonders demütigend war für Kleist dabei der Misserfolg der Uraufführung der Komödie Der zerbrochne Krug 1808 im Weimarer Hoftheater unter der Leitung Goethes. Auch mit seinen Novellen fand Kleist, nicht zuletzt aus Gründen der Zensur, keine breite Resonanz, und schließlich scheiterten auch seine Zeitschriftenprojekte, zunächst 1808/1809 der gemeinsam mit Adam Müller herausgegebene Phöbus, eine Kunstzeitschrift in Anlehnung an Schillers Horen, sodann, als letztes großes Unternehmen seines Lebens, das anfänglich erfolgreiche Tageszeitungsprojekt: Die Berliner Abendblätter (1810–1811).
Der unverstandene Kleist – Relativierungen
Gleichwohl ist dieser im 20. Jahrhundert dann zum Mythos des Unverstandenen und Unzeitgemäßen stilisierte Befund in zweierlei Hinsicht zu relativieren (Lütteken 2004). Einerseits, weil es bereits zu Lebzeiten Kleists durchaus gewichtige Stimmen gab, die seiner Leistung und seiner Qualität als Dichter den allerhöchsten Rang zusprachen: So erkannte der alte Christoph Martin Wieland, den Kleist 1802/1803 in Oßmannstedt besucht und ihm aus den Entwürfen zum Drama Robert Guiskard vorgelesen hatte, in dem 44 Jahre jüngeren Kollegen die Überbietung alles je Dagewesenen: „Ich glaube nicht zu viel zu sagen“, schreibt Wieland an Georg Wedekind, „wenn ich Sie versichere: Wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespear sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, so würde das sein was Kleists Tod Guiscards des Normanns …“ (LS Nr. 89, 81; hierzu Aufenanger 2010, 63). Auch der Rezensent von Kleists Erstlingsdrama Die Familie Schroffenstein freute sich, trotz mancher Einwände im Einzelnen, im anonym gebliebenen Kleist die „Erscheinung eines Dichters […], aber wirklich eines Dichters!“ (zit. n. Lütteken 2004, 40) ankündigen zu können. Und selbst Goethe, mit dem sich Kleist nach der missglückten Uraufführung des Zerbrochnen Krugs überworfen hatte, erkannte durchaus die dichterische Qualität des Textes, der auf der Bühne durchfiel. Demgegenüber war Das Käthchen von Heilbronn im Grunde von Anfang an (bis heute) ein Erfolg beim Publikum. Von den Erzählungen ist es vor allem Michael Kohlhaas, der schon zu Lebzeiten Kleists und insbesondere bei den Dichterkollegen auf positive Resonanz stieß.
Zu relativieren ist der Befund des von den Zeitgenossen vollständig verkannten Kleists andererseits, weil eben dieser Abstand des Künstlers zu seiner „Mitwelt“ gerade von Goethe und Schiller um 1800 zum Kennzeichen des wahren Künstlers erhoben wurde. Schiller formulierte dies in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) in einer Phantasie vom Dichter, der fern der Heimat aufwachsen soll, um dann, wie Orest (und wie aus einer anderen Zeit) „in sein Jahrhundert“ (Schiller 1993, 5. Band, 591) zurückzukehren, um gewaltsam zu rächen und zu säubern. Ein Künstler, soll das heißen, der mit der „Mitwelt“ paktiert, kann kein wahrhafter Künstler sein: sein eigentliches Publikum ist die „Nachwelt“. Das Publikum besteht zum einen aus der Menge der Vielen, denen zu gefallen zwar lukrativ, aber nicht ehrenvoll ist, und aus den Kennern und Kollegen, die schon jetzt die Nachwelt repräsentieren. So steckt auch noch im heutigen Bild Kleists als dem großen Unverstandenen, Unzeitgemäßen und Antiklassikerein gewisses Maß an undurchschauter Mythisierung, die auf eben diese Klassik und ihre Stilisierung des Autors als Zeitgenosse der Nachwelt zurückgeht.
Kleist als Mythos
Als dieser große Unzeitgemäße seiner Epoche ist Kleist heute nachgerade ein „Mythos der Moderne“ (Breuer 2009, 414). Sein Werk ist sowohl auf den Bühnen als auch in Schule und Universität wie auch in der weiteren literarisch interessierten Öffentlichkeit überaus präsent, ja omnipräsent. Auch außerhalb des Kleist-Jahres 2011 zu seinem 200. Todestag gab und gibt es unzählige Aufführungen seiner Texte, werden Tagungen und Konferenzen veranstaltet, erscheinen Biographien – und sogar editionsphilologische Debatten können eine Zeitlang die überregionalen Feuilletons in Atem halten. (Siehe die FAZ vom 29.3. 2012 und 26.4.2012 sowie die NZZ vom 7.4.2012 und die taz vom 19.4.2012; und zuletzt Der Tagesspiegel vom 21.11.2012).
Dabei spielt sein so zielstrebiges und gleichsam angekündigtes Scheitern im Leben wie sein so theatral und heiter inszenierter Doppelselbstmord eine zentrale Rolle. Gerade das Abweichende, Nicht-Normale, „Kranke“ bzw. Pathologische und Widersprüchliche prägt bis heute das Bild Kleists. Es war der alte Goethe, der die Extreme von Kleists Texten explizit als Symptome einer Krankheit deutete: „Mir erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre.“ (NR, Nr. 274, 208) Es war die literarische und ästhetische Moderne um 1900, die demgegenüber Kunst und Krankheit sich reimen ließ. Gerade als Antipode des klassischen Goethe und dessen Orientierung am Gesunden und am ästhetischen Ideal erscheint Kleist modern, ist er, so der Buchtitel einer Aufsatzsammlung von Hinrich C. Seeba, ein „Abgründiger Klassiker der Moderne“ (Seeba 2012).
Kleist als Reflexionsfigur der Moderne
In der Radikalität, in der Kleist politische, juristische, soziale und emotionale Ausnahmezustände (Pethes 2011) und in der er obsessiv Identitäts-, Sprach- und Ordnungskrisen thematisiert, die er zwischen Liebe, Sexualität, Begehren einerseits und Gewalt, Rebellion, Krieg etc. andererseits ansiedelt, ist er eine zentrale Reflexionsfigur der Moderne. Welche Akzentuierung von ‚Moderne‘ man auch immer zugrunde legt, den Verlust metaphysischer Ordnung, die „Entzweiung und Diskontinuität“ (Ritter 1969), das „Ende der Eindeutigkeit“ (Baumann 1992), die Ambivalenz (Graevenitz 1999), den Bruch zwischen Zeichen und Bedeutung bzw. die Krise der Repräsentation (Foucault), die Beobachtung zweiter Ordnung (Gumbrecht 1998) die Säkularisierung und Singularisierung (Koselleck), die Machtstrategien der Biopolitik (Foucault/Agamben), die Freisetzung von Kontingenz (Luhmann) etc. – Kleists Texte lassen sich auf alle diese Phänomene beziehen.
Kleist hat in seinen Dramen, Erzählungen und Anekdoten die conditio des Menschen in aller Radikalität und in allen ihren Facetten bis an ihre äußersten Grenzen befragt und verfolgt, ohne dabei bei Letztbegründungen (Gott) oder metaphysischen Zielbegriffen (Natur, Leben, Wahrheit) noch Zuflucht suchen zu können. Schon aus Würzburg (im September 1800) schreibt er an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge über die von den Franzosen bedrohte katholische Stadt mit sarkastischem Unterton: „Messen u Hora wechseln immer miteinander ab, u die Perlen der Rosenkränze sind in ewiger Bewegung. Denn es gilt die Rettung der Stadt, u da die Franzosen für ihren Untergang beten, so kommt es darauf an, wer am meisten betet.“ (DKV IV, 113) Vor dem Hintergrund der Alternative von Rettung und Untergang, die in fast allen Texten Kleists eine zentrale Rolle spielt (Lehmann 2011), zeigt Kleist, dass die metaphysischen Instanzen leere Anrufungsadressen für menschliche Deutungsbedürfnisse und Machtinteressen sind: Wenn Josephe in der Novelle Das Erdbeben in Chili für die Rettung ihres Lebens durch das Erdbeben Gott danken will, so endet das damit, dass sie vor der Kirche vom Lynchmob als Sündenbock und vermeintliche Ursache eben dieses Erdbebens erschlagen wird. Und wenn die vier Brüder in der Erzählung Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik in einem Irrenhaus jede Nacht um 12 Uhr nachts das „Gloria in excelsis“ anstimmen, dann tun sie das zwar, weil der „Himmel“ (DKV III, 299) sie bekehrt hat, aber dennoch brüllen sie wie „Leoparden und Wölfe […] zur eisigen Winterzeit, das Firmament“ (ebd., 303) an, als sei es leer (Borgards 2011).
Wenn modern sein heißt, aus einer metaphysisch garantierten Ordnung herausgefallen zu sein, dann befindet sich Kleist sozusagen die längste Zeit seines Lebens im Moment des freien Falls. So radikal, wie er zunächst am Glücksversprechen der Aufklärung festgehalten hat, an dem metaphysisch garantierten Belohnungszusammenhang von Tugend und Glückseligkeit sowie am romantischen Anspruch auf Erfüllung der individuellen Bestimmung in Beruf und Liebe, so scharf und radikal hat er dann die Zertrümmerung dieser Versprechen an sich selbst erfahren. Zwischen diesen beiden Polen, dem absoluten und totalen Anspruch auf Liebe, Glück, Spiegelung seines Ichs, Gerechtigkeit und Wahrheit einerseits und dessen Scheitern an Täuschung, Betrug, Irrtum, Sexualität, Zufall, Fehldeutung etc. andererseits bewegen sich die Texte Kleists. Immer wieder inszenieren sie Sturz (Greiner 2005) und Fall (Pusse 2009), sei es den Sündenfall, sei es den Zufall (Schnyder 2009), sei es den „Hinfall kosmologischer Werte“ (Nietzsche), immer wieder treibt Kleist seine Figuren bis zum Zerreißen ihres Bewusstseins in den Zwiespalt von subjektiver Gewissheit bzw. „innerste[m] Gefühl“ (DKV I, 421) und objektiver Lage.
Suche nach Glück
Kleists Modernität besteht auch darin, dass er – geboren als Adliger und hineingestellt in eine ständische Gesellschaftsordnung, die gerade im Begriffe war unterzugehen – in Fragen der beruflichen Identität und der Liebe bereits das Leben eines Modernen führte: Kleist suchte mit der größten denkbaren Kompromisslosigkeit nach einem individuellen Glück, das als Selbstverwirklichung der eigenen Fähigkeiten und einer Arbeit an sich selbst verknüpft sein sollte, und er suchte nach der Liebe als einem Gegenort unbedingten Vertrauens und Verstehens. Alle ständischen Regeln und auch alle ständischen Privilegien erlebte er als Zwang und als Hindernisse bei der Verwirklichung seines persönlichen Glücks. „Weg mit dem Adel, weg mit dem Stande“ (DKV IV, 153), schreibt er im November 1800 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge. Damit erfährt Kleist geradezu prototypisch jene Grundproblematik moderner Subjekte, wie Hegel sie als prinzipiellen Gegensatz von Ich und Welt beschrieben hat, als die letztlich unmögliche Suche des Einzelnen nach einem völlig passenden Platz in der Welt: „Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt.“ (Hegel, Ästhetik, 658)
Es waren aber im Falle Kleists nicht nur äußerliche Hindernisse, die ihn am Selbstsein hinderten (und daher kam es in seinem Fall auch nicht zur resignativen Anpassung, wie sie Hegel so süffisant und ironisch beschrieben hat), sondern es waren vor allem innerliche Hemmnisse, die tief in die Struktur seines Begehrens, seiner Psychopathologie und seiner Kreativität hineinreichen (aus psychoanalytischer Sicht hierzu Schmidbauer 2011). Dass Kleist bei dieser kompromisslosen und ermüdenden Suche eines für ihn passenden Platzes in der Welt von Anfang an selbst mit dem Scheitern spielt, zeigt derselbe Brief an Wilhelmine vom November 1800: „und wenn ich auch auf dieser Erde nirgends meinen Platz finden sollte, so finde ich vielleicht auf einem andern Sterne einen um so bessern.“ (DKV IV, 152) Und auch bei seinen absoluten Forderungen nach unbedingtem Vertrauen, die er an seine Verlobte richtet, benutzt er Text- und Parallelfiguren, wie die Liebenden Max und Thekla aus Schillers Wallenstein-Trilogie, deren Liebe aber gerade scheitert. So unterstreicht Kleist seine Insistenz auf die Instanz des inneren Gefühls und des blinden Vertrauens ausgerechnet mit Anspielungen auf einen Text seiner unmittelbaren Gegenwart, der wie kaum ein zweiter das Scheitern dieser Instanzen thematisiert (Bisky 2007, 91).
Sprachkritik und Krise der Zeichendeutung
Das führt zu einem weiteren Aspekt seiner Modernität: In dem Maße, wie Kleist die Verwirklichung des Glücks als Identität mit sich selbst einklagt und in dem Maße, wie er Kommunikation und Liebe als ein totales Verstehen jenseits sprachlicher Vermittlungsanstrengungen begreift, stößt er auf die dem entgegenstehende Erfahrung einer unhintergehbaren zeichenvermittelten Differenz zu allen anderen, aber auch zu sich selbst. An seine Halbschwester Ulrike schreibt er am 5.2.1801: „Und gern möchte ich Dir Alles mittheilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, u wenn es auch kein weiteres Hinderniß gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mittheilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen, u was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht Alles zeigen kann, nicht kann, u daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden.“ (DKV IV, 196) Dass Verstehen ein Deuten und Fehldeuten aus Bruchstücken ist, das hat Kleist in seinen Texten dann immer wieder inszeniert und minutiös analysiert. Zeichen sind nicht stabil mit einem Referenten verbunden, sondern Bruchstücke und Elemente von Situationen und Kontexten, sie sind flüchtig und gewinnen ihre Bedeutung nur je und je (Bartl 2005). Wie sehr diese Instabilität und Unzuverlässigkeit aller Zeichen, auf die das Bewusstsein aber notwendig verwiesen ist, auch das Selbstverhältnis des Menschen untergraben kann, beschäftigt Kleist in seinem berühmten Text Über das Marionettentheater. Kleist stellt hier die Marionette, die kein Bewusstsein hat, dem unendlichen Bewusstsein Gottes gegenüber: Nur so könne es „Grazie“ geben, d.h. eine völlige Selbstidentität jenseits von Zeichen und Deutungen. Der gefallene Mensch dagegen steht gleichsam dazwischen, er ist mit seinem Bewusstsein unrettbar in sich selbst zerfallen, ist verwiesen auf Bilder und Spiegel, auf Worte und Zeichen. Und deren Komplexität, deren Doppeldeutigkeit kann Kleist gerade im Medium der Literatur nicht nur darstellen, sondern zugleich selbst vorführen und hier auch als Autor, soweit wie sonst nirgends, beherrschen.
Abb. 1: Bei dieser Miniatur von Peter Friedel aus dem Jahr 1801 handelt es sich um das einzige Kleist-Bildnis, das durch den Autor selbst bezeugt ist. Kleist ließ es für seine Verlobte Wihelmine von Zenge anfertigen. Am 9.4.1801 schrieb er an Wilhelmine: „Beifolgendes Bild konnte ich, wegen Mangel an Geld, das ich sehr nöthig brauche, nicht einfassen lassen. Thue Du es auf meine Kosten. Einst ersetze ich sie Dir. Mögtest Du es ähnlicher finden, als ich. Es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht gefällt, ich wollte er hätte mich ehrlicher gemalt – Dir zu gefallen, habe ich fleißig während des Malens gelächelt, u so wenig ich auch dazu gestimmt war, so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte. Du hast mir so oft mit der Hand die Runzeln von der Stirn gestrichen, darum habe ich indem Gemälde wo es nicht möglich war dafür gesorgt, daß es auch nicht nöthig war. So, ich meine so freundlich, werde ich immer aussehen, wenn wenn – o Gott! Wann? – Küsse das Bild auf der Stirn, da küsse ich es jetzt auch.“ (DKV IV, 723)
Es sind nicht zuletzt diese expliziten und impliziten Auseinandersetzungen Kleists mit Fragen des Verstehens und Missverstehens, mit Problemen und Handlungen der Interpretation, der Funktionsweise von Zeichen und Medien sowie des Zusammenhangs von Körper, Gewalt und Sprache, die Kleists Texte für die Literaturwissenschaft und alle ihre neueren und neuesten turns so attraktiv macht, dass Kleist zu einem der am häufigsten interpretierten Autoren der deutschsprachigen Literatur überhaupt zählt. Kann sie doch hier, wie selten sonst, ihre eigenen theoretischen Probleme und Debatten zu Theorien und Methoden des Verstehens erproben (Wellbery 1985).