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II. Heinrich von Kleist als Gegenstand der Forschung

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Die literatur- und kulturwissenschaftliche Sekundärliteratur zu Kleist ist inzwischen unüberschaubar geworden (Breuer 2009, 404). Aber auch die ältere Forschung, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts als politisch-nationalistische (etwa zum Preußen-, respektive Germanentum Kleists), als psychologisch-biographische (etwa zur Kant-Krise) und dann auch zunehmend als literatur- und geistesgeschichtliche Forschung (etwa zum Verhältnis von Kleist und Goethe) einsetzt, ist von beachtlicher Quantität (und auch Qualität). Die Kleist-Bibliographie von Georg Minde-Pouet umfasst allein für die Jahre von 1914–1921 130 Seiten (Minde-Pouet 1922/1923). Insbesondere der 100. Todestag 1911 und der 150. Geburtstag 1927 hatten eine Fülle von Auseinandersetzungen und Stellungnahmen zu Kleist zur Folge.

Wiederentdeckung Kleists seit 1871

Die Wiederentdeckung Kleists, seine „Dichterrenaissance“ (Lütteken 2004) seit der Reichsgründung 1871, kreiste um zwei Pole, die jeweils ganz verschiedene Texte und Probleme fokussierten. Zum einen und zunächst stand der politische Pol des sich bildenden nationalen Kleist-Mythos im Vordergrund; hierbei spielten vor allem die Dramen Die Herrmannsschlacht, Prinz Friedrich von Homburg sowie die Erzählung Michael Kohlhaas eine entscheidende Rolle. Zum anderen ging es um den ästhetischen und biographischen Pol, insofern Kleist parallel zur literarischen Moderne als Ahnherr der literarischen Avantgarde mythisiert wurde. Hierbei stand vor allem das Drama Penthesilea im Zentrum.

Nationalistische Vereinnahmungen

Mit der Reichsgründung 1870/71 und der nun beherrschenden Stellung Preußens im Wilhelminischen Kaiserreich wurde Kleist, der Zeitgenosse der napoleonischen Befreiungskämpfe und Autor des Gedichtes Germania an ihre Kinder und des Textes Katechismus der Deutschen, mehr und mehr zum preußischen und dann auch zum nationalen und nationalistisch-chauvinistischen Sprachrohr stilisiert. Diese vaterländische Vereinnahmung Kleists als „eines deutschen Dichters und preußischen Patrioten“ (Steig 1902, III), wie stark auch immer sie durch spezifische Ausblendungen erkauft werden musste, konnte sich leicht auf jene politischen und dramatischen Schriften berufen, in denen Kleist sich insbesondere ab 1808 mit Vehemenz an der geistig-militärischen Mobilmachung gegen Napoleon beteiligt hatte.

Die Zeitschrift

Im Vorwort einer geplanten, aber nicht zustande gekommenen Zeitschrift mit dem Titel Germania schreibt Kleist unter vielfacher Anspielung auf Klopstocks Bardiet Hermanns-Schlacht „Hoch, auf dem Gipfel der Felsen, soll sie sich stellen, und den Schlachtgesang herab donnern ins Thal! Dich, o Vaterland, will sie singen;“ (DKV III, 493). Kurz zuvor hatte Kleist in seinem eigenen Drama Die Herrmannsschlacht, das „einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet war“ (DKV IV, 432), eine radikale Feindschaft (gegen die Franzosen) propagiert und vor allem das ganze Spektrum ihrer Mittel vorgeführt, die sich nun, im Zuge der Reichsgründung und der Einweihung des Hermanns-Denkmal 1875, auf Bismarck und die im Krieg gegen Frankreich gewonnene nationale Einheit übertragen ließen (Lütteken 2004, 171). Diese Lesart Kleists blieb über den Ersten Weltkrieg hinaus bis in die Zeit des Nationalsozialismus ein prägender Strang der (zum Teil selbst tief in die NS-Ideologie verstrickten) Kleist-Forschung (Werber 2006).

Kleist und die ästhetische Moderne

Gegenüber diesem nationalistischen, „rechten“, hat man in der Forschung, die Lage freilich sehr vereinfachend, von einem „linken“ Kleist-Mythos gesprochen (Kanzog 1988). Dieser betrifft den zweiten Pol, den oben bereits erwähnten Kleist-Mythos der ästhetischen Moderne. Hatten die nationalistischen und politischen Lektüren sich eher auf den späten Kleist konzentriert und den Zusammenbruch Preußens 1806 als das entscheidende biographische Krisenerlebnis ausgemacht, so arbeitet der „linke“, moderne und an der Ästhetik interessierte Mythos gerade mit den Texten, die von der nationalistischen Deutung übergangen wurde, da sie ihr nicht zu integrieren waren. Eine prominente Rolle spielte hier Kleists skandalträchtiges Drama Penthesilea. Vor dem Hintergrund einer um 1900 grundsätzlichen Umwertung des ‚Kranken‘ zu einem positiven Merkmal des Künstlers und Zeichen seiner Nicht-Normalität, aus der heraus er seine Werke schafft, konnten nun die bis dato abschreckenden und abstoßenden Gewaltsamkeiten in Kleists Leben und Werk neu gewertet und gewürdigt werden (Lütteken 2004, 244–274). Waren noch bis Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem für die nationalistisch-soldatischen Vereinnahmungen, Kleists wenig geglücktes Leben und vor allem sein unehrenhaftes Sterben ein Problem, so gewann nun – vor dem Hintergrund von Psychoanalyse und Psychopathographie – Kleists Pathologie als Voraussetzung und Erklärungsgrund seiner Texte neue Aufmerksamkeit. So leitete die sexualpathologische Lektüre der Penthesilea von Richard von Krafft-Ebing in seiner Psychopathia sexualis (1892) „einen Wendepunkt in der Kleist-Deutung ein. Seine Lesart macht Kleist zum modernen Autor“ (Wübben 2011, 167).

Isidor Sadger

Als eines der frühesten Beispiele literaturwissenschaftlicher Provenienz ist hier das Buch des Wiener Psychoanalytikers und Literaturkritikers Isidor Sadger aus dem Jahr 1910 zu nennen: Heinrich von Kleist. Eine pathographisch-psychologische Studie, das bereits auf Vorarbeiten seit 1897 zurückgeht. Sadger glaubt hier, Kleists Patriotismus wie seinen Doppelselbstmord auf einen „Mutterkomplex“ zurückführen zu können, der verantwortlich sei für dessen Maßlosigkeit und damit auch für die Extreme seiner Texte. Es gibt kaum eine Diagnose der frühen Psychiatrie, die im Kontext dieser biographisch-pathographischen Forschung nicht auf Kleist projiziert wurde, von der Paranoia bis zur Dementia praecox, von der Neurasthenie über Sadismus bis zur Päderastie. (So die Auflistung bei Rahmer 1903, 6,7). Und auch da, wo nicht dezidiert psychiatrische bzw. psychoanalytische Theorien Pate stehen, kreist die frühe Kleistforschung um den inneren Zusammenhang von Leben und Werk (vgl. Rahmer 1903; Meyer-Benfey 1911; Gundolf 1922; Fricke 1929/1963).

Paul Kluckhohn

Entsprechend bestritt der Germanist Paul Kluckhohn 1913 mit einem Vortrag zu Kleists Penthesilea seine Antrittsvorlesung in Münster. Kluckhohn will zeigen, wie sich in Penthesileas innerem Identitätskonflikt zwischen dem Gesetz des Staates und ihrer individuellen Liebe zu Achill Kleists eigener Konflikt im Ringen um seine Identität als Dichter gegenüber den Forderungen seiner Herkunft spiegelt. Was Achill für Penthesilea sei, nämlich Objekt und Auslöser der größten Liebe wie der tiefsten Enttäuschung, dies sei für Kleist sein Bemühen um und sein Scheitern am Guiskard: „Kleist verbrennt sein Guiskardmanuskript, Penthesilea tötet und zerfleischt den Achill.“ (Kluckhohn 1914/1967, 44)

Gerhard Fricke

Gerhard Fricke hat in seinem berühmten und bis heute noch zitierten Buch Gefühl und Schicksal bei Heinrich von Kleist. Studien über den inneren Vorgang im Leben und Schaffen des Dichters aus dem Jahr 1929 diese Interpretation aufgegriffen. Die Penthesilea sei aus der „innersten Seele des Dichters“ erwachsen, namentlich aus Kleists Konflikt zwischen seiner „existentiellen Verbundenheit“ mit den Gesetzen seiner Herkunft und seinem ebenso unhintergehbaren Insistieren „auf das zur Freiheit eigenen Selbstseins berufene Ich.“ (Fricke 1929/1963, 104)

Frühe Editionen

Diese ins „riesenhaft angewachsene Kleist-Literatur“, die, wie Fricke bereits 1929 anmerkt, „kaum noch zu übersehen sei“ (Fricke 1929/1963, 1), wird begleitet von intensiven editionsphilologischen Bemühungen um das Gesamtwerk. Diese Bemühungen setzen bereits kurze Zeit nach Kleists Tod ein. Eine erste posthume Ausgabe von Kleists Werken besorgte – nebst einer ausführlichen biographischen Darstellung – Ludwig Tieck im Jahr 1821. Erstmals erschienen hier die beiden Dramen Prinz Friedrich von Homburg und Die Herrmannsschlacht im Druck. 1826 ließ Tieck dann noch eine Edition der Gesammelten Schriften folgen, in der er allerdings umfangreiche Änderungen im Sinne einer Korrektur vermeintlicher Fehler Kleists vornahm. Eine erste historisch-kritische Ausgabe, so zumindest der Untertitel, erschien im Jahr 1885. Der Herausgeber Theophil Zolling berücksichtigte neben den überlieferten Drucken zu Lebzeiten Kleists erstmals auch die (wenigen) verfügbaren Handschriften, die er als Faksimiles seiner Ausgabe beifügte (Hamacher 2009, 11–13). Der Germanist Erich Schmidt edierte dann 1904–1906 eine Ausgabe, die zwar philologisch wieder weit weniger kritisch war, dafür aber zur Kanonisierung und Popularisierung Kleists stark beitrug. Gleichzeitig bemühten sich verschiedene Forscher um die Sammlung und Auffindung der Briefe, der sogenannten Kleinen Schriften wie auch der Berliner Abendblätter (hierzu vor allem Steig 1901).

NS-Verstrickung der Kleistforschung

Viele der hier genannten Kleistforscher traten im Dritten Reich der NSDAP bei oder sympathisierten mit den Nationalsozialisten (Georg Minde-Pouet, Benno von Wiese, Gerhard Fricke, u.a.). Gerhard Fricke etwa hielt am 10. Mai 1933 bei einer Bücherverbrennung in Göttingen eine Brandrede und war später leitendes Mitglied im NS-Dozentenbund, der sich für die Reinigung der Universitäten von Juden einsetzte. Georg Minde-Pouet, Vorsitzender der 1920 gegründeten Kleist-Gesellschaft, sorgte für deren Gleichschaltung und verlangte ab 1934 von allen Mitgliedern einen Ariernachweis (Scholz 1996). Eben diese Germanisten lehrten dann bis in die 60er Jahre hinein auf Lehrstühlen der Germanistik (Benno von Wiese bis 1970 in Bonn; Gerhard Fricke bis 1966 in Köln) in der Bundesrepublik. Zwar war Kleist auch in Exil und Widerstand stark rezipiert worden (Maurach 2007), dennoch setzte eine erneute intensive und bis heute anhaltende Kleist-Forschung erst – mit der kritischen Aufarbeitung des nationalistischen Kleist-Mythos – seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein.

Forschungen seit dem linguistic turn

Hatte die ältere Kleistforschung mit Mitteln der Einfühlung nach dem Zusammenhang von Leben und Werk, Erlebnis und Weltanschauung gefahndet, so werden Kleists Texte seit den 60er Jahren vor dem Hintergrund sprach- und zeichentheoretischer Reflexionen zunehmend als metatheoretische Spiele bzw. Reflexionen über das Funktionieren von Zeichen, Sprache und Bedeutung analysiert. Was Walter Müller-Seidel in seinem viel beachteten Buch Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist (1961) noch motivgeschichtlich umkreist, wird dann im Zuge der Debatten um Strukturalismus und Dekonstruktion zu einem Testfall literaturtheoretischer Fragen selbst. In der Tat zeigt Kleist in seinen vielen Szenen der wechselseitigen Verkennung immer wieder – und geradezu obsessiv –, dass Zeichen täuschen und dass sie vor allem dann täuschen, wenn man ihre situative und kontingente Bedeutungsdimension verkennt und glaubt, ihnen stattdessen ein festes Signifikat zuordnen zu können. So deuten die Schroffensteiner aus dem Hause Rossitz die Zeichen des toten Sohnes fälschlich als Indizien für Mord, so deutet Achill Penthesileas tödliche Kampfabsicht fälschlich als nicht ernst gemeint und Gustav in der Verlobung in St. Domingo schließlich missdeutet seine Fesselung durch Toni, mit der sie ihn retten will, als Verrat. Mit der Fehllektüre der Figuren ist zugleich aber die Frage nach der Lektüre des Textes durch den Leser gestellt. Soll man Kleists Texten eine feste Bedeutung, eine Intention zuweisen oder aber herausarbeiten, dass sie das Problem der Lesbarkeit von Zeichen selbst thematisieren? Vor diesem Hintergrund versammelte David Wellbery 1985 acht Aufsätze, die anhand der Erzählung Das Erdbeben in Chili verschiedene theoriegeleitete Zugänge erproben. Auf der Grundlage der Einsicht des Begründers des Strukturalismus, Ferdinand de Saussure, dass Bedeutung ein Effekt von Verschiedenheiten im System der Sprache ist und sich nicht aus einem wie auch immer gedachten Bezug auf die Wirklichkeit ergibt, kann Wellbery in seinem literatursemiotischen Beitrag Kleists Text als ein „geschichtetes Gefüge von Strukturen“ (Wellbery 1985, 70), d.h. als ein besonders dichtes und komplexes System von Relationen und Verschiedenheiten beschreiben. Nicht Subjekte mit ihren Handlungen stehen hier im Vordergrund, sondern politische, familiale, religiöse und juristische „Codierungen“, an deren Grund, so Wellbery, jeweils die Gewalt liege (vgl. auch Schneider 2001). Werner Hamacher plädiert demgegenüber in seinem der poststrukturalistischen Literaturtheorie verpflichteten Beitrag im selben Band dafür, Literatur überhaupt nicht als Darstellung zu fassen. Vielmehr sei Literatur gerade die Infragestellung, die Dekonstruktion von Darstellung, und Kleists Text über das Erdbeben führe dies als das „Beben der Darstellung“ vor (Hamacher 1985). Für die Verfechter der Dekonstruktion ist Kleist ein Lieblingsautor, kommen doch seine Texte einer Lektürepraxis entgegen, die jeweils die sprachlichen und rhetorischen Strategien beleuchtet, die den geäußerten Sinnkonstruktionen zuwiderlaufen und diese unterminieren.

Jüngste Editionen

Beide Ansätze, der semiotische wie der dekonstruktive, üben einen Blick auf (Kleists) Texte ein, der auf der Mikroebene der Zeichen und der Materialität der Schrift nach Sinn und Sinndurchkreuzungen sucht. Die Eigenheiten der Kleistschen Orthographie (zum Beispiel Rechtgefühl statt Rechtsgefühl im Michael Kohlhaas), der Zeichensetzung (Sembdner 1962) sowie der vielen vermeintlichen Fehler in Kleists Texten erscheinen vor diesem Hintergrund als weites Feld für die Interpreten Kleistscher Zeichenspiele. Die vielen Paradoxa und Widersprüche Kleistscher Sätze können nun als Bewegungen des Textes und Unterminierung eines geschlossenen Sinns interpretatorisch und editorisch ernst genommen werden. Roland Reuß, Peter Staengle und Irmgard Harms, die Herausgeber der historisch-kritischen Brandenburger Kleist-Ausgabe (BKA; 1988–2010) gehen hier sicher am weitesten. Das betrifft einerseits die anfangs umstrittene, heute allseits anerkannte Ausgabe selbst, die nicht versucht, aus verschiedenen Textstufen eine ideale Lesart herauszuarbeiten, sondern die alle vorhandenen Textstufen als im Grunde gleichrangig behandelt und ohne jede Vereinheitlichung oder Modernisierung abdruckt. Die zweite jüngere historisch-kritische Edition der Werke Kleists, die vierbändige Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag (DKV; 1987–1997) bietet dagegen die im Druck überlieferten Werke in modernisierter Orthographie, die handschriftlichen Texte, d.h. vor allem die Briefe, aber in unveränderter Form. Die DKV hält gegenüber der BKA außerdem am Prinzip fest, die Texte zu kommentieren und historisch zu situieren und zu erläutern mit jeweils ausführlichen Informationen zu Entstehung, Wirkung, Struktur und Gehalt.

Roland Reuß hat die, auch für die übrige Editionswissenschaft und -praxis epochemachende Brandenburger Kleist-Ausgabe (Hamacher 2005), mit einzelnen Aufsätzen zu Kleist über zwei Jahrzehnte begleitet, die er 2010 in einem Band mit dem Titel Kleist-Versuche neu publiziert hat (Reuß 2010) und die jeweils interpretatorische mit editorischen Fragen überkreuzen. In einem Text mit dem vielversprechenden Untertitel „Eine Einführung in Kleists Erzählen“ zeigt er an Hand der Novelle Die Verlobung in St. Domingo, welchen Sinn ein so unscheinbares Zeichen wie ein Apostroph haben kann: Zu Beginn des zweiten Teils des Textes heißt es: „Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies’t.“ (DKV III, 238, die Ausgabe folgt hier der BKA) Was erfolgte, ist der Beischlaf von Gustav und Toni, sozusagen der Vollzug der Verlobung, der durch diesen Satz als Reflexion des Lesens erzählt und zugleich nicht erzählt wird. Dem korrespondiert das Apostroph als Auslassungszeichen für das „e“ im Verb „lieset“, das aber hier gerade deshalb mitgelesen wird, weil auf seine Weglassung im Text hingewiesen wird (Reuß 2010, 281). Das Apostroph korrespondiert so der Selbstreflexion des Erzählens und des Lesens, die Kleist hier betreibt, und ist insofern auch im Druckbild, so Reuß, unbedingt zu erhalten. (Zur Forschungsdiskussion Nehrlich 2012).

Dekonstruktion

Wie sehr Kleist in seinen Texten die kommunikativen, semiotischen und medialen Prozesse des Schreibens und des Lesens selbst thematisiert (Theisen 1996), hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Paul de Man in der wohl wichtigsten dekonstruktiven Lektüre zu Kleist an Hand von dessen berühmtem Aufsatz Über das Marionettentheater gezeigt (de Man 1988, 205–233). Am Ende des Textes ist es ein Bär, der als „Figur des Über-Lesers“ (ebd., 225) einem Fechter gegenübersteht und immer schon weiß, ob der Fechter einen Stoß nur vortäuscht oder ihn wirklich vollziehen wird. „Aug’ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.“ (DKV III, 562) Darin sieht de Man einen Kampf zwischen Leser und Autor um die Herrschaft der Bedeutung (de Man 1988, 212, 224). Von der Unmöglichkeit dieser Herrschaft handelt, so de Man, der Text: Wie der Fechter so die Sprache: „sie stößt immer und trifft nie. Sie referiert immer, aber nie auf den richtigen Referenten.“ (de Man 1988, 227)

Kulturwissenschaftliche Lektüren

Neigen die an den Theorien von Strukturalismus und Poststrukturalismus orientierten Lesarten im Zuge des linguistic turn zu intensiven Lektüren, d.h. zu Analysen der „sprachlichen Textur oder der Instanz der Sprache in ihr“ (Campe 2008, 9), so gibt es demgegenüber viele Forschungsansätze, die man als extensiv beschreiben könnte: sie kümmern sich – im Zuge des cultural turn in den 90er Jahren – vor allem um die kulturellen Bezüge der Texte, z.B. um Aspekte der Geschlechterdifferenz und der Sexualität, um juristische, (bio-)politische, religiöse und militärische Diskurse, um medientheoretische Fragen etc. Vor dem Hintergrund der Erweiterung der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft, wie sie sich, nicht zuletzt inspiriert durch die Diskursanalyse des französischen Philosophen und Kulturtheoretikers Michel Foucault, etabliert hat, ist die so hochfrequente und breite Forschung zu Kleist der letzten 25 Jahre zu sehen. Vor dem Hintergrund der vielfältigen methodischen und theoretischen Fokussierungen ist es nicht einmal mehr möglich, zu einzelnen Texten zentrale Kontroversen herauszuarbeiten, vielmehr fächert sich die Kleistforschung in eine kaum mehr übersehbare Fülle von analysierten Motiven, Intertexten, Problemkonstellationen und kulturellen Kontextualisierungen auf. Exemplarisch kann man das an den Interpretationen zu Kleists kurzem Text Das Bettelweib von Locarno zeigen. Neben eher intensiven, der Dekonstruktion verpflichteten Lektüren, die die Widersprüche und Bildbrüche eines unzuverlässigen Erzählers thematisieren (Pastor/Leroy 1979; Buhr 1997), gibt es extensive Lektüren, die den Text auf ökonomische Fragen beziehen (Landfester 1998), auf Probleme der Geschlechterdifferenz (Schulz 1974; von Wilpert 1990), auf feudale Machtstrukturen (Fischer 1988; Jürgens 2001), Kritik an der Aufklärung (Grawe 1974), auf das Medium des Gerüchts (Lehmann 2006), den ästhetischen Begriff der „Grazie“ (Greiner 2000), die Chaostheorie (Howard 2000), die Gattung der Sage (Niehaus 2012) und und und.

Vor dem Hintergrund der von Kleist in seinen Erzählungen sogenannten „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ (DKV III, 27, ebd., 186) stehen sämtliche Aspekte von Kultur bzw. Kulturalität zur Diskussion. Was aber meint die Rede von der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“, die in fast jedem neueren Forschungsbeitrag zu Kleist zitiert wird? Sie zielt auf die Brüchigkeit und Kontingenz (auch dies zwei aus der Kleistforschung nicht wegzudenkende Begriffe) der kulturellen Ordnung, auf die Momente der Gewalt, der Lüge, der Täuschung, der Macht, des Unrechts und des Begehrens, die an der Herstellung und der Aufrechterhaltung der Ordnung ebenso mitwirken, wie sie sie zugleich unterminieren. Gebrechliche Einrichtung der Welt ist insofern ein Synonym für „Kultur“, in der – vor diesem Hintergrund – alle selbst kulturell bedingten Ansprüche auf absolute Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Verstehen scheitern.

Kultur als Gewebe von Texten und von sprachlichen wie nicht-sprachlichen Bedeutungspraktiken wird in den neueren Forschungen zu Kleist vor allem im Hinblick auf folgende Aspekte untersucht: 1.) Sprache und Zeichen (Stephens 1999, Kapp 2000, Heimböckel 2003, Bartl 2005, Holz 2011), 2.) Geschlecht und Begehren (Emig 2000, Künzel 2003, Berroth 2003, Gallas 2005), 3.) Macht, Gewalt und Institutionen, wie Staat, Justiz, Militär, Nation, aber auch Ehe und Familie (Kittler 1987, Gönner 1989, Neumann 1994, Pethes2011), 4.) Repräsentation und Darstellung (Greiner 2000, Campe 2008, Benthien 2011) sowie 5.) die Rolle der Naturwissenschaften (Schmidt 1978, Lorenz 1991, Daiber 2005, Borgards 2005).

Einführung in das Werk Heinrich von Kleists

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