Читать книгу Monokultur. Alternative für Andi - Johannes Finkbeiner - Страница 5

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»Hast du das auch gesehen, das mit dem Islam-Mörder?«, fragte Andis Mutter, kaum dass er das Haus betreten hatte. Andi hatte eigentlich noch mit Ingo sprechen wollen, doch der war sofort nach seiner Kündigung abgehauen. Er hatte ihm nur noch kurz zugeflüstert, er habe sämtliche Arbeitsdateien von seinem Rechner gelöscht. Andi war dann direkt zu seinen Eltern nach Grafenberg gefahren. Er würde Ingo am Wochenende mal anrufen.

»Was denn für ein Islam-Mörder?«, entgegnete Andi genervt. Seine Mutter war hochanfällig für alle Arten von Skandalmeldungen.

»Ja, das weißt du nicht? Da hat mal wieder so ein Afghane oder was weiß ich seine Freundin erstochen, schwanger war die, und was sagen die Richter? Gerademal fünfzehn Jahre, weil er angeblich wegen seiner Religion in einer Zwangslage oder was weiß denn ich war … Also so langsam reicht es einem doch, wenn man das hört!«

Andi stellte seine Tasche ab und setzte sich im Flur auf einen Stuhl. Das gute Essen würde ihn hoffentlich für das Getratsche entschädigen.

»Und weißt du was, in Frankreich würden die sich das nicht bieten lassen! Da wird wenigstens klar gesagt, was alle denken!« Andis Mutter lebte seit fast vierzig Jahren in Deutschland. Sie unterrichtete Französisch an der Volkshochschule.

»Warum, was denken denn alle Franzosen?« Andi überspielte seine Uninformiertheit wie immer mit Ironie. Er konnte mal wieder nicht mitreden, weil er bei politischen Nachrichten grundsätzlich auf Durchzug stellte. Er wusste selbst nicht so recht, ob Politik ihn tatsächlich nicht interessierte, oder ob es ihm einfach zu schwierig war, sich damit zu befassen.

»Ja, also, die Franzosen, die denken, dass sowas ein Skandal ist! Und wenn so ein Ausländer kriminell ist, dann braucht man den gar nicht mehr groß ins Gefängnis stecken, sondern der gehört direkt abgeschoben!«

»Komisch, ich dachte eigentlich, alle Lehrer wären links«, sagte Andi spöttisch.

»Ich bin vielleicht nicht links, aber auch nicht rechts«, verteidigte sich seine Mutter energisch. »Schau dir doch mal an, was die Konservativen jahrelang mit Frankreich veranstaltet haben! Und die Linken? Pfff! Die machen sich ja nur noch lächerlich, in Frankreich wie in Deutschland. Weder links noch rechts, das ist meine Devise, Andreas! Unser Land braucht eine Alternative! Deutschland braucht eine neue Identität!«

»Ingo ist heute rausgeflogen.«

»Ingo? Das ist doch dein bester Kollege, oder nicht? Der war doch gut, der Mann, warum schmeißt man so einen denn raus?«

»Weil er manchmal ein bisschen unpünktlich war, deswegen.«

»Na, Unpünktlichkeit ist natürlich ein Laster, ein Chef mag sowas nicht, das kann man ja auch irgendwo verstehen, ich meine …«

»Er war der beste Übersetzer, den Dressler je hatte. Der Laden hat bald abgewirtschaftet.«

»Und du? Wie sieht’s für dich und deine Zukunft aus?«

»Ich darf zur Abwechslung auch mal was übersetzen. Ist mal was anderes als immer nur den Leuten hinterherzutelefonieren.«

»Da verdienst du sicher gutes Geld, stimmt’s?«

Andi lachte aus vollem Hals. »Ja, klar, Mama. Da verdiene ich so einen richtig großen Haufen Geld, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

»Na, das ist doch toll, Junge. Das wird eine richtig steile Karriere, Andreas, da wirst du vielleicht berühmt.«

Als Gott das Gehirn seiner Mutter schuf, musste er bei der Belichtungszeit geschlampt haben, dachte Andi, anders waren die dunklen Flecken nicht zu erklären. Er zog es vor, sie in dem Glauben zu lassen, dass ihr Sohn am Anfang einer ruhmreichen Übersetzer-Karriere stand.

»Also, zum Abendessen habe ich Sauerbraten gemacht, ich dachte, das ist vielleicht was für dich.« Andis Miene hellte sich schlagartig auf. »Klaus ist noch auf dem Golfplatz, aber es dauert bestimmt nicht mehr lange. Freust du dich?«

»Klar, Mama. Sauerbraten.«

Andis Vater war seit kurzer Zeit in Rente und hatte nach anfänglicher Depression das Golfspielen für sich entdeckt. Ein Freund hatte ihn ein Mal mitgenommen, und er war sofort und ohne einen einzigen Abschlag ausgeführt zu haben in den Golfclub Grafenberg eingetreten. Seither hatte er kaum noch ein anderes Thema als Putten, Birdie und Handicap, bei jeder Gelegenheit schwafelte er von seiner »neuen Leidenschaft«. Andi hatte trotzdem nicht den Eindruck, dass dieses irgendwie willkürlich gewählte Hobby das so plötzlich aufgebrochene Loch wirklich füllen konnte, in das sein Vater – auf gewisse Weise einem Golfball nicht unähnlich – hineingeplumpst war. Er war ein sehr angesehener Vertriebsmitarbeiter bei Henkel gewesen und hatte bis zum Ende seiner aktiven Zeit nicht selten sechzig Stunden in der Woche gearbeitet.

»Hallo, meine Lieben!«, grüßte Klaus elanvoll und ließ lässig seinen BMW-Schlüssel auf die Ablage fallen. »Hmm, was dringt denn da so verführerisch an meine Fühler … Rheinischer Sauerbraten? Das Lieblingsessen von Papa Klaus … Aber Vorsicht: der Koch ist Franzose! Haha!« Er lachte aufdringlich. Seit Andi denken konnte, gab sein Vater immer denselben Spruch zum Besten, wenn es um die Küche seiner Frau Nathalie ging. Auch mit siebenundsechzig schien ihn sein eigener Humor unvermindert zu amüsieren.

Am Tisch vollzog sich das immer gleiche Ritual. Andis Mutter bediente als Erstes seinen Vater, der sich jedoch selbst bereits derart gebannt zuhörte, dass er von dem Essen auf seinem Teller überhaupt nichts mitbekam. Andi war als Zweiter an der Reihe. Er fing sofort an zu essen und schaufelte ohne vom Teller aufzublicken Sauerbraten und Kartoffeln in sich hinein. Es war wie eine Art Alibi-Handlung, um nicht auf die sterbenslangweiligen Ausführungen seines Vaters eingehen zu müssen. Seine Mutter dagegen brachte sich um dieselbe Strategie, indem sie sich selbst eine so mickrige Portion servierte, dass sie schon nach drei Gabeln fertig war und wohl oder übel als Adressatin des Golfgelabers herhalten musste.

»Also der Dieter, der hat sich ja mal sowas von aufgeplustert mit seinem Eagle, der stand schon mit ’nem Pils auf der Terrasse und hat sich aufgeführt wie Bernhard Langer«, schwadronierte Klaus. »Aber dann, ich sag’s euch: Kommt der Heinz-Jürgen mit ’nem Albatros, und da hat der ja mal so dermaßen dumm aus der Wäsche geguckt, der Dieter, das kann man sich gar nicht vorstellen. Einfach Wahnsinn, der Ha-Jot, ein Albatros, hab ich zum Fränky gesagt. Und jetzt, Nathalie, was meinst du, wie viele Schläge unter Par sind das? Na?«

»Was? Hä? Was denn für ein Paar jetzt, der Dieter und der Ha-Jot, oder was?«

Andi lud sich die Gabel voll.

»Ha, der Dieter und der Ha-Jot!« Klaus feixte wie ein Lehrer, der einen Schüler erwischt, der nicht aufgepasst hat. »Mensch, Nathalie, spielt man denn in Frankreich kein Golf? Ein Albatros! Drei Schläge unter Par, sag ich dir!«

Er ließ seinen Blick triumphierend durch das Esszimmer schweifen.

»Aber ich hab mir da schon so was gedacht, als der Ha-Jot sein neues Pitching Wedge rausgeholt hat, mein lieber Mann …«

Andis Teller war schon halbleer.

»Und du? Wie viele Schläge hast du gebraucht?«, fragte er unvermittelt.

Klaus senkte zum ersten Mal den Kopf und wurde des Sauerbratens auf seinem Teller gewahr. Die Soße war erkaltet und lag in einer viskosen Schicht auf dem dunkelbraunen Fleischstück. Er begann zu essen. Nathalie ergriff routiniert die Gelegenheit für einen Themenwechsel.

»Also, morgen hat ja unsere kleine Arizona Geburtstag, Andreas. Dein Vater und ich haben uns für ein Geldgeschenk entschieden, ich denke, das ist in eurem Sinne?«

Andi kaute seinen letzten Bissen zu Ende. »Ja, is’ okay.« Er schluckte das zermalmte Bratenstück. »Wie viel soll’s denn sein, wenn man fragen darf?«

»Ja, also … Klaus, wie viel soll’s denn jetzt eigentlich sein, fragt der Andreas?«

»Fünfhundert. Fünf Jahre, fünfhundert.«

»Was?« Andi war perplex.

»Ja.« Der Sauerbraten hatte Klaus einsilbig gemacht.

»Okay.«

Andi überlegte. Als er Student an der Heinrich-Heine-Universität war, hatten ihm seine Eltern jede Woche in den Ohren gelegen, wie lange er noch gedenke, an dieser »Einrichtung« eingeschrieben zu sein. Jeden Cent hatte er umdrehen und seinen Vater um dreihundertfünfzig Euro im Monat regelrecht anbetteln müssen. Fünfhundert Euro als Geburtstagsgeschenk für ein Kleinkind erschienen im Vergleich dazu geradezu astronomisch. Hatte das Golfspielen seinen Vater etwa spendabel gemacht?

»Und Janine? Was ist eigentlich mit Janines Eltern?«, meldete sich Klaus angriffslustig zurück. Sein Teller war leer, ein schlechtes Zeichen. Was Andi noch nie hatte ausstehen können, war seine Aussprache des Vornamens seiner Ex; Klaus sagte immer Schanihn.

»Oh Mann, war ja wieder klar, Janines Eltern«, entgegnete Andi genervt. »Die haben’s leider nicht ganz so dicke wie ihr.«

»Also, Andreas!«, ereiferte sich Nathalie. »Wir haben’s dicke, was soll denn das jetzt heißen? Das hört sich ja so an, als hätten wir eine Bank überfallen. Dein Vater hat vierzig Jahre lang hart gearbeitet, wir haben uns das verdient, so ist das!«

»Okay, Mama, keine Panik«, erwiderte Andi gefasst. »Janines Eltern haben eben leider nicht vierzig Jahre lang hart gearbeitet, Janines Mama arbeitet sogar seit zehn Jahren überhaupt nicht mehr, weil sie nämlich seit zehn Jahren tot ist. Und Janines Vater ist leider alkoholabhängig, das alles solltet ihr eigentlich wissen. Und deswegen gibt’s da leider nix zu holen, und vielleicht könntet ihr euch eure dämliche Fragerei damit ein für alle Mal sparen.« Er leerte sein Weinglas. Lange würde er es mal wieder nicht aushalten.

»Andreas, wir geben euch gerne das Geld«, sprang Klaus seiner Frau in einer Mischung aus Herablassung und aufgesetzter Großzügigkeit zur Seite. »Wir wollen nur sicherstellen, dass es in guten Händen ist und einem sinnvollen Zweck dient … Dass ihr Arizona etwas Vernünftiges kauft, verstehst du?«

Andi verschluckte sich und behalf sich mit einer hellrosa Papierserviette. »Verstehe, ja. Ihr glaubt, dass ich euer tolles Geld verprasse, oder was? Oder, dass ich es Janine unter den Weihnachtsbaum lege, ja? Ihr habt sie doch nicht alle! Kauft euch doch selbst erstmal was Vernünftiges und macht etwas Sinnvolles mit eurer Kohle, anstatt sie in neue Golftaschen und Club-Med-Ferien zu stecken.«

Er wischte sich den Mund ab, stand auf und wollte sich fertigmachen, um zu gehen. Nathalie geriet nun tatsächlich in Panik.

»Andreas, bitte! Es ist doch nur gut gemeint! Bitte!«

Andi war schon immer sehr sensibel gewesen, was die Gefühle seiner Mutter betraf. Obwohl er genau wusste, dass sie das ausnutzte, fiel er auch diesmal auf ihr Flehen herein. Er setzte sich wieder.

»Noch einmal, Andreas: Ich denke, Klaus und ich, wir können zu Recht behaupten, dass wir verantwortungsvoll mit unserem Vermögen umgehen. Beispielsweise spenden wir im Moment regelmäßig für die Flüchtlingshilfe. Das muss man sich ja auch erstmal vorstellen: Da kommen diese armen Menschen aus Somalia und Syrien voller Hoffnung hier an, leben zusammengedrängt in Notunterkünften, schlagen sich monatelang mit den Behörden rum, und dann werden sie wieder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt …« Sie führte beide Hände zusammen, so dass sich die Spitzen von Daumen und Zeigefingern in einer Angela-Merkel-Raute berührten. »Für viele ist das sehr schwierig, und deswegen unterstützen dein Vater und ich seit einiger Zeit das Rückkehrprojekt Coming Home, das Flüchtlingen bei der Reintegration in ihrer Heimat hilft. Das ist eine fantastische Initiative, die den Menschen vor Ort ganz unbürokratisch unter die Arme greift … Ich denke wirklich nicht, dass wir unser Geld sinnlos verschleudern. Wir helfen, Andreas, und ich finde, das solltest du anerkennen.«

Andi ärgerte sich ein bisschen, weil er wieder nicht ausreichend informiert war. Dass viele Flüchtlinge kamen, hatte er natürlich mitbekommen, aber chronologische Details, konkrete Zahlen oder etwa politische Stimmungen waren ihm wie immer entgangen. Nicht entgangen war ihm allerdings der Standpunkt seiner Eltern.

»Aha«, spöttelte er, »grob zusammengefasst kann man also sagen, ihr spendet Geld, damit die Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder abhauen. Respekt.«

Nathalie und Klaus sahen ihn irritiert an.

»Andreas, mit dieser Flüchtlingsgeschichte muss man schon sehr sensibel umgehen«, nahm sein Vater einen neuen Anlauf. »Wir alle wissen: Es kommen immer mehr, immer mehr, und dennoch sind wir im wohlhabenden Europa in der Pflicht, diese Leute aufzunehmen. Doch bis zu welchem Punkt?« Andi hatte den rhetorischen Kniff vorausgesehen, sein Vater argumentierte immer nach dem gleichen Schema. »Bis zu welchem Punkt? Viele Menschen kommen heute nach Deutschland und beantragen Asyl, aber oftmals unter einer falschen Identität. Es ist mittlerweile bewiesen, dass beispielsweise viele Albaner sich als Syrer ausgeben – das ist Missbrauch, Andreas, und dagegen muss unser Land vorgehen! Wir können ganz bestimmt nicht alle aufnehmen.«

»Ja, und ich denke, wenn wir welche aufnehmen, dann nur Christen«, sagte Andis Mutter streng.

»Nun ja, Nathalie …«, wandte Klaus beschwichtigend ein. »Nur Christen, das ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Aber ich denke, gerade mit einem Blick auf die deutsche Wirtschaft sollten wir sagen: Ja, wir wollen Zuwanderer, aber nur wenn sie gut ausgebildet sind. Deutschland braucht frische Arbeitskräfte, das wissen wir, und deswegen sollten wir auch von der aktuellen Flüchtlingswelle profitieren. Allerdings sollten die, die wir hier langfristig aufnehmen, auch eine bestimmte Qualifikation oder zumindest ein Potential mitbringen.«

Die reaktionäre Arroganz seines Vaters nervte ihn, doch Andi spürte bereits starken Überdruss in sich aufkeimen. Die ganze Diskussion wurde ihm schon wieder sehr lästig, und er fühlte keinerlei Bedürfnis mehr, seinen Eltern zu widersprechen.

»Was macht eigentlich Céline?«, fragte er mechanisch. »Will sie nicht bald zurückkommen?«

»Céline?«, lachte Nathalie gequält. »Céline geht es so gut wie noch nie, habe ich den Eindruck.« Andi meinte, aus ihrer Stimme Verbitterung herauszuhören.

»Also, für mich ist das ganz klar«, mischte sich Klaus patriarchalisch ein. »Unserer Céline gefällt es in Ost-Asien einfach ausgezeichnet! Sie gewinnt Abstand zu ihrem europäischen Trott, das kann ihr nur gut tun, und sie lernt ganz neue Sitten und Kulturen kennen, das wird sie positiv prägen. Ich denke, das wird für sie eine ganz fantastische Erfahrung.«

»Ich hab das Gefühl, sie hängt da vor allem am Strand rum. Da lernt sie, glaube ich, nicht so wahnsinnig viele neue Kulturen kennen«, widersprach Andi sarkastisch.

»Ich hole das Tiramisu«, sagte Nathalie.

Auf dem Heimweg von der Bushaltestelle Wehrhahn musste er an der Ackerstraße lange an einem Zebrastreifen warten. Es war schließlich ein weißer Golf GTI, der ihn hinüber ließ. Andi hob kurz die Hand, um sich zu bedanken, und erkannte Frau Gassmann am Steuer. Richtig, das war ja ihr Wagen. Er lächelte zum Gruß und bog dann in die Hindenburgstraße ein. Schon hörte er hinter sich den röhrenden Sportauspuff näher kommen. Frau Gassmann überholte ihn und bog dann wiederum etwa fünfzig Meter vor ihm in den Hinterhof der Nummer achtzehn ein, wo sie einen Privatparkplatz hatte. Andi beschleunigte seinen Gang, da er sich für einen Smalltalk mit Frau Gassmann zu schlapp fühlte. Sie war jedoch schon ausgestiegen und fing ihn ab, noch bevor er an der Hofeinfahrt vorbei war.

»Herr Locher, wie geht’s?«

»Tag, Frau Gassmann. Danke, gut, bisschen müde vielleicht. Viel Arbeit zurzeit.« Andi blickte in ihr alterndes, vom Schein einer Straßenlaterne schmeichelhaft beleuchtetes Gesicht. Frau Gassmann war ungefähr gleich groß wie Andi und sehr schlank, fast mager; ihr etwas formloses, brüchiges Haar ließ darauf schließen, dass sie bis vor kurzem Dauerwelle getragen hatte. Sie war wohl zwei oder drei Jahre älter als Andi, so genau hatte sie es ihm nicht sagen wollen, seit sie sich vor etwa zwei Monaten kennengelernt hatten. Andi hatte damals ein Starthilfekabel für Melanies Auto gebraucht. Seither begegneten sie sich regelmäßig, entweder so wie diesmal vor dem Hauseingang, beim Aldi an der Kasse oder auch manchmal zufällig in der Innenstadt. Besonders tiefschürfend waren ihre Gespräche bisher allerdings nicht gewesen, meistens hatten sie sich nur kurz über Supermarktpreise, die Privatisierung der Stadtwerke oder die Darmkrebserkrankung des Oberbürgermeisters ausgetauscht. Frau Gassmanns Facebook-Posts waren demgegenüber geradezu gehaltvoll.

»Viel Arbeit, ja … Freuen Sie sich doch, ist ja nicht mehr selbstverständlich heutzutage. Apropos, Sie sind doch in dieser Übersetzungsfirma da, oder? Ich frage nur, weil ich da einen kleinen Auftrag hätte …«

»Ah ja?«

»Ja, das müsste bis Donnerstag fertig sein, Sie haben bestimmt meine Ankündigung auf Facebook gesehen, oder? Also, wenn Sie mir die Kontaktdaten geben, dann schick ich es am Montag raus … Ja, und wenn Sie am Donnerstag dabei wären, das wär natürlich ’ne tolle Sache, wir brauchen jeden. Überlegen Sie sich’s, es könnte ein historischer Tag für Düsseldorf werden … Und übrigens, ich bin die Gaby.« Sie lächelte herausfordernd.

»Okay, ja. Also ich bin der Andi. Ich schick Ihnen den Mail-Kontakt, kein Problem.«

»Sehr schön. Na dann, schönes Wochenende, Andi, und hoffentlich bis Donnerstag!«

»Tschö.«

Gaby Gassmann wühlte kurz in ihrer Handtasche, fischte den Hausschlüssel heraus und verschwand schließlich im Eingang der Nummer achtzehn. Die Fassade war frisch verputzt, die Fenster waren großzügig und modern. Andis Mietshaus direkt nebenan hatte einen deutlich niedrigeren Standard.

Fluchend stieg er die fünf Treppen zu seiner Wohnung hoch. Während er mindestens ein Mal am Tag die Eiger-Nordwand bezwingen musste, brauchte Gaby Gassmann nur auf einen Knopf zu drücken und schon glitt der Aufzug heran, bestimmt von ThyssenKrupp oder von Kone, das waren die besten. Er dachte an das Gespräch zurück. Was sie da wohl übersetzen lassen wollte? Geert Wilders’ gesammelte Werke vielleicht? Schirinowski? Er hatte gerade die Wohnungstür aufgesperrt, als Rachid in den Gang trat.

»Pilsener? Hast noch eins gut bei mir.«

Andi nahm die Einladung an, obwohl er nach einem langen Tag eigentlich reif fürs Bett war. Sie setzten sich bei Rachid auf die Couch.

»Und? Puppe gekauft?«

»Ja, ’ne richtig schöne sogar. Schwarze Haare, grüne Augen!«

»Na denn, Prost!«

Sie tranken und sagten eine Weile nichts.

»Hab heute ’ne schicke Wohnung besichtigt«, fing Rachid dann wieder an. »Unterbilk, drei Zimmer, Küche, Bad. Fünfundachtzig Quadratmeter, großer Balkon mit Blick auf den Rhein …«

»Eine Wohnung? Wollt ihr umziehen, oder was?«, fragte Andi verblüfft.

Rachid lächelte. »Manchmal hätte ich schon Lust, ja. Altbau, hohe Decken, Stuck … Das ist ein Traum von mir, weißt du. Bei der Arbeit komme ich ziemlich viel rum, was man da so für Sachen sieht …«

»Aber so im Sparpack ‚Zahl eins, nimm drei‘ gibt’s das doch auch nicht gerade, oder?«, fragte Andi immer noch ungläubig. »Ich meine, Unterbilk …«

»Nee, Sparpack nicht. Aber für eine fantastische Lage und deutlich mehr Komfort muss man halt auch mal was locker machen.«

»Ja, wieviel denn jetzt, mach’s nicht so spannend!«

»Wie gesagt, fünfundachtzig Quadratmeter, da bist du in dem Viertel nicht unter tausendzweihundert Euro dabei. So ist nun mal der Mietmarkt in Düsseldorf.«

Andi schluckte. »Und das könntest du bezahlen? Ich meine, ist ja kein Geheimnis, ein Festgeldkonto in der Schweiz habt ihr doch auch nicht.«

»Nein. Aber weißt du, ich habe immer hart gearbeitet, seit ich aus Marokko fliehen musste, und Stück für Stück hab ich mir einen Namen gemacht in meiner Branche. So viele gute Fliesenleger gibt es nicht, und wenn man ab und zu auch mal was … naja, sagen wir, privat macht, dann freut das die Leute und sie kommen gerne beim nächsten Mal wieder. Es lief nicht schlecht bei mir in den letzten Jahren.«

Rachid stand auf und holte zwei neue Bier aus der Küche.

»Warum musstest du eigentlich fliehen?« Andi hatte die Frage schon lange einmal stellen wollen, jedoch aus Scheu vor der Antwort bisher immer gezögert. Heute hatte er genug getrunken, um sich vorzuwagen. Rachid antwortete ohne Umschweife.

»Tja, wenn du in Marokko an nichts glaubst, dann hast du ein Problem. Und ich glaube nun mal nicht an den Islam und habe offen gesagt, dass ich Atheist bin. Außerdem habe ich ein Blog unterhalten, auf dem ich über meine Zweifel am Glauben geschrieben habe. In Marokko hast du dann leider keine andere Wahl als abzuhauen. Der Islam ist Staatsreligion, und ein Gesetz stellt den Versuch unter Strafe, einen Moslem in seinem Glauben zu erschüttern. Dabei habe ich nur gesagt, dass ich alle Religionen respektiere, aber das Recht haben will, rational darüber zu diskutieren. Wir mussten fliehen, doch meine Frau wollte das nicht akzeptieren.« Er schluckte kurz und griff dann schnell wieder nach seinem Bier.

»Was heißt das, nicht akzeptieren?«, fragte Andi, merkte aber sofort, dass er eigentlich hätte verstehen müssen, was Rachid nicht aussprechen wollte.

»Das heißt, sie haben sie umgebracht. Sie wollte sich nicht wegmobben lassen.«

Rachid erzählte, dass er und seine Familie wochenlang Morddrohungen erhalten hatten, nachdem er auf Facebook enttarnt worden war. Ihr Haus war von einem religiösen Mob belagert worden, in ihrer Heimatstadt wurden Protestveranstaltungen gegen sie organisiert. Rachid hatte den Druck sehr schnell nicht mehr ausgehalten und seine Frau zur Flucht gedrängt, doch sie war dagegen gewesen. Eines Abends war sie von einer Kugel getötet worden. Rachid hatte sich daraufhin zunächst mit der damals fünfjährigen Hasna bei Freunden versteckt, bis sie schließlich die Einreiseerlaubnis nach Deutschland bekommen hatten. Über einige Umwege und mit der Hilfe von Verwandten waren sie in Düsseldorf gelandet, wo Rachid Asyl beantragen konnte, um dann relativ schnell als Fliesenleger Fuß zu fassen.

Sie sahen schweigend auf den ausgeschalteten Fernseher.

»Mich haben sie auch weggemobbt«, versuchte Andi schließlich ungeschickt, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Sofort fühlte er sich mies, weil er merkte, dass seine Geschichte vollkommen harmlos gegenüber dem war, was Rachid und seine Familie durchgemacht hatten.

»Wer?«

»Damals, in der Schule. Meine Klassenkameraden. Okay, das ist jetzt echt nicht mit eurem Fall vergleichbar, aber es war halt auch Mobbing.«

»Warum, was hast du denn gemacht?«

»Ja, eben nichts! So wie du, das meine ich ja gerade. Mein Name hat gereicht, um mich zum Deppen der Nation zu machen. Facebook gab’s damals ja zum Glück noch nicht, aber sie haben es trotzdem geschafft, mich fertig zu machen …«

»Dein Name? Versteh ich nicht so ganz. Andi Locher, das ist doch fast wie Max Mustermann.«

»Ja, das schon. So heiße ich aber erst seit ein paar Jahren. Meine Eltern tragen den klangvollen Doppelnamen Lafarge-Locher. Lass es dir einfach mal auf der Zunge zergehen.« Rachid stutzte kurz, dann legte sich ein breites Grinsen über sein Gesicht.

Andi wurde jedes Mal schlecht, wenn er an seine Schulzeit zurückdachte. Sein Nachname war sein Stigma gewesen, und er hatte es seinen Eltern nie verzeihen können, dass sie so dermaßen dümmlich und unbedacht darauf bestanden hatten, ihre Familiennamen zu einem so dämlichen Konstrukt zu kombinieren. Wie sehr hatte er jedes Mal gelitten, wenn seine Lehrer die Namensliste durchgingen und die ganze Klasse daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach. Was für eine schwere Zeit war das gewesen, als seine heranwachsenden Mitschüler langsam verstanden, wie Psychologie funktioniert und ihn mit ihren Spielchen systematisch fertig machten. Das Wort war sein Spitzname geworden und hatte seine Psyche sukzessive unterminiert. Zu spät, viel zu spät hatten seine Eltern verstanden, was vor sich ging, so dass Andi erst zwei Jahre vor dem Abi auf ein anderes Gymnasium wechselte. Sein Selbstwertgefühl war da bereits mit Stumpf und Stiel vernichtet. Alles, was ihm blieb, war, sich so unauffällig wie möglich in die neue Klasse einzufügen und still und leise sein Abitur zu machen.

An der Uni erholte er sich langsam, doch selbst dort kehrte hin und wieder der unerträgliche Namenswitz zurück. Ein Kichern der hübschen Blonden hier, ein Blöken des Hipsters dort genügte, um die alte Wunde wieder aufbrechen zu lassen. Andi blieb unsicher und gewöhnte sich an, sich zu verstecken. In Seminaren hütete er sich davor, eine eigene Meinung zu haben, schwierigen Fragen wich er aus, und bei der Referatsvergabe meldete er sich nie spontan, sondern immer erst am Ende der Stunde im persönlichen Gespräch mit dem Dozenten. Ein Engagement in politischen Vertretungen, etwa dem Asta, kam überhaupt nicht in Frage, und dem Studentensport blieb er ebenso fern wie dem Uni-Orchester, obwohl er recht passabel Trompete spielte. Nur im äußersten Notfall nannte er seinen Nachnamen, was zu den kuriosesten Szenen führte. Auf dem Studierendensekretariat beispielsweise gab er prinzipiell nur seine Matrikelnummer an, und seine Dozenten bat er, ihn einfach Andi zu nennen, was wiederum dazu führte, dass er erst recht auffiel und Neugier weckte. Eine Weile lang nannte er sich daher Anselm Roché, was auch recht gut funktionierte, schließlich aber im Desaster endete, als ein Professor genauer hinschaute und ihn der Fälschung bezichtigte. Letzten Endes kapitulierte er und beantragte offiziell eine Namensänderung, der schließlich in zweiter Instanz stattgegeben wurde. Andreas Locher, was für eine Erleichterung.

»Anselm Roché, mit Akzent auf dem E?«, witzelte Rachid. »Respekt vor deinen Eltern, ganz ehrlich, die haben sich was getraut im Leben. Prost!«

Andi musste lachen. »Prost!«

Monokultur. Alternative für Andi

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