Читать книгу Geschichten am Schienen#Strang - Johannes Glöckner - Страница 6
ОглавлениеDas Riesenspielzeug
…die Liebe zur Eisenbahn ist doch keine Schande, man muss sich nicht schämen, treten sie ruhig ein Madame, das Cupé hat Platz genug, kommen Sie unbesorgt näher, setzen Sie sich Mademoiselle, wenn Sie so wollen, dann habe ich den Platz extra für Sie freigehalten, weil man ja nie weiß in diesen Zügen und in diesem erst recht nicht, da fahren Gauner und Gangster mit, Geheimagenten und gemütliche Greise, wie ich einer sein werde, wenn dieser Zug endlich einmal ankommen ist, aber seien Sie unbesorgt, solange solche Züge überhaupt fahren, ist die Welt wenigstens halbwegs in Ordnung, und wenn dieser hier nicht mehr fährt, dann ist - da können Sie sicher sein - wieder so ein Weltkrieg im Gange, der einer Dame wie Ihnen die Reise von Paris nach Moskau verleidet, Sie um eine gepflegte Konversation wie diese bringt, und das alles nur, weil die Eisenbahn wieder Panzer kutschieren muss, auf denen mit Lehm beschmierte Grenadiere hocken und Liebesbriefe nach Hause schreiben und kaum ist der Brief angekommen, da liegen sie endgültig in der Matsche und sind mausetot, und weil das so ist, sitze ich lieber im Schnellzug von Paris nach Moskau, kann einer Dame von Welt den Hof machen, kann ihr erklären, wie man es mit dem Schlafwagenschaffner anstellen muss, bei welchem Zwischenstopp man auf den Bahnsteig flitzen kann, um noch schnell ein besonderes heimisches Bier, das nur in dieser Kleinstadt gebraut wird, zu kaufen, ach, was rede ich, das wichtigste im Leben ist das, was die Welt bewegt, was die Menschen bewegt und was natürlich auch die Züge auf ihren Gleisen bewegt, was die Philosophen über endlose Zeiten hin- und her diskutiert haben, das kann ich Ihnen alles ganz einfach erklären, man muss nur auf irgendeinen Bahnhof schauen und schon weiß man, was die Welt zusammen hält: eine ordentliche Lokomotive, die einen überall hin bringt, ein paar stramme Eisenbahner, ein Ziel zu haben ist nicht schlecht, ein vorläufiges zumindest, Ziele ändern sich oft ganz schnell, ein Blick aus dem Fenster genügt, da siehst du auf dem Bahnsteig das Lächeln einer gestandenen Fahrdienstleiterin in ihrer schicken Uniform, da muss man schnell sein, raus aus dem Zug, das Glück probieren, und wenn es ein Unglück wird, dann schnell mit dem nächsten Zug weiterfahren, vor allem, wenn so eine reizende Person wie Sie im Abteil wartet, dann ist das eine nur noch fast so gut wie das andere und das will was bedeuten für einen wie mich, der viel zu viel vom Leben zu erzählen hat, der weiß, wie immer alles anfängt, der als Kind kein Spielzeug bekommen hat, denn so fängt immer alles an und später, wenn alles zu spät ist, dann weiß es ja sowieso jeder besser und sagt, das Kind ist nicht genug geliebt worden, deshalb ist es Amok gelaufen, hat seinen Beichtvater mit dem Kruzifix erschlagen und den Küster gleich mit, den aber mit einer Flasche Messwein, roter Burgunder war es und die Bluttat kam trotzdem nicht so richtig zur Geltung weil es damals ja nur Schwarzweißfernsehen gab, aber das allerschlimmste ist, der Vater des Burschen hatte ihm ja eine religiöse Erziehung angedeihen lassen, die galt als vorbildlich, nur - Mademoiselle, das wichtigste hatte er vergessen, zu den Geburtstagen schenkte er dem Kind Bücher mit Heiligengeschichten, zu Weihnachten eine Blockflöte, aber wehe dem armen Kleinen, wenn er dann keine Hausmusik machen konnte, dann kam die gerechte Strafe Gottes auf die Erde hernieder und der Knabe sehnte sich doch so sehr nach einer Modelleisenbahn, so einer mit Friedhof und Kirche gleich hinterm Lokschuppen, also denken Sie daran, wenn es ein Junge ist, zeigen Sie ihm den Bahnhof und erklären Sie ihm die Lokomotiven, wenn es ein Mädchen ist, fahren Sie mit Ihrer Prinzessin in den berühmtesten Luxuszügen der Welt, träumen Sie beim Blick auf vorüberfliegende Schlösser von furchtlosen Prinzen, die darin nur auf die eine warten, träumen Sie vom großen Glück, üben Sie im Speisewagen die Konversation mit Männern von Welt, dabei sollte die Bekanntschaft mindestens eine Strecke wie unsere, etwa von Paris nach Moskau, überdauern - ich jedenfalls werde Sie nicht langweilen, ich bin in die Geheimnisse der Bahnhöfe, der Züge und Speisewagen eingeweiht, schon als Kind habe ich begriffen: man muss - will man hinter den Horizont gucken - den Kirchgang am Sonntag schwänzen, zum Bahnbetriebswerk schleichen und sich mit den Schuppenmännern anfreunden, mit den Lokführern erst recht, und siehe da, was braucht jemand eine kleine Modelleisenbahn, wenn er eine große, ausgewachsene Eisenbahn haben kann, wenn er damit von den größten Abenteuern träumen kann - alles andere ist Kinderkram, schon auf dem Spielplatz werden die Weichen gestellt, da muss man sich zwischen Mädchen und langweiligen Spielgeräten entscheiden, schon im Sandkasten wird klar, welches Fräulein später im Speisewagen sitzen wird, schön bei Kaffee, Pralinés und feinsten Törtchen, welches Fräulein lustvoll zuhört, was einer wie ich zu berichten weiß, vom Liebreiz der heißen Dampfmaschinen mit ihren stöhnenden Pumpen, mit ihren Zylindern, in denen sich die Kolben so lustvoll bewegen, ganz ähnlich dem reizenden Moment, wenn bei Ihnen, liebe Mademoiselle, eine Praline Ihren Lippen nahe kommt, das sind Zusammenhänge, die man kennen muss, sie fördern ein ganzheitliches Weltbild und damit eine ganz eigene Charakterstärke, auch ein wenig technische Bildung ist notwendig um die Gesetze der Bewegung richtig verstehen zu können, eine richtige Eisenbahn lebt, sie atmet Abenteuer, die Gleise weisen in die Ferne, hinter den Horizont, es gibt die tollsten Dampfrösser, die Mädchen am Bahndamm winken den todesmutigen Maschinenmännern zu, überall lauern nie gekannte Gefahren: Kesselexplosionen, Zusammenstöße, einstürzende Brücken oder auch eine unglaubliche Liebschaft - genau das, Mademoiselle, das ist ein richtiges Spielzeug, und es ist einfach so da, für jeden, unabhängig von der Gunst der Eltern oder Lehrer, für Jungen und Mädchen genauso, jeder Bub wäre selig, würde das Mädel mit ihm zusammen mit Volldampf in die Welt brausen, aber für so etwas ist die Evolution noch nicht weit genug vorangekommen, deshalb muss es der Mann alleine tun, als Held zurückkommen, eine Familie gründen, um dann seine Kinder aufs richtige Gleis zu setzen, nun, ich sehe es an Ihrem fragenden Blick, ob es denn Autos, Schiffe, und Flugzeuge nicht auch tun würden - nein, Mademoiselle, Autos sind untreu, sie halten keine hundert Jahre wie so eine Dampflok, die Leute auf den Schiffen erzählen doch nur Seemannsgarn, darauf ist kein Verlass, und erst die Fliegerei, sie hat nur langweilige Flughäfen mit endlosen Pisten aus Beton zu bieten, keine lauschigen Bahnhöfe, keine Strecken, die sich lieblich in die Landschaft einfügen, an denen überall Menschen leben, keine Bahnübergänge, wo sich die Lebenslinien von Bäuerinnen und Lokführern kreuzen, keine gemütlichen Feldwege, keine Wälder mit romantischen Plätzen, wo man sich lieben könnte - aber das wichtigste ist, wenn es mal eng wird, wenn der Amoklauf kurz bevorsteht, wenn alles in Kälte erstarrt - dann ist die Dampflok da, sie taut jedes Herz auf, sie wärmt die Seele, sie ist die Heimat, die überall hin mitkommt, die mit Öl verschmierten Männer auf den Maschinen sind deine Familie, die immer mitreist, die immer da ist, sie sehen sofort jedes Problem, sie wissen, niemand muss sich vor den Zug werfen, ganz im Gegenteil, die Eisenbahn ist die Lösung, sie bringt dich, wenn du erfrierst, zu neuen Zielen, die öligen Männer holen dich bei der ärgsten Kälte auf ihre warme Lok, das Feuer lodert, der Kessel kocht, der Druck steigt, die Manometer sind am Anschlag, das Sicherheitsventil ist kurz vor dem Abblasen, der Heißdampf kann es nicht mehr erwarten und dann geht es ab in eine neue Welt, auf der warmen Dampflok verschmelzen Kälte und Hitze, die Welt wird eins, kein Gedanke an das, was man zurücklässt, keine Heimat, die nicht gegen eine bessere einzutauschen wäre, kein Gedanke lieblicher, als der an ein Mädchen, dass bequem im Zug sitzt und gerade von so einem Helden träumt, der mit seiner Lok wie mit einem wilden Hengst von dannen stiebt - Mademoiselle, Sie wissen wovon ich rede, am Ende der Odyssee sinkt der Held in Ihre Arme, rußig und ölverschmiert, aber den Fängen einer miefigen Kleinstadt und herzlosen Eltern entronnen, im Besitz des Wissens, wie man der Welt, die einen erdrückt, ganz einfach entflieht, wie gut es klingt, wenn Eisenräder auf Eisenschienen dahin rollen, das ist Erfahrung durch fahren, man lernt mit der Liebe zur Eisenbahn die Liebe zum Leben, ich weiß, wovon ich rede, in einem Zug traf ich die geheimnisvolle Mata Hari, wir verstanden uns sofort, weil wir wissen, wie man mit der Liebe und mit Geheimnissen umgehen muss, wir hatten ein Schlafwagenabteil für uns, sie suchte erst nach Wanzen, danach erzählte sie mir, Charlie Chaplin sei unterwegs zum Schwarzen Meer, es ging um schwarzen Humor, ein Kongress, zu dem auch Sergei Eisenstein kommen sollte, er wollte in Sewastopol einen potemkinschen Bahnhof bauen, in dem Lenin mit einer finnischen Dampflok ein- und ausfahren sollte, dann aber hatte Eisenstein einen Nierenstein, so fiel alles ins schwarze Meerwasser, doch vergeblich war nichts, Mata Hari, die eigentlich Margarete Gertrude heißt, hatte im Zug Charlie Chaplin nach dem Großen Diktator ausgefragt, weil Stalin von ihm wissen wollte, ob man auch Menschen humorvoll verschwinden lassen könnte, vielleicht einfach so mit einem lustigen Zylinder, Mata wusste einfach alles, sie hat mir stolz die kleine Kamera in ihrem Ausschnitt gezeigt, so wusste auch ich alles
und deshalb ist die Eisenbahn so wichtig, erst recht, wenn man die Welt genauso wie die Frauen erobern will und deswegen kann schon der kleinste Kleinstadtbahnhof zum Nabel des Universums werden, dort nehmen die besten Dinge zuerst ihren Lauf, und weil das so ist können wir beide jetzt auch bis Wladiwostok fahren, oder bis Peking, Pjöngjang oder Saigon, ich könnte noch ein wenig mehr erzählen, etwa davon, dass es besser ist, wenn richtige Fräuleins - auch wenn die Kerle genau davon träumen - eben nicht zwischen Lokomotiven und Gleisen herumklettern sollen, das führt zu nichts, das nimmt den Reiz, die Spannung ist weg, wir leben doch von Gegensätzen, von oben und unten, von schwarz und weiß, von schön sauber und richtig dreckig, von Feuer und Eis, Wasser und Dampf, von Ying und Yang, von Himmeln und Höllen, Heiligen und Teufeln - die Eisenbahn ist etwas für Steppenwölfe, die einsam durch die Welt streifen und nach einer so guten Konversation suchen, so wie wir sie haben, sehen Sie, Mademoiselle, die richtige Eisenbahn muss ein Spielzeug bleiben, die Eisenbahner sollen gute Spielkameraden sein, einen Eisenbahner heiraten bringt meistens Unglück, es verkürzt die Lebenserwartung, es gab einen Hochzeitsfotografen, der hat um die schönen Bilder, wo sie beide vor oder auf der Lok geheiratet haben, immer gleich einen Trauerflor gemacht, die Leute haben es nicht verstanden, dabei wollte er nur sagen, dass der heilige Stand der Ehe in der Regel mit genau der Modelleisenbahn im Keller endet, die in der Kindheit nicht da war, nun aber ist es zu spät, ein früher Tod auf Raten setzt ein, sehen Sie, da bin ich lieber mit dem Hellas-Express von Dortmund nach Griechenland gefahren, damals ein durchgehender Zug, bei dem man nie wusste, ob er auch ankommt, nachts in Jugoslawien hat jemand die Notbremse gezogen, junge Burschen, sie stiegen aus weil sie nicht weit von dort in einem Dorf wohnten, andere stiegen auch aus, holten Sliwowitz für die Eisenbahner, und nach einer gehörigen Runde fuhren wir weiter, alles war in bester Ordnung, die Reisenden haben es gar nicht richtig mitbekommen, ich aber wollte ja nur mit Alexis Sorbas einen Ouzo trinken, ihm erklären, dass eine Zahnradbahn besser gewesen wäre als seine klapprige Seilbahn, die wie eine Reihe Dominosteine komplett von oben bis unten eingestürzt ist, das war filmreif, und was sagt der Kerl, liebe Mademoiselle, es wäre überhaupt nicht tragisch gewesen, er wäre nur vorübergehend unkonzentriert gewesen, weil da eine Frau war, die ihn zu sich gerufen hat, und er war überzeugt, dass ein Mann kommen muss, wenn eine Frau ihn ruft, ja, genauso ist das, und mit dem Herrgott, sagt er, sei das ja auch so und, Mademoiselle, ich habe ihm recht gegeben…