Читать книгу Geschichten am Schienen#Strang - Johannes Glöckner - Страница 7
ОглавлениеDie Frau am Regler
Bahnfahren kann durchaus vergnüglich sein, man erinnert sich heute nur noch selten daran. Manchmal ist Bahnfahren sogar spannend wie ein Abenteuerurlaub. Dabei meine ich nicht einmal die Graffiti-Künstler, die an fahrenden Zügen hängen. Auch nicht die Gaukler, Musikanten und Handtaschenräuber, die schon mal Bahnhöfe und S-Bahnen entern. Ich meine auch nicht die Fahrkartenkontrolleure, die Schwarzfahrer jagen oder die Eisenbahnfreaks, die rechts und links der Strecke mit abenteuerlicher Akrobatik ein extravagantes Foto hinbekommen wollen. Nein, es geht um die grundsätzliche Frage, ob überhaupt eine Bahn kommt.
Man hat man sich mittlerweile daran gewöhnt, dass keine kommt. Es heißt dann, es wäre kein Lokführer da. Angeblich sind sie alle krank oder im Urlaub. Ganze Strecken werden notgedrungen auf Busbetrieb umgestellt. Wenn aber auch keine Busfahrer aufzutreiben sind, wird einfach gar nicht mehr gefahren. Die Strecke wird sogleich als Wanderweg freigegeben. Das wiederum ruft heftige Proteste der Radfahrer und Mountain-Biker hervor. Sie wollen unbedingt mit ihren dicken Reifen über Schotter und Schwellen brettern. Aber auch die Senioren melden ihre Rechte an. Mit umgebauten Rollatoren, Rollstühlen und Fahrraddraisinen wollen sie ebenfalls auf die Strecke.
Einfach jeder will nun auf die Bahntrassen. Auf zweigleisigen Strecken mag man das alles noch regeln können, aber wenn nur ein Gleis da ist, dann wird es eng. Wichtige Fragen sind ungeklärt: Wer hat an einem Bahnübergang, der nun nicht mehr durch Rotlicht und Schranken gesichert ist, die Vorfahrt? Das Problem hat der Verkehrsgerichtstag in Goslar noch nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Was passiert, wenn einem plötzlich doch eine verirrte Lokomotive entgegenkommt?
Das Freigeben der Strecken für jedermann ist keine intelligente Lösung. Die Abenteuerlust der Bahnfahrer kann viel besser befriedigt werden. Stellen sie sich vor sie sitzen in einem gut gefüllten Regionalexpress und warten auf die Abfahrt. Es ist etwa der RE17 von Hagen über Bestwig nach Kassel-Wilhelmshöhe. Auch nach 15 Minuten rührt sich nichts. Dann endlich kommt die Durchsage, dass sich die Abfahrt aus betrieblichen Gründen um wenige Minuten verzögern würde. Etwas später eine Bitte des Triebfahrzeugführers, die sich regelrecht aus dem Lautsprecher quält:
Falls sich unter den Reisenden ein Lokführer befindet, so möge er doch bitte den Zug übernehmen um ihn abzulösen, da er jetzt Dienstende habe! Er könne auch keine Überstunden machen, da er sonst seine Ehe aufs Spiel setzen würde. Seine Frau hätte einen unumstößlichen Termin in einem Küchenstudio, danach beim Friseur und außerdem seien sie am Abend zu einer Party bei ganz lieben Leuten eingeladen! Das müssten die lieben Fahrgäste doch bitteschön verstehen!
Die Stimme hört sich ziemlich verzweifelt an. Dann betretenes Schweigen im Waggon. Die Fahrgäste schauen sich ratlos an. Einer hat einen Angelschein, ein anderer den Filmvorführerschein. Keiner hat eine Lizenz für den Dieseltriebwagen der Reihe 628. Andererseits kann es doch nicht so schwer sein, so eine alte Kiste zu fahren. Das ist vermutlich ähnlich wie bei einem Trecker, viel kaputt machen kann man da bestimmt nicht und die Weichen für den richtigen Weg muss man auch nicht selbst stellen.
Viele Fahrgäste schimpfen, die meisten steigen wieder aus. Wer jetzt im Zug bleibt, hat sich offensichtlich seinem Schicksal ergeben. Einige haben wohl auch genug Zeit, es ist Sonntagmittag. Dann plötzlich, im Moment tiefer Niedergeschlagenheit, knackt es im Lautsprecher. Eine freundliche Frauenstimme teilt mit:
Ich liebe die Eisenbahn! Eigentlich fahre ich elektrische S-Bahn-Züge. Ich will jetzt aber unbedingt zum Opa nach Bestwig und deshalb fahre ich jetzt diese Dieselkutsche dorthin. Ich begrüße Sie recht herzlich im RE17 von Hagen nach Bestwig. Opa Giovanni stammt übrigens aus Milano und er war auch Lokführer. Seinen Segen habe ich! Wir werden sofort starten und die zugelassene Höchstgeschwindigkeit unseres Triebfahrzeuges voll ausnutzen, um die Verspätung, für die ich mich entschuldigen möchte, aufzuholen. Ich heiße übrigens Emilia, bin 24 Jahre alt und ich werde versuchen, ihnen die missliche Situation etwas angenehmer zu gestalten.
Durch die in sich zusammengesunkenen Reisenden geht ein Ruck. Dann folgt noch ein viel kräftigerer Ruck, der Zug hat einen Blitzstart hingelegt. Zum Glück ist es ein trockener Tag, um Schlupf und Bremsweg der Antriebsachsen muss man sich also keine Sorgen machen. Auch beim ersten Halt in Schwerte ist alles so, wie bei einer rasanten Autofahrt. Aus voller Fahrt heraus wird abgebremst, beim forschen Anfahren werden die Reisenden in die Polster gepresst, beinahe wie beim Start eines Airbus. Die Frau am Regler scheint ihr Handwerk zu verstehen. Dann eine neue Durchsage:
Wie die meisten wissen, kommt es ständig vor, das Züge ausfallen, weil Lokführer fehlen. Das macht aber nichts. Ich sitze jetzt eine Viertelsunde hier vorn im Zug und weiß bereits, wie man mit dem 628 umgehen muss. Wer will, kann zu mir in den Führerstand kommen, ich zeig euch wie es geht – beim nächsten Mal fährt jeder selbst.
Nach dem planmäßigen Halt in Fröndenberg kommen die ersten mit einem überlegenen Lächeln im Gesicht aus dem Führerstand zurück. Das macht Bock, das kann doch eigentlich jeder und vorn ist die Aussicht viel besser! Emilia ist ein toller Typ! Und verheiratet ist sie auch nicht! Ein junger Fahrgast ist ganz aus dem Häuschen und schwärmt:
Ich darf ihr meine Dampflok-Postkartensammlung zeigen! Wir haben uns verabredet. Ich habe eine italienische Postkarte von 1906, die findet sie bestimmt total cool. Da ist Feuer unterm Hintern, da geht die Post ab, und zwar mit Volldampf. Aber vielleicht findet sie ja auch die eher langweiligen Karten der anderen Eisenbahnfotografen toll – da kann man jede Schraube erkennen. Und ich würde mit ihr nächtelang über jede Niete diskutieren. Wisst ihr warum? Weil ich die Dampfloks liebe, sie atmen, sie schnaufen, sie sind warm und tatsächlich - sie leben richtig, so, wie auch der alte 628 jetzt richtig auflebt.
Der Postkartensammler ist ganz beseelt, fast so, als wäre er noch nie mit der Eisenbahn gefahren. Dann wird seine Begeisterung von einer weiteren Durchsage Emilias unterbrochen:
Es ist sehr schön mit euch, ich liebe euch, so wie ich die Eisenbahn liebe, nur, die Schlange vor meinem Führerstand ist zu lang, bis Bestwig werden wir nicht fertig. Wir können das aber so machen. Mein Opa kommt in Bestwig in den Zug und wir fahren dann wieder zurück, nur so aus Spaß und ihr alle lernt meinen Opa kennen und auch, wie man einen 628 rannehmen muss. Wer weiter nach Kassel will und mit dem 628 schon Bescheid weiß, der kann sich in Bestwig einen anderen 628 nehmen, da stehen genug rum und ihr wisst ja jetzt, wie man damit umgeht.
Auf der Fahrt zurück nach Hagen hat Opa Giovanni eine pfiffige Geschäftsidee. Wofür sonst hat er zuletzt in der besten lombardischen Lokführerschule gearbeitet. In Hagen steht doch ein alter, nicht mehr genutzter Fahrsimulator der Deutschen Bahn. Er, der Postkatensammler und Emilia übernehmen ihn ganz einfach. Jedermann kann dann für ein paar Euros ganz schnell das Fahren jeder Lokomotive lernen. Mit dem neuen Milano-Zertifikat ist dann jeder ein Lokführer! Kein Zug muss nunmehr stehen bleiben weil ein Lokführer fehlt.
Die Ausbildung für alle Lokomotiv-Baureihen sowie eine europaweite Lizensierung für den selbstfahrenden Bahnreisenden wurden sofort in Angriff genommen. Am Tag darauf, ein Montagmorgen, fehlte auf der S-Bahn von Dortmund nach Düsseldorf eine Lokführerin. Die fluchenden Berufspendler hatten keine Ahnung, dass die Lösung ihres täglichen Problems zum Greifen nahe war. Emilia und ihr Opa hatten der Deutschen Bahn den alten Fahrsimulator für einen Euro abgekauft.
Die Fahrschüler standen Schlange. Ausbildungsschwerpunkte waren freundlichen Durchsagen, die richtige Bewertung der Signalfarben Rot, Orange und Grün sowie das Lesen von Fahrplänen. Die Absolventen erhielten eine Chipkarte mit Flügelrad. Damit konnte man auf jedem Triebfahrzeug die Buchfahrpläne im Bordrechner aktivieren, man sparte, wenn man im Führerstand saß, auch noch den Fahrpreis und hatte zusätzlich die Möglichkeit, Mitglied der Bahn-Landwirtschaft zu werden. Damit hat man ein Anrecht auf einen bahneigenen Schrebergarten!
Der Postkartensammler und Emilia haben geheiratet. Das hatte den großen Vorteil, dass er und Opa sich stundenlang Lokfotos angucken konnten. Emilia hatte so den Rücken frei hatte für noch größere Pläne. Nach der Selbstfahrer-Bahn sollte es SB-Flieger geben. Sie dachte, wer Lokführer kann, der kann auch Pilot. Soweit kam es aber nicht, weil die SB-Bahn viel zu schnell unter massiven Druck geriet.
Nein, es waren nicht die Autofahrer! Fußgänger und Radfahrer hatten eine mächtige Lobby gegen die Selbstfahrer-Bahn aufgebaut. Das Recht auf stillgelegte Bahnstrecken wurde vehement eingefordert. Man hatte sich zu sehr daran gewöhnt, auf nicht befahrenen Gleisen spazieren zu gehen oder sie als Radweg zu nutzen. Die Tierschützer hatten sich solidarisch erklärt, weil die Eisenbahntunnel den Fledermäusen so gut gefielen. In Berlin kam es jetzt regelmäßig zu Demonstrationen vor dem Verkehrsministerium. Der Minister musste zurücktreten. Der Regierung blieb keine andere Wahl als die gerade eröffnete Neubaustrecke von Erfurt nach Nürnberg wieder stillzulegen. Die Nutzungsrechte wurden den Wanderern, Radfahrern und Mountain-Bikern übertragen. Im Land kehrte allmählich wieder Ruhe ein.
Nachtrag des Chronisten
In den ersten Tagen nach dem Milano-Coup wurde Emilia gefeiert wie eine Jeanne d´Arc der Eisenbahn. Der Triebwagen der Reihe 628, mit dem sie in Bestwig war, wurde zur Ikone der Demokratisierung des Eisenbahnwesens. Fernsehteams aus aller Welt wollten mit dem Zug fahren und dabei Emilia interviewen. Besonders selbstbewusste Frauen hatten die neuen Lizenzen erworben, um ihrem Idol nachzueifern. Immer häufiger wollten sie selbst fahren – auch dann, wenn ein DB-Lokführer da war. Diese fühlten sich nun bedrängt und bekamen Angst vor Übergriffen. Mehrmals in der Woche musste die Bundespolizei anrücken, um Streitigkeiten zu schlichten. Problematisch wurde es, wenn gleich mehrere Selbstfahrer auf einmal in den Führerstand drängten. Daraufhin wurde eine Reservierungspflicht eingeführt. Die Krankmeldungen bei Lokführern sind seitdem deutlich zurückgegangen. Die Gewerkschaft der Lokführer fordert die Abschaffung der Lokführer-Lizenzen und droht mit einem Generalstreik.