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Der Steuerprüfer

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Seine Ernennung zum Staatsbeamten nahm die ganze Familie mit Erleichterung auf. Es war ein langes Bangen, ob er jemals auf eigenen Füßen werde stehen können. Körperlich, von schwächlicher Natur und stets ein wenig kränkelnd, durchlebte er Kindheit und Schule in teilnahmsloser Zurückgezogenheit. Nicht nur, dass er selbst kaum Freude am Leben zu haben schien, auch auf seine Umgebung wirkte seine Gegenwart eher dumpf und lähmend. Sein Notendurchschnitt in der Schule verschlechterte sich von Mal zu Mal, doch, oft gegen jede Erwartung, es reichte immer wieder zu seiner Versetzung. Die Ausbildung in der hiesigen Steuerbehörde gestaltete sich mühsam und zog sich durch die Jahre. Endlich dann der Brief, der ihm auf glanzlosem, grauem Papier die definitive Anstellung mit fester Pension zusicherte. Während die Familie aufatmete, nahm er es ungerührt zur Kenntnis.

Er war Einzelkind und schon recht früh bemüht, sich der ständigen Aufmerksamkeit von Seiten der Eltern zu entziehen. Dies gelang ihm schlecht und recht, am wenigsten dann, wenn es darum ging, im Haushalt Hand anzulegen und ihm zugedachte Aufgaben zu erledigen. Ansonsten galt er als scheu, mitunter abweisend; Freundschaften pflegte er nicht. Er war viel allein und vermied Kontakte soweit es möglich war. Sein Vater hatte den Schreinerberuf erlernt; nach einem frühen Arbeitsunfall bezog er eine spärliche Rente. Die Mutter war arbeitslos und so lebte die Familie in ständiger wirtschaftlicher Enge. Nur selten gönnte sie sich etwas, was über das gewohnte, strenge Haushalten hinausging, doch meist mit der Folge zusätzlicher Einschränkungen. So war der Alltag geprägt von Einfachheit und Verzicht, umso größer war die Freude, als dieses amtliche Schreiben eintraf.

Die Mutter kam langsam in das Alter, in dem man sich gern an frühere Zeiten erinnert, an die Unbeschwertheit der eigenen Jugend, an das vergnügliche Treiben im Dorf, in dem sie früher gelebt hatte, an Freundschaften und erste Annäherungen, an Ausbildung und berufliche Regelmäßigkeit. In die Gedanken an die ersten Ehejahre mischten sich neben manch verhohlener Wehmut ein deutliches Maß an Abgeklärtheit und selbstverlorener Zeitergebenheit. Ganz gegenwärtig waren ihr stets die Kinderjahre ihres einzigen Jungen. Immer war es ihr so, als müsste sie Eigenes von sich in ihm entdecken, doch er war ganz anders. Eine lange Zeit wehrte sie sich dagegen, sich dies einzugestehen.

Genau erinnerte sie sich, wie er Stunden, ja Tage damit verbrachte, alles, was er finden konnte, Steine, Federn, Quartettkarten, gesammelte Blätter, einfach alles sorgfältig zu ordnen und zu sortieren. Nicht, dass er die reichhaltige Ausstattung mit Legosteinen dazu nutzte, zu bauen und zu gestalten; er fand Genugtuung daran, sie in langen Reihen anzuordnen, ein Teil dem anderen angleichend. Später dann begann er, alte Gerätschaften zu zerlegen; kein altes Radio, kein Bügeleisen, kein Staubsauger oder dergleichen war vor seinem aufdeckenden und klärenden Spürsinn sicher. Wie oft hatte die Mutter darauf bestanden, das Zerlegte wieder zusammenzusetzen, weil es schließlich gebraucht wurde. Aber dazu kam es nie.

Mit zunehmendem Alter entwickelte er eine auffallende Neigung, alles zu sammeln, was ihm unter die Augen kam; er sammelte, sortierte und verstaute es in seinem beengten Zimmer. Es waren meist nichtige Dinge, doch er hütete sie, als fände er damit einen Ausgleich zu seinem sonst eintönigen Alltag. So verbrachte er während des Tages viele Stunden in seinem Zimmer, was ihn aber nicht davon abhielt, die Schul- und Ausbildungszeiten äußerst pünktlich einzuhalten. Auf diese Weise fiel er weder durch Unpünktlichkeit noch durch besondere Leistungen auf.

Nun also war er in fester Anstellung bei der hiesigen Steuerbehörde. Natürlich hatte er den Tag sehnlichst herbeigewünscht, an dem die für ihn lebenswichtige Entscheidung fallen würde. Die Zeit war nun gekommen, und schon am ersten Tag stellte er sich auf die neue Zeitordnung ein, als wäre es schon lange Gewohnheit. Am Morgen nahm er sich Tee, aus einer Kanne, die ihm seine Mutter bereitgestellt hatte; er trank ihn gewöhnlich ohne Zucker; schon immer pflegte er morgens nichts zu essen. Seine, von den langen Schuljahren abgenutzte lederne Aktentasche enthielt nicht viel außer der Zeitung, die er beiläufig dem Briefkasten entnahm, jedoch selten Zeit fand, sie zu lesen. Ansonsten war in seiner Tasche eben das, was er zur Erledigung seiner Aufgaben benötigte: Einige leere Blätter, farbige Stifte, ein Lineal, Radiergummi und ein Bleistiftspitzer.

Der Weg zur Behörde war nicht weit, so dass er zu Fuß gehen konnte. Er ging an eintönigem Grau müde wirkenden Häuserfronten vorbei. Die Regelmäßigkeit der sich an jedem Morgen wiederholenden Bilder hatte sein Sehen stumpf gemacht; er ging in sich versunken, ohne dem Erwachen des Tages Aufmerksamkeit zu schenken. Meist war er der Erste, der die Holztreppe in den dritten Stock hinaufstieg, um schließlich den Platz an seinem Schreibtisch einzunehmen. Die sich türmenden Akten waren sorgfältig ausgerichtet. Vier dicke Gesetzesbücher lehnten rechts an einer altmodischen Tischlampe. Vor ihm lagen in einer flachen Metallschale drei verschiedenfarbige Stifte; er liebte es, Korrekturen oder Ergänzungen mit Rot zu markieren.

Im selben Raum arbeiteten außer ihm noch zwei Steuerbeamte, die allerdings schon älter waren. Einer von ihnen hatte schwer an Asthma zu leiden. Er nahm regelmäßig Medikamente zu sich, was ihm jedoch nur kurze Zeit Erleichterung verschaffte. So war der Raum erfüllt von einem ständig sich quälenden Atmen und einem gelegentlich erschöpfenden Husten. Die Jacken und die Mäntel wurden direkt an der Tür aufgehängt; im seitlich stehenden Schirmständer stand gewöhnlich ein Schirm, nie aber mehr als zwei. Den ganzen Tag über brannten die tief über den Schreibtischen hängenden Neonröhren, so dass die Tageszeit lediglich an der schmucklosen und beständig tickenden Uhr über der Tür abzulesen war. So vergingen Wochen und Monate, Monate und Jahre und der einst frischgebackene Steuerbeamte reifte zu einer unersetzlichen Kraft; ja, schon längst war es zur Gewohnheit geworden, in besonders schwierigen Fällen seinen Rat und sein Urteil einzuholen. Äußerlich hatte er sich jedoch in all den Jahren nicht nennenswert verändert.

Mit zunehmender Erfahrung in der Handhabung von Paragrafen und Textauslegungen erweiterte sich sein Aufgabenbereich. Zwar hatte er weiterhin die Klientel mit den Namensinitialen N bis S zu bearbeiten, doch wurde er immer häufiger zur Durchführung von externen Steuer- und Betriebsprüfungen herangezogen. Er hatte es nicht gern, wenn er seine tägliche Routine unterbrechen musste; auch waren ihm lange Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln lästig, besonders das häufige Umsteigen und das umständliche Aufsuchen entfernt liegender Adressen. Im Zusammenhang mit einer der üblichen Steuerüberprüfungen hatte er sich in einer am Stadtrand gelegenen Anwaltskanzlei einzufinden. Der Termin der Prüfung war von der Behörde festgelegt und dem Rechtsanwalt schon vor geraumer Zeit mitgeteilt worden. Ein kurzes Antwortschreiben seitens der Kanzlei hatte den Termin bestätigt.

Er nahm die notwendigen Unterlagen an sich und verstaute sie zusammen mit den farbigen Stiften in seiner notdürftig geflickten Aktentasche. Auch der graue Mantel, den er sich überzog, zeigte deutliche Spuren vom täglichen Gebrauch. Grußlos, in Gedanken versunken, verließ er das Zimmer. Er folgte dem umständlich erarbeiteten Wegeplan und stand schließlich vor einer verwirrend imposanten Fassade eines mächtig dastehenden Hauses; die Fenster umrahmt von Pilastern und Giebelwerk, Skulpturen zierten die hoch aufragenden Wandflächen, zwei kunstvolle Atlanten stützten die steinschwere Überdachung des Eingangs. Die dunkelbraune, mit Schnitzereien versehene massive Eichentüre hatte etwas Abweisendes, Einschüchterndes, Überhebliches. Er nahm nach nur kurzem Zögern seine Aktentasche fest unter den Arm und drückte den messingfarbenen Klingelknopf.

Es dauerte lange, bis der Summton des Öffners die Türe frei gab. Nur mit Mühe gelang es ihm, den schweren Holzkoloss zu bewegen und sich Zutritt zu verschaffen. Die Weitläufigkeit des Treppenhauses irritierte ihn, doch ließ er sich nicht ablenken von Marmorstufen und Wandgemälden; zielstrebig folgte er einem breit ausgelegten Teppichläufer, der ihn zu einer nicht minder prächtigen Flügeltüre führte. Wieder klingelte er. Eine junge Dame, adrett gekleidet und von ansehnlichem Äußeren, begrüßte ihn mit höflicher Bestimmtheit. Er käme vom Finanzamt, sagte er und, kaum hörbar, sprach er seinen Namen. „Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr von Guttmann spricht noch mit einem Klien­ten. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“. Sich seines Auftrages bewusst, verneinte er diese Frage. „Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?“ Durch eine abkehrende Bewegung entzog er sich dieser Frage; er setzte sich auf einen der Stühle, die Aktentasche fest an sich gedrückt. Sich selbst vergewissernd fühlte er das sperrige, ihm überaus vertraute Leder, während sein Blick wie von selbst über die an den Wänden hängenden Gemälde hinwegglitt. Es fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl in dieser Umgebung, doch blieb er ruhig sitzen in zurückgezogener Geschäftsmäßigkeit. Er zog seinen halb geöffneten Mantel fest an sich; schließlich hatte er einen Auftrag zu erfüllen.

Die Aufgabe, die ihm aufgetragen war, bewirkte in ihm eine gewisse Entschlossenheit. Je länger er zu warten hatte, desto entschiedener und bedingungsloser spürte er in sich den Willen, sie ordnungsgemäß auszuführen. Ein Gemälde zog immer wieder seine Aufmerksamkeit auf sich, es war der „Schrei“ von Edvard Munch. Obwohl er immer wieder seinen Blick auf dieses Bild richtete, war es für ihn doch nicht mehr als ein Bild und schließlich blieb es Teil einer Welt, die nicht seine war. Die adrette Dame kam und sagte, es wäre soweit. Sie öffnete eine Türe und ließ ihn eintreten. Entschlossen betrat er den Raum, der sich großräumig und lichtüberflutet vor ihm auftat. Von der Decke hing ein ausladender Kristallleuchter, der die Lichtwirkung der hohen Fenster kraftvoll verstärkte. Ein breiter, in Blautönen changierender Teppich ebnete den Weg zu dem in wuchtiger Schönheit ruhenden Schreibtisch am Ende des Raumes. Von dem dahinterstehenden Stuhl war nur die hochragende Rückenlehne aus schwarzem Leder zu sehen.

Noch bevor er alles in sich aufnehmen konnte, trat ein Herr ins Zimmer, kaum älter als er. Selbstsicher und mit zuvorkommender Freundlichkeit stellte er sich vor: „Guttmann, was kann ich für Sie tun?“. Kannte er den Beweggrund seines Besuches nicht, dachte er, während er den Mantel mit einer raschen Handbewegung glättete. „Wie war Ihr Name?“. Er stellte sich vor. „Ach Sie sind der Herr vom Finanzamt – kommen Sie!“. Er folgte dem schnellen, dynamischen Schritt in einen entfernt gelegenen Raum. Es war das Archiv, das, wie er sogleich erkannte, übersichtlich und mit einem bestechenden Sinn für Ordnung angelegt war. Sie gingen durch die Regalreihen bis Herr von Guttmann plötzlich stehen blieb: „Hier sind die Jahrgänge, die Sie benötigen. An diesem Tisch hier können Sie arbeiten! Papier und Schreibzeug liegen für Sie bereit! Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an die Schreibdamen, vorn, gleich im ersten Zimmer.“ Der Ton war bestimmt aber keineswegs unfreundlich. Während Herr von Guttmann ging, blieb er am Tisch stehen und blickte auf die Ordner, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es war etwas, das sein Gleichgewicht gestört, sein Inneres in Unruhe versetzt hatte. Die Einheit von langjährig Gesichertem und augenblicklich Gefühltem war in ihm irgendwie ins Schwanken geraten. Er fühlte sich wie ein Tiger im Käfig, und es war ihm, als sähe er überall Stäbe, die ihn beengten. Es dauerte eine Zeit, bis er seinen Mantel auszog, seine bunten Stifte auf den Tisch legte und mit seiner Arbeit begann.

Die Dokumente waren umfangreich, sämtliche Belege sorgfältig abgeheftet und mit Kommentaren versehen. Aufmerksam, sich immer wieder vergewissernd, studierte er die einzelnen Beträge und verglich sie mit der Buchführung und den jeweiligen Kontoständen. Er hatte gelernt, mit Zahlen umzugehen, sie zuzuordnen, sie hochzurechnen und sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Er hatte eine Spürnase für Unstimmigkeiten, für Fehlerhaftes und Ungerechtfertigtes. Schnell durchschaute er Zusammenhänge, errechnete Zwischenwerte und erstellte Bilanzen, überflog die Kolonnen und Zahlenreihen, addierte und subtrahierte. Zahlen waren seine Welt und in dieser Welt kannte er sich aus. Vertieft in seine Arbeit bemerkte er nicht, dass es Abend geworden war; die Schreibkräfte hatten schon längst das Büro verlassen. Herr von Guttmann war es, der ihn schließlich überreden konnte, seine Arbeit am nächsten Tag fortzusetzen.

Es war dunkel, als er das Haus verließ. Die Fassade, die schon am Morgen einen starken Eindruck auf ihn gemacht hatte, wirkte im Schattenspiel der Straßenlaternen noch mächtiger, sie hatte etwas Unnahbares und Beherrschendes. Dieses Bild prägte sich ihm ein, wie auch die anderen Bilder dieses Tages, aber noch hatte er sich von der Welt der Zahlen nicht gelöst. Der Weg war nicht kurz, den er zu gehen hatte; er ging ihn ohne Eile. Ganz langsam begannen sich in seinen Gedanken Zahlen und Bilder zu mischen. Die vielen Daten und Zahlen, mit denen er es bisher täglich zu tun hatte, blieben stets das, was sie waren, sie blieben Zahlen, nichts weiter; Zahlen ohne Inhalte, nüchterne, leblose Zahlen. Heute aber mischte sich Farbe ein, nahmen die Zahlen Gestalt an, heute zeigten sie ihr Gesicht. Große Zahlen behandelte er bisher nicht anders als die kleinen; sie bedeuteten ihm nichts; sie hatten zu stimmen, mehr verlangte er nicht, mehr war nicht seine Aufgabe. Nie war ihm der Gedanke gekommen, einen Vergleich zu seinen begrenzten Möglichkeiten herzustellen, wo er doch die Eltern zu unterstützen und einen Großteil der Miete zu tragen hatte. Doch, die Zahlen waren seine Aufgabe und diese Aufgabe hatte er zu erfüllen.

Heute nun konnte er sehen, was sich hinter großen Zahlen verbirgt. Die Zahlen wurden zu Bildern, während sich die Bilder immer konkreter aus Zahlen zusammensetzten. Wie zwei Elemente gingen Zahl und Bild eine untrennbare Verbindung ein. Es war ihm, als hätte sich die Welt verändert, als hätte er plötzlich Zutritt zu einer Welt, die ihm bisher verborgen geblieben war. Während er durch die Straßen ging, fing er an, jedes Haus zu taxieren, den Bildern Zahlenwerte zuzuordnen und sich Vorstellungen über ihr Inneres zu machen. Die Welt der kleinen Zahlen war ihm durch die tägliche häusliche Enge durchaus vertraut. Er kannte sie ja und immer besser gelang es ihm, zwischen dem Großen und dem Kleinen Abstufungen vorzunehmen und sie mit bestimmten Vorstellungen zu verbinden. Zu Hause angekommen, sah er lange auf die dunklen Fenster seiner Wohnung; er fühlte sich in dem bestätigt, was ihm auf dem langen Heimweg schon zu einer ganz unerwarteten Erfahrung geworden war.

Pünktlich saß er am nächsten Morgen im Archiv. Die adrette Dame von gestern brachte ihm eine Tasse Kaffee. Er begann mit der Arbeit. Erst, als er seinen Rotstift das erste Mal zur Hand nahm, fiel ihm auf, dass er ihn gestern nicht ein einziges Mal gebraucht hatte. Sollte er bei der gest­rigen Prüfung etwas übersehen haben? Mit noch größerer Aufmerksamkeit musterte er die Belege, fragte nach Herkunft und Berechtigung, überprüfte die Echtheit, ordnete zu, zählte zusammen, rechnete nach, verglich. Einige Punkte weckten bei ihm Misstrauen, wiederum andere ließen sich nicht plausibel erklären, manches schien ihm lückenhaft. Immer häufiger kam sein Rotstift zur Anwendung. Die nach seinem Dafürhalten fehlenden Unterlagen notierte er ebenso wie die noch zu klärenden Sachverhalte. Am Abend überreichte er Herrn von Guttmann eine Liste mit den Beanstandungen und machte sich auf den Heimweg.

Wieder stand am nächsten Tag eine Tasse Kaffee auf seinem Tisch im Archiv. Herr von Guttmann hatte Gerichtstermine wahrzunehmen, was erklärt, dass die anstehenden Fragen noch nicht geklärt werden konnten. Er setzte seine Prüfung fort. Er hatte schlecht geschlafen, hatte von prachtvollen Bildern und gefälschten Zahlen geträumt, war auf dem Weg zu seiner Arbeit vom Regen überrascht worden und war schon am frühen Morgen mit seiner Mutter in einen heftigen Streit geraten. Sie hatte beklagt, dass er in den letzten Tagen alles nur schlecht-reden würde, dass er an allem etwas zu bemängeln hätte, dass er laut und unbeherrscht sei. Unkonzentriert und mürrisch nahm er seinen Rotstift zur Hand. Wieder entdeckte er Ungereimtheiten und er begann, absichtsvolle Zuwiderhandlungen zu vermuten, Verstellungen, Irreführungen, Täuschungen. Wieder schrieb er eine lange, detaillierte Liste mit noch zu klärenden Einzelheiten. Er ließ sie auf dem Tisch im Archiv liegen und ging. Inzwischen kannte er jedes Haus, das er, genau taxierend, auf seinem Heimweg passierte. Seine Vorstellungen weiteten sich von der Innenausstattung der Räumlichkeiten zu den Lebensgewohnheiten der Bewohner; er berauschte sich an vermeintlichem Reichtum und empfand Mitgefühl mit Seinesgleichen.

Die Steuerprüfung bei Herrn von Guttmann zog sich hin. Die Besuche bei ihm wurden seltener und galten lediglich der Klärung anstehender Fragen. Es war nicht einfach, bei all dem entstandenen Misstrauen einen geordneten und gesetzmäßigen Abschluss zu finden. Am Ende erhielt Herr von Guttmann die Auflage einer gehörigen Nachzahlung. Er war es, der sie errechnet und auf den Weg gebracht hat. Mit Genugtuung hatte er das Schreiben der behördlichen Poststelle übergeben. Nun saß er wieder an seinem Schreibtisch im dritten Stock und bearbeitete die Akten. Alles war unverändert in diesem Raum, nur er war ein anderer. Verständnisvoller behandelte er die kleinen Zahlen, misstrauischer die Großen; er sah die Bilder vor sich und folgte seinen Vorstellungen. Auch zu Hause haben sich derweil die Verhältnisse geändert. Er verstand sich nicht mehr mit den Eltern, zog sich häufiger zurück, war aber voller Klage, wenn sie beisammen waren. Es müsse sich alles ändern, die Ungerechtigkeit müsse ein Ende haben. Die Eltern beobachteten die Entwicklung mit Sorge.

Er nahm Kontakt auf mit einer politischen Gruppierung, von der er bisher keine Notiz genommen hatte, die er aber für einflussreich und wehrhaft genug hielt, wirkliche Änderungen zu bewirken. Mehr und mehr war er davon überzeugt, dass er dazu berufen sei, das bestehende Gefüge von Zahl und Bild von Grund auf zu erneuern. Doch sehr bald schon musste er feststellen, dass diese politische Gruppe seinen Vorstellungen nicht entsprach und nicht geeignet war, wirkliche Veränderungen nach seinen Vorstellungen herbeizuführen. Auch musste er sich eingestehen, dass ihm selbst konkrete Vorstellungen fehlten, die seinem inneren Bedürfnis nach Veränderung entsprechen könnten. Währenddessen erfüllte er seine beruflichen Aufgaben mit noch größerer Sorgfalt und Strenge.

An einem normalen Wochentag ergab es sich, dass er bei einem abendlichen Rundgang durch sein eher kärgliches Stadtviertel aufmerksam wurde auf ein am Straßenrand aufgestelltes Plakat. Es entsprach nicht seiner Gewohnheit, auf plakative Werbungen und illustre Kaufangebote zu achten, die vielfältig und bunt den Weg säumten. Außerdem begann es dunkel zu werden und das in Bild und Schrift Gezeigte zog sich immer mehr in die Verschwiegenheit der Dämmerung zurück. Doch von diesem Plakat fühlte er sich angezogen, die klare und entschlossene Formel mit einprägsamen roten Lettern in den schwarzen Hintergrund eingebrannt fesselte ihn: „NICHT WEITER SO“. Es war, als könnte er sich von diesem Aufruf nicht lösen, als wäre er direkt angesprochen und so stand er vor dem Plakat, ohne zu wissen, wie mit der in ihm entstandenen Unruhe umzugehen sei. Am unteren Rand des Plakates las er drei Buchstaben, mit denen er nichts verband, doch zusammen mit dem flammenden roten Schriftzug des „NICHT WEITER SO“ prägten sie sich bei ihm ein.

Dass er in dieser Nacht unruhig schlief, wurde ihm kaum bewusst, zu fordernd war die Gewohnheit der alltäglichen Arbeitsabläufe. Es vergingen Wochen und Monate und alles ging seinen gewohnten Gang. Er saß an seinem Schreibtisch im dritten Stock, das schwere Atmen und das gelegentliche, gequälte Husten vom Schreibtisch hinter ihm hörte er mit antrainiertem Gleichmut. Wie an jedem Tag nahm er auch heute eine Akte vom vor ihm aufgetürmten Stoß. Er las den Namen, die Anschrift und weitere Details des zu Prüfenden und stieß unvermittelt auf drei Buchstaben, die ihm bekannt vorkamen. Es war wohl Zufall, dass unvermittelt zwischen den gehefteten Aktenblättern ein kleines, handliches Papier auftauchte mit roten, markanten Lettern auf schwarzem Hintergrund „NICHT WEITER SO“. Darunter die bekannten Buchstaben, ergänzt mit einer Anschrift und dem Namen der Partei. Emsig notierte er sich die Straße und die Hausnummer in einem nicht weit entfernten Stadtgebiet.

Am nächsten Abend saß er in der Straßenbahn schon ein wenig müde von den Verrichtungen eines eintönigen Arbeitstages. Mit abwesendem Blick verfolgte er die an ihm vorüber gleitenden Häuserfronten, die Aktentasche hielt er umarmt auf seinem Schoß. Er sah die vielen Menschen, die auf dem Weg nach Hause an den Haltestellen in das Innere der Straßenbahn drängten und, in Gedanken versunken, wurde ihm kaum bewusst, dass sich langsam und unaufhaltsam die Dunkelheit breit machte. An der Ecke Friedens-/Bürgerstraße stieg er aus. Die Gegend, in der er sich zurechtfinden musste, kannte er kaum. Er ging die Bürgerstraße entlang bis zur nach rechts abbiegenden Kriegbaumstraße, wo es nun darum ging die Hausnummer 112 ausfindig zu machen. Anfangs passierte er noch kleinere Geschäfte, ein Obst- und Gemüseladen, ein kleines Straßencafé, vor dem ein derber Holztisch und ein paar Plastikstühle sorglos zusammengerückt standen, ein Friseur dessen milchige Fensterscheiben den Blick ins Innere freigaben und schließlich ein kleines, unscheinbares Schreibwarengeschäft, das mit Zigarettenwerbung und einigen Hinweisen auf lokale Tageszeitungen, meist in türkischer Sprache, auf sich aufmerksam machte. Die Straßenlaternen gaben ein kärgliches Licht, die wenigen Passanten gingen wortlos vorüber; hinter einigen Fenstern begann sich Leben zu regen, während sich andere noch in das Dunkel geschundener Fassaden einfügten. Das Leben hinter den matt erleuchteten Fenstern interessierte ihn, zumal ihm der Umgang mit den täglichen Zahlen und Bilanzen deutlich machte, wie unterschiedlich die sich dahinter verbergenden Probleme und Nöte wohl empfunden werden. Und doch glichen sich die Fenster in ihrem nach außen dringenden Licht. Während sich das Leben jenseits der erleuchteten Fenster abspielte, fühlte er sich auf der anderen Seite gleichsam im Schatten des Lebens. Die Dunkelheit in der sich lang hinziehenden Straße verstärkte bei ihm dieses Gefühl. Auf der Suche nach der Nummer 112 ging er weiter, kaum noch die Tristesse der monotonen Häuserfluchten wahrnehmend.

Er folgte der Straße und die zunehmende Dunkelheit folgte ihm. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, die sich wie Schatten hin und her bewegten und nur gelegentlich fuhren Autos vorüber. Immer mehr konzentrierte sich sein Blick auf eine kleine in der Ferne stehende Menschengruppe, die, wie undeutlich zu erkennen war, sich offensichtlich vor einem Lokal zusammengefunden hatte. Er kam näher und bald schon sah er sie deutlich: Vier junge Männer, rauchend, in angeregtem Gespräch vertieft. Sie nahmen kaum Notiz von dem Fremden, der vor der halb offenen Tür stehen blieb und wie gebannt auf das Plakat mit dem roten Schriftzug auf schwarzem Hintergrund blickte, das große Teile der Tür bedeckte. Eine an einem rostigen Metallträger hängende Leuchte rückte den über der Tür stehenden Namen der Gaststätte ins Blickfeld. „Zur Rose“ las er, doch er las es beiläufig, ohne besondere Aufmerksamkeit. Er ging durch die Tür. Am Ende eines langen Ganges, an dessen Wänden weitere Plakate hingen, stieß er auf ein Emailschild „Zur Gaststätte“. Mit verhaltener Entschlossenheit trat er in einen Raum, in dem zahlreiche, meist junge Menschen in Gruppen zusammenstanden und heftig diskutierten. Einige saßen an Tischen vor halb leeren Gläsern, hinten in der Ecke standen einige an einem runden Tisch, über ausgebreitete Zeitungen gebeugt, lautstark argumentierend und wild gestikulierend.

Er berührte eine Welt, die ihm fremd war. Er liebte die leise und schmerzfreie Beschäftigung mit Zahlen, Formularen und Dokumenten. Er war es gewohnt, mit einfachen Fakten umzugehen, die skelettartig die Wirklichkeit ausblendeten, mit Bilanzen und Hochrechnungen, die aktenmäßig leicht und schnörkellos zu erstellen waren, ohne, dass sie für ihn zu Last und Bedrängnis werden konnten. Hier nun laute Rede und vehemente Gegenrede, nachhaltige Proteste und schlichtender Einwand, Vorwürfe, Mutmaßungen, Anklagen, Rechtfertigungen. In allem war aufwühlende Unzufriedenheit spürbar und der Wille zu einschneidender Veränderung. Entschlossen, ja aggressiv wirkt das Rot auf den schwarzen Plakaten, die an der Rückwand des Raumes zu sehen waren. Seine Gedanken gingen hin und her: Dort seine Zahlen und Berechnungen, transparent, stimmig, unzweifelhaft und unwiderlegbar, hier der spürbare Drang, Einfluss zu nehmen, Wandel zu bewirken und Umwälzung herbeizuführen, anklagend, protestierend und fordernd. Dort die leblose, aktenmäßige Beständigkeit faktischer Gegebenheiten, hier der beherzt engagierte Versuch der Veränderung hinsichtlich der gesellschaftlichen Lebensbedingungen. In solche Gedanken vertieft und schwankend bei der Suche nach Orientierung wurde er unvermittelt von einem jungen Mann angesprochen: „Du bist neu hier?“. Ganz spontan bejahte er dies. „Du willst mitmachen?“. Diese Frage verwirrte ihn. „Was gibt es zu tun?“ und etwas zögernd fügte er hinzu: „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, worum es geht. Die Plakate dort haben mich angesprochen, sie machten mich neugierig und nun bin ich hier.“

Der junge Mann, etwas ungepflegt gekleidet, mit langem Haar nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebündelt, hatte auffallend lebendige Augen; seine Sprache war direkt aber nicht weniger gewandt. Der schnelle Redefluss verbunden mit einer weitläufigen, politischen Sachkenntnis beeindruckte ihn. Er wurde gefragt, was er so beruflich mache. Mit kurzen Sätzen, wie er es gewohnt war, erzählte er von seiner Tätigkeit. Er wurde auf das Plakat angesprochen mit der Frage, was ihn dabei so bewegt habe. Was sollte er da sagen, wie seine Beweggründe erklären, wo er sie doch selbst nicht hinterfragt hatte und nur einem unbestimmten inneren Drang gefolgt war. „Das Plakat sprach mich an; ich kann eigentlich nicht erklären warum“, sagte er etwas verunsichert und suchte nach weiteren Erklärungen, doch dazu kam es nicht. „Hier ist einer, der dir unser politisches Programm genau erklären kann.“ Er deutete auf einen anderen jungen Mann aus der Gruppe der um den runden Tisch stehenden und immer noch diskutierenden Personen. Er trug eine olivfarbene Feldjacke und etwas ausgebeulte Jeans; am Revers fiel ihm ein Abzeichen auf mit den Buchstaben, die er bereits vom Plakat her kannte. Mit den Worten „das ist ein Neuer“ wurde er ihm vorgestellt. „Also du bist neu hier und du interessierst dich für unsere Partei.“ Noch bevor er etwas erwidern konnte, fühlte er sich vereinnahmt von einer imperativen Redensart, wie er sie so weder gekannt noch erwartet hat.

„Wir sind eine kleine kampfstarke Truppe, die sich das Ziel gesetzt hat, die Strukturen unserer Gesellschaft von Grund auf zu erneuern. Wir können nicht hinnehmen, dass die vielen Fremden in unserem Land die Oberhand gewinnen; wir müssen das Volk aufrütteln, wir müssen die Gesellschaft vor Überfremdung schützen und ihr wieder ein Leben ermöglichen, das dem deutschen Wesen entspricht.“ Von hinten wurde ihm ein Glas Bier in die Hand gedrückt; dabei hatte er noch nie Bier getrunken. Doch, abgelenkt durch die gedankliche Beschäftigung mit den programmatisch vorgetragenen Postulaten, trank er, das Glas fest in der Hand haltend. Er trank, als würde es ihm dadurch gelingen, Abstand zu gewinnen und Klarheit zu schaffen in der sich überstürzenden Flut von Gedanken. Mit sich verlangsamender Aufmerksamkeit hörte er weiter zu und es schien ihm als wiederholten sich die Begriffe, die sich in seinem Inneren einprägten. Er merkte nicht, dass sein Glas bald schon leer war und auch das zweite Glas, das man ihm anbot, trank er, ohne dass es ihm bewusst wurde. Er stand nun allein am runden Tisch mit dem Anführer in olivfarbener Feldjacke und dem Abzeichen am Revers; die anderen waren entweder bereits gegangen oder hatten sich anderen Gruppen zugewandt. Obwohl schon gedanklich abwesend, waren es doch einige Begriffe, die ihn nicht mehr losließen, die sich wie feurige Fanale in seinem Inneren festsetzten: „das Fremde“, „die Disziplin“, „der Mut“ und immer wieder „das Volk“, „die Gesellschaft“ und – wie eingebrannt – das „NICHT WEITER SO!“.

Es war spät geworden und viele der Anwesenden waren schon gegangen. Mit dem Versprechen, wiederzukommen, verabschiedete er sich. Er folgte dem langen dunklen Gang nach draußen. Auf der Straße war es ruhig geworden. Er atmete tief durch und langsam ging er die Straße entlang. Seine Gedanken geisterten wie entzügelt hin und her. Die karge Beleuchtung der Straßenlaternen schien ihm der einzig verlässliche Begleiter auf dem langen Weg zurück zur Straßenbahn. Am Schreibwarengeschäft blieb er stehen; er sah in der Dunkelheit die gerade noch zu erkennenden Zigarettenwerbungen und die Zeitungsangebote in türkischer Sprache. Sie kamen ihm fremd vor und er sagte sich, dass er das wohl meinte, als er von „Fremdem“ sprach. Von nun an entwickelte er ein feines Gespür für das „Fremde“. Allerdings fragte er sich nicht, wer denn berechtigt sei, festzulegen, was als fremd zu gelten habe, immerhin sah er es ja: Die fremde Schrift, die unverständlichen Worte; sie gehörten einfach nicht hierher. Er ging weiter und war überzeugt, etwas Wichtiges verstanden zu haben.

Die Eltern waren noch wach, als er nach Hause kam. Sie wunderten sich nicht nur über seine ungewöhnlich späte Heimkehr, viel mehr über sein Verhalten: Er war auffallend erregt, ja geradezu beflügelt, zugleich aber äußerst wortkarg und verschlossen. Zielstrebig ging er in sein Zimmer. Die Eltern blickten sich erstaunt und ratlos an. So war er doch nie, sagten sich beide und gingen schließlich auch zu Bett.

Äußerlich vergingen die folgenden Tage wie immer. Allerdings fiel den Eltern bei aller Wortkargheit, die ihnen schon vertraut war, eine gewisse Unruhe ja Fahrigkeit auf. So ließ er das Frühstück mitunter unberührt stehen, vergaß den Hausschlüssel oder die am Abend bereits zurechtgelegten Unterlagen. Auch mit der Zeit nahm er es nicht mehr so genau. Nicht selten verspätete er sich und erreichte das Büro zu einer Zeit, in der schon emsige Betriebsamkeit herrschte. Auch den Kollegen fiel auf, dass er nicht mehr so konzentriert bei der Sache war, wie sie es bei ihm kannten. Immer wieder verließ er seinen Schreibtisch, machte sich am neben der Tür hängenden Mantel zu schaffen, ging unruhig hin und her und hielt sich längere Zeit an den Schränken auf, in denen die Akten lagerten. Er sprach kaum etwas, wie eben sonst auch. Nur seine Auswärtstermine nahm er gewissenhaft wahr; immerhin waren sie ihm eine willkommene Gelegenheit, am Leben teilzunehmen. Er beobachte und registrierte alles sehr genau. Es war ihm nicht bewusst, dass ihn jede Wahrnehmung und jeder Eindruck sogleich zu einer taxierenden Wertung veranlasste. Mit besonderer Aufmerksamkeit musterte er das, was ihm befremdlich erschien und das Fremde erkannte er nicht nur bei Passanten sondern auch bei einigen Geschäften mit ihren exotisch anmutenden Auslagen und immer wieder beim Anblick dunkler und heruntergekommener Häuserfassaden. Auf dem Weg nach Hause scheute er keine Mühe, jenen Ort noch einmal aufzusuchen, an dem er das Plakat zum ersten Mal gesehen hatte. Immer wieder blickte er gebannt auf die roten Schriftzeichen und die drei Buchstaben, die ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit gaben.

So vergingen die Tage und bald schon saß er wieder in der Straßenbahn, die ihn seinem Ziel näher brachte. Er ging mit verhaltener Ungeduld die ihm fast schon vertraute Kriegbaumstraße entlang, am Schreibwarengeschäft mit den türkischen Zeitungen vorbei, bis er endlich das Lokal „Zur Rose“ erreicht hatte. Fast unbeschwert ging er durch den dunklen Gang hin zur Gaststube, immerhin kannte er ja bereits die Atmosphäre der kämpferischen und entschlossenen Willensbekundungen und schließlich war er überzeugt, dass etwas geschehen müsse. Mit dem entschiedenen Vorsatz „NICHT WEITER SO“ betrat er den Raum. Die Diskussionen an den Tischen erschienen ihm noch heftiger, streitbarer und fordernder. Die Bedienung, ein junges unscheinbares, etwas ungepflegtes Mädchen, drückte ihm ein Glas in die Hand. Seine Ankunft war offenbar schon erwartet worden, denn der junge Mann mit der olivfarbenen Feldjacke kam auf ihn zu: „Na, da bist du ja; wir sind schon dabei, die nächsten Aktionen zu besprechen; wir rechnen mit dir!“ Kaum, dass er sich’s versah, war er umringt von einer Gruppe recht gleich aussehender kräftiger junger Männer von ungepflegtem Äußeren und zum Teil martialischen Tätowierungen an den Armen. Da war ein Herbert, ein Erwin, ein Rudolf; er konnte sich die Namen nicht alle merken, zumal Hermann mit der Feldjacke und dem Parteiabzeichen am Revers immer wieder das Wort ergriff und sich als der eigentliche Wortführer hervortat. Es war jedoch nicht zu vermeiden, dass in dem mitunter entstehenden Sprachgewirr nicht alles verstanden werden konnte. Doch er hörte zu und er versuchte, einzelne markante Sätze in sich aufzunehmen. So hörte er, dass von der Politik nichts zu erwarten wäre, dass man die Dinge in die Hand nehmen müsse, um wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Man müsse Zeichen setzen und durch geeignete Aktionen das Volk wachrütteln. Das Fremde müsse rigoros bekämpft, die Heimat geschützt werden; es sei schließlich das Fremde, das zu den vielen Problemen in unserer Gesellschaft führen würde, es seien die Fremden, die Unglück über das Volk brächten. „Bist du nicht auch der Meinung?“ wurde er von verschiedener Seite gefragt und er nickte zustimmend.

Er holte sich am Tresen ein zweites Glas Bier. Er trank es beherzt, ja gierig, als würde es ihm auf diese Weise besser gelingen, das Gehörte in sich aufzunehmen. Der junge Mann mit der Feldjacke trat auf ihn zu: „Wirst du mitmachen?“ Er hätte Grund, sich überrumpelt zu fühlen, doch in dem schwebenden Zustand noch unsortierter Gedanken und in der sich verfestigenden Überzeugung, dass etwas geschehen müsse, bejahte er diese Frage. Mit dem Ausdruck kumpelhafter Zuwendung und in besitznehmender Verbundenheit schlug er gönnerhaft und demonstrativ mit der Faust gegen seine Brust. Das machte ihn stolz und in seinem Inneren spürte er Kraft und Entschlossenheit; nun war er einer von ihnen! Es war jetzt an ihm, seine Gedanken zu ordnen und die vielen Eindrücke zu einer Haltung reifen zu lassen. Er, der bisher nur mit dem Rotstift in nüchternen Akten und leblosen Formularen für Rechtmäßigkeit Sorge trug, fühlte sich endlich berufen, Einfluss zu nehmen und gesellschaftliche Verantwortung zu tragen. Endlich wird auch er ein Handelnder sein und wird über die Rechtmäßigkeit im Kleinen hinaus zur Gerechtigkeit im Großen beitragen können. In den an ihn herangetragenen Bewertungen von Fremdheit und Gefährdung und in der ihm vermittelten Entschlossenheit zu handeln und Einfluss zu nehmen, entstand in ihm ein Gefühl von Stärke und Überlegenheit, ein Gefühl, das er bisher nicht kannte. Seine bisherige Tätigkeit war ja nicht mehr als bloße Pflichterfüllung, nichts anderes als gewerbsmäßige Eintönigkeit – so fühlte er es und was ihm immer deutlicher vor Augen geführt wurde, war die Ungleichheit, war die Ungerechtigkeit, war der Überfluss auf der einen und die Not auf der anderen Seite. Dabei fühlte er sich selbst immer der Not zugehörig, obwohl er über keinen Mangel zu klagen hatte. Hier, an diesem Ort, gewann er nun endlich Klarheit über die Zusammenhänge von Ungerechtigkeit und Überfremdung, über die Gründe einer zunehmenden Gefährdung durch zunehmende fremde Einflüsse. In dem Maße, wie er seine eigene Lebenssituation als bedauernswert empfand, entstanden in ihm Gefühle von Abwehr und Hass gegenüber allem Fremden. Bevor er an diesem Abend seinen Heimweg antrat, saß er noch geraume Zeit an seinem Tisch, nachdenklich und sich immer mehr seiner neuen Rolle bewusst werdend.

Viele waren schon gegangen, während er noch saß, Bier trinkend und den Ort gereifter Überzeugungen verinnerlichend. Immer wieder blickte er auf das Plakat mit der so eindeutigen Diktion und der beeindruckenden Klarheit. Er fühlte eine Übereinstimmung mit seinen gewonnenen Einsichten und der Überzeugung hinsichtlich der Richtigkeit seines neu eingeschlagenen Weges. Doch er sah noch etwas anderes: Es waren die roten Schriftzeichen, die er damals als Weckruf verstanden und die ihn hier her geführt hatten; jetzt sah er den Hintergrund, das bedrohliche, lebensfeindliche Schwarz. Dieses Schwarz machte ihm Angst. Ersteres zielte auf Veränderung, auf Bewegung, auf Zukunft, Letzteres aber war ihm unheimlich: Das Dunkle, das Lebensverneinende, das Tote. Das Rot erinnerte ihn an seinen so häufig gebrauchten Stift, mit dem er das Kleine zu korrigieren wusste; hier aber ging es um das Große! Vielleicht, sagte er sich, ist das Dunkle, das Schwarze nötig, um das Rot erst zur Wirkung zu bringen, um den Weckruf und damit die Wichtigkeit, handeln zu müssen, zu erkennen. Das Schwarze, es macht Angst, dachte er, aber ist diese Angst nicht schließlich Wegbereiter für eine bessere Zukunft? Das war es doch, was man ihm wortreich versuchte verständlich zu machen. Die Angst vor dem Fremden; ja, dachte er, wir müssen handeln! Mit immer klareren Vorstellungen von dem, was geschehen muss, verließ er die „Rose“.

– 2 –

Es ist Unruhe entstanden in der Stadt. Regelmäßige Demonstrationen gegen eine zunehmende Überfremdung sowie einige Übergriffe auf einzelne Personen mit Verletzungen und gar einem Todesfall haben ein Klima allgemeiner Verunsicherung entstehen lassen. Man fühlt sich wehrlos gegenüber einer überall lauernden Gefahr, gegenüber einer ganz offensichtlich in Unordnung geratenen Welt. Die ängstliche Befürchtung, selbst zum Opfer zu werden, reicht weit über die objektive Einschätzung der Gefährdungslage hinaus. Fehlgeleitete Gefühle erweisen sich immer wieder als Treibstoff der Angst. Der Bürgermeister sieht Handlungsbedarf. Er stammt aus einer Akademikerfamilie, die Mutter als Lehrerin schon längst im Ruhestand, der Vater, ehemaliger Maschineningenieur, bedarf der häuslichen Pflege. Als Einzelkind wuchs er heran. Nach Absolvierung der Schule hatte er mit dem Jurastudium begonnen, es aber nach wenigen Semestern abgebrochen. Seine Zukunft sah er in der Politik. Schon frühzeitig hatte er sich einer großen Volkspartei angeschlossen und hatte sich durch kluges Agieren und engagiertes Auftreten allgemeines Ansehen erworben. Seit mehreren Jahren ist er Bürgermeister. Kleinwüchsig, von gedrungener Statur, hat er schon frühzeitig gelernt, sich Aufmerksamkeit und Gehör zu verschaffen und nun gilt es, die Zügel fest in der Hand zu behalten und geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung zu ergreifen.

Die Abgeordneten im Stadtrat sind von den aufgebrachten öffentlichen Diskussionen sensibilisiert und Vieles von dem, was in den Straßen und auf den Plätzen lautstark gefordert wird, findet Eingang in die engagierten Reden der kontrovers geführten Aussprache in der Ratsversammlung. Zu lange hatte man den Zuzug von Ausländern, von Asyl suchenden Flüchtlingen und einer Vielzahl von Arbeit Suchenden mit einer gewissen Achtlosigkeit gewähren lassen. So argumentieren die Einen. Andere wiederum betonen: Das Hauptaugenmerk gilt doch schließlich den Menschen, denen man je nach Anliegen und Bedürftigkeit zu helfen versuche. Die wirtschaftliche Situation der Stadt biete durchaus die Voraussetzungen für die erforderliche Unterstützung und die tatkräftige Hilfe. Man erkenne die Not dieser Menschen, man sehe das Leid und die Hilfsbedürftigkeit; man sei zufrieden und wohl auch ein wenig stolz, das alles leisten zu können. Obwohl das christliche Kultur- und Gedankengut schon weitgehend in den Schatten des herrschenden Wohlstandes getreten sei, fühle man doch in den Augenblicken gezeigter Selbstlosigkeit einen gewissen Stolz und eine Zufriedenheit in der Hinwendung zu einer im Inneren noch vorhandenen christlichen Gesinnung. Man folge doch damit dem Bedürfnis, dem immer größer werdenden Leid in der Welt etwas entgegensetzen zu müssen und den in Not geratenen Menschen Hilfe zu gewähren. Man täte dies in großer Selbstverständlichkeit, ohne etwaige Folgen oder dadurch entstehende Probleme zu bedenken. Schließlich ginge es um Menschen und nicht um irgendwelche politischen Einlassungen.

Nun aber scheint diese Anschauung in der weiteren Diskussion immer wieder ins Hintertreffen zu geraten angesichts der um sich greifenden Unruhe. Noch sei nichts Greifbares, nichts Konkretes, was die allgemein gefühlte Unsicherheit rechtfertigen würde und doch ist es, als hätte sich die Luft verändert, als wäre die übliche Leichtigkeit im Alltäglichen abhanden gekommen. Auf dem morgendlichen Weg zum Rathaus legt der Bürgermeister sich schon manche Gedanken zurecht, schließlich muss er vorbereitet sein auf die vielen Anfragen, die in den letzten Tagen vermehrt an ihn herangetragen werden. Ganz beiläufig fällt ihm auf, dass die Anzahl der Plakate mit den aufreizenden roten Schriftzügen deutlich zugenommen hat. Das stört ihn, haben sie doch etwas Bedrohliches und deutlich spürt er eine gewisse Hilflosigkeit angesichts einer ganz offensichtlich lauernden, doch nicht greifbaren Gefahr. Er blickt um sich und sieht die vielen Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Auch Kinder sind schon unterwegs, sorglos, ein wenig trödelnd, mit schwerem Ranzen auf ihren Rücken. Niemand scheint Notiz zu nehmen von den überall hängenden Plakaten. Das beruhigte ihn zwar, doch er, immerhin Bürgermeister der Stadt, hat ein sicheres Gespür für das sich abzeichnende Ungemach.

In seinem Büro angekommen, macht er sich daran, die auf seinem Schreibtisch bereit liegenden Unterschriftsmappen zu bearbeiten. Zu neuen Bauanträgen hat er Stellung zu nehmen, Einladungen zu verschiedenen Versammlungen sind zu beantworten, mit persönlichen Anfragen hat er sich zu beschäftigen und Verfügungen zu unterschreiben. Alles Routine, wie er sie gewohnt war. Dann aber wird er mit einem formellen Schreiben um die Genehmigung einer Demonstration am kommenden Wochenende gebeten. Auf dem Briefkopf das ihn beunruhigende rote Parteiemblem auf schwarzem Grund. „Nun ist also diese Pest bis in mein Büro vorgedrungen“, denkt er. Eine Möglichkeit, dieses Gesuch abzulehnen, sieht er nicht. Mit kaum leserlicher Schrift notiert er am Rand „Vorlage/Stadtrat“. Während er weiter die Akten studiert, klopft es. Ein Mitarbeiter tritt ein und berichtet, dass ein dunkelfarbiger Ausländer letzte Nacht von drei Jugendlichen hart angegangen wurde; er sei schwer verletzt und läge im Krankenhaus. „Die Polizei ist dran“, sagt er, „mehr ist zur Zeit nicht bekannt“. Der Bürgermeister ist betroffen. „Wir müssen etwas tun, aber was?“. Schweigend blickt er auf die Unterschriftsmappe. „Aber was?“ wiederholte er noch einmal, ganz in sich vertieft.

Der Mitarbeiter verlässt nachdenklich den Raum. Mehr hatte er im Augenblick nicht zu sagen. Doch auch er ist beunruhigt. Auf dem Weg durch die langen Gänge trifft er immer wieder auf Gruppen, die sich angeregt unterhalten. Es herrscht Bestürzung und Ratlosigkeit. Einige glauben von einer organisierten Schlägerbande gehört zu haben, andere wiederum gehen eher von einer beiläufigen Keilerei aus, in die auch ein Ausländer verwickelt gewesen sein soll. Ganz vereinzelt sind Stimmen zu vernehmen, die sich mit der Notwendigkeit zu ergreifender Maßnahmen beschäftigen, obwohl noch keiner zu diesem Zeitpunkt gesicherte Kenntnisse über den genauen Hergang haben konnte. Und doch geben einige zu bedenken, dass Ausländer doch eine größere Gewaltbereitschaft an den Tag legten, so dass man sie strenger beobachten müsse. Immerhin gälte es doch, die eigenen Bürger zu schützen. Solche Meinungen bleiben nicht unbeantwortet und so kommt es, dass die Diskussion mit immer größerer Heftigkeit, ja mit lautstarker Empörung geführt wird. Mit anhaltender Erregung und aufgewühlten Gefühlen geht schließlich jeder in seine Amtsstube zurück.

Am Nachmittag trifft man sich im Sitzungssaal. Der Bürgermeister hat die Referatsleitungen zu einer Aussprache gebeten. Dem Kreis seiner vertrauten Mitarbeiter bringt er das Schreiben zur Kenntnis, mit dem um die Genehmigung einer Demonstration gebeten wird. Trotz aller Unterschiede hinsichtlich der Beurteilung der Sachlage ist man sich schnell einig, dass keine rechtliche Handhabe für ein Verbot dieser Veranstaltung geltend gemacht werden könne. Man bespricht die Maßnahmen, die es zu ergreifen gilt. Es müsse genügend Polizei vor Ort sein, um möglichen Ausschreitungen von vorn herein Einhalt zu gebieten. Man müsse Herr der Lage sein, zumal auch mit Gegendemonstrationen zu rechnen sei. Die Situation sei sehr ernst, immerhin sei schon ein Todesfall zu beklagen. Man erinnerte an den hinterhältigen Mord vor nicht geraumer Zeit. Der Getötete sei ein Ausländer gewesen, betonte einer der Anwesenden; es gälte, auf alles vorbereitet zu sein. Der örtliche Polizeichef erwiderte daraufhin: „Das zeigt immerhin, dass Ausländer immer wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen involviert seien. Es muss für den Schutz der Bürger Sorge getragen werden.“ „Welche Bürger meinen Sie denn?“ fragt der Bürgermeister. „Die Eigenen!“ betonte der Polizeichef mit wehrhafter Überzeugung.

Samstagnachmittag. Die Teilnehmer der Demonstration versammeln sich vor dem Rathaus. Die Polizei, mit großem Aufgebot präsent, hat vor den kommunalen Gebäuden Stellung bezogen. Noch stehen die Demonstranten in launiger Runde beisammen, laut, bunt, mit entschlossener Geste. Erst sind es nur wenige, doch es werden mehr und bald schon füllen sie die Straßen. Niemand hatte mit einer so großen Menge Demonstrierender und Protestierender gerechnet. Und dann, mit einem Mal setzt sich der Pulk mit großem Getöse in Bewegung. Plakate und Spruchbänder werden hoch gehalten und deren Inhalte in lautstarken, sich ständig wiederholenden Schlagworten hinaus posaunt: „Nicht weiter so!“, „Ausländer raus!“, „Wir nehmen die Sache in die Hand!“. Wie ein schwerfälliges Ungetier zieht der nicht enden wollende Protest ohrenbetäubend durch die Straßen. Langsam schiebt sich der Tross unduldsamer und aufgebrachter Akteure an den ungläubig an die Seite gedrängten, aufgeschreckten Zuschauern vorbei und lange noch ist der Widerhall einhämmernder Parolen von der sich immer weiter entfernenden Protestmaschinerie zu hören: „Nicht weiter so!“.

Am nächsten Tag ist in den Zeitungen zu lesen, dass eine Gruppe gewaltbereiter Randalierer während der Nachtstunden in zwei türkische Geschäfte eingedrungen sei und die Räumlichkeiten in unvorstellbarer Weise verwüstet hätte. Personen seien nicht zu Schaden gekommen; man fahnde nach den Tätern, heißt es. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht bis in die letzten Winkel der Stadt. Schaulustige haben sich vor den Geschäften eingefunden; es herrschen Entsetzen und eine allgemeine Ratlosigkeit. Was ist nur in dieser Stadt los? Fragen sich die Menschen, die in den Straßen heftig diskutierend stehen bleiben und in dem wenigen Wissen, das sie über die Motive und den genauen Hergang haben, ganz unterschiedliche Meinungen vertreten. Es werden Schuldzuweisungen laut gegenüber der Stadt, die ihrer Ordnungspflicht nicht nachkomme, gegenüber einer zu beklagenden Zunahme einer allgemeinen Gewaltbereitschaft, immer wieder aber auch gegenüber Ausländern, die nicht bereit seien, sich dem gängigen Rechts- und Lebensverständnis unterzuordnen, ja mehr noch, dass ihnen ein wesentlicher Anteil an der Arbeitslosigkeit unter den einheimischen Bürgern anzulasten sei. Die allgemeine Empörung ist groß und es scheint, dass der Gemeinsinn plötzlich abhandengekommen ist und dass sich die Wahrnehmung des Trennenden immer größeren Raum verschafft.

Die Vorgänge der vorausgegangenen Tage sind das alles beherrschende Thema in der Stadtratssitzung. Es dauert einige Zeit, bis sich die aufgewühlte Gefühlslage beruhigt hat und mit der eigentlichen Aussprache begonnen werden kann. Der Schriftführer verweist auf zahlreiche Wortmeldungen. Zunächst aber berichtet die Polizei über den Stand der Ermittlungen und über Einzelheiten der verur­sachten Schäden. Es sei der schnellen Polizeipräsenz vor Ort zu verdanken, dass der Versuch der zusätzlichen Brandstiftung vereitelt werden konnte. Die Täter, noch immer auf freiem Fuß, seien mit größter Brutalität vorgegangen; der Schaden sei immens. Die ersten Redner loben die Polizeiarbeit. Sie sind sich einig in der Forderung nach einer deutlichen Verstärkung der Polizeikräfte. Auch die Verbesserung deren Ausrüstung wird angesprochen. Die einzige Möglichkeit, der zunehmenden Gewalt Einhalt zu gebieten, liege ihrer Meinung nach darin, den aufkeimenden Aggressionen mit aller Härte entgegenzutreten. Dies gälte im Übrigen auch für den Eventualfall weiterer Demonstrationen. So sprechen die Einen.

Es meldet sich ein Abgeordneter aus dem bürgerlichen Lager zu Wort; er redet mit ruhigen, gesetzten Worten, so, wie man es von ihm gewohnt ist: „Das gesellschaftliche Zusammenleben in unserer Stadt war bisher geprägt von Friedfertigkeit, von Toleranz und gegenseitigem Respekt. Wir müssen nun feststellen, dass sich anfangs flüchtige Ideen Einzelner, Weniger zu einer dumpfen, gewaltbereiten Leidenschaft verdichtet haben. Auf der Suche nach einem Grund für ihre Unzufriedenheit, für ihren eintönig erlebten Alltag und auf der Suche nach geeigneten Projektionsfeldern zur Bestätigung ihres Selbstwertes haben sie begonnen, Zwietracht zu säen und das gesellschaftliche Zusammenleben in Frage zu stellen, indem sie die Menschen aufteilen in „fremd“ und „dazugehörig“, in Graduierungen unterschiedlicher Wertigkeit. Unsere Aufgabe muss nun darin bestehen, nicht das gewaltbereite Handwerkzeug ihrer schnöden Gesinnung zu bekämpfen, sondern sie aufzusuchen und sie von einem Besseren zu überzeugen. Wir müssen uns mit den Wurzeln des Übels beschäftigen! Mit dem Gespräch können wir Einfluss nehmen auf die Niedertracht ihrer verwegenen Zielsetzungen. Mit der hier geforderten Demonstration staatlicher Macht erreichen wir hingegen nichts anderes als diesen, ins Abseits geratenen Irrlichtern Bedeutung und Gewicht zu verschaffen. Fangen wir an, diese verirrten Menschen wieder ins Boot zu holen bevor sie die Tragfähigkeit des Bootes mutwillig aufs Spiel setzen!“.

Ein weiterer Redner meldet sich zu Wort. Man kennt ihn als Heißsporn, zwar lange Zeit von schweigender Zurückhaltung, doch in der Herausforderung um eine streitbare Auseinandersetzung nicht verlegen: „Es ist hier die Rede von „gewaltbereiten Randfiguren“. Gemessen an dem, was geschehen ist, stellt dieser Begriff doch eine nicht nachvollziehbare Verharmlosung dar. Glauben Sie wirklich, Herr Kollege, dass Langeweile und Trübsinn eine solche zerstörerische Vorgehensweise erklären können? Nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass bei allen Vorkommnissen der vergangenen Tage Ausländer involviert waren, entweder ging von ihnen Gewalt aus oder aber sie gaben Anlass für ein entschiedenes Vorgehen gegen sie. Stellen Sie sich für einen Moment vor, es gäbe sie nicht, diese Ausländer, dann wäre das gewährleistet, was Sie, Herr Kollege, zu Recht als Merkmal unserer Gesellschaft hervorheben: Friedfertigkeit, Respekt und Toleranz. So einfach ist das! Wir müssen diejenigen unterstützen, die den Mut haben, das Übel bei der Wurzel zu packen! Ich fordere Sie auf zu einer klaren und konsequenten Haltung gegenüber den unsere Gesellschaft verfremdenden Elementen!“. Selbstzufrieden geht der Abgeordnete zurück an seinen Platz in den hinteren Reihen des Sitzungssaales. Es scheint ihm eine eindeutige und kaum zu widerlegende Analyse der derzeitigen Sachlage gelungen zu sein.

Es folgen weitere Redner; je kürzer die Beiträge, desto lauter und heftiger die Entschiedenheit, mit der die Ansichten vorgetragen werden. Jede der verschiedenen Meinungen verfängt sich schließlich im Gestrüpp eigenwilliger Rechthaberei. Bald schon gleicht die Stimmung im Sitzungssaal der aufgeheizten Atmosphäre in der Öffentlichkeit. Mit gegenseitigen Vorwürfen wird versucht, die eigene Vorbildlichkeit gegenüber unlauteren Gesinnungen zu betonen und dem Anderen das Recht abzusprechen, sich für Freiheit und Frieden einzusetzen. Angesichts einer zunehmenden Feindseligkeit verblasst im heftigen Schlagabtausch die Suche nach einer menschenwürdigen Herangehensweise und nach einer friedensstiftenden Reaktion auf das um sich greifende Übel blinder, zerstörerischer Kräfte.

Unvermittelt tritt ein älterer Herr in grauem Straßenanzug langsam und mit bedächtigen Schritten ans Rednerpult. Es ist nicht einfach, sich in der aufgebrachten Stimmung des Saales Gehör zu verschaffen. Mit gedämpfter aber klarer Stimme liest er die Sätze, die er sich auf einem Blatt notiert hat: „Wir haben eine Verantwortung für das Wohl unserer Stadt. Wenn wir es nicht schaffen, uns gemeinsam dieser Aufgabe zu stellen, wenn wir nicht bereit sind, dem Anderen in Ruhe und Besonnenheit zuzuhören, wenn es uns nicht gelingt, die Grundwerte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens gemeinsam zu vertreten, wie sollte das draußen auf der Straße möglich sein? Wir sind dem Menschen – allen Menschen – verpflichtet! Daran, und nur daran will ich Sie erinnern!“. Mit Nachdruck fügt er hinzu: „Hütet sorgsam Euren Herzschlag, schützt ihn vor überrumpelnden, billigen Parolen, die uns alle ins Unglück führen!“. Er nimmt das vor ihm liegende Papier, faltet es und verlässt das Rednerpult.

Erst ist es ruhig, doch bald schon geht ein Geraune durch den Saal, teils nachdenklich, teils zustimmend, teils verunsichert. Von den hinteren Plätzen hört man empörte Rufe: „Was soll das denn!“ und „Wir brauchen keine Poeten, wir brauchen Kämpfer!“. Es folgen weitere Reden, die aber keineswegs geeignet sind, eine Klärung herbeizuführen. Man vertagt sich. Einzig dem Verlangen nach einer Verstärkung der Polizei hinsichtlich Ausrüstung und Präsenz wird stattgegeben.

Der Herr mit dem grauen Anzug namens Franz Gorlichs, ehemaliger Studienrat am hiesigen Gymnasium, trifft sich im Anschluss an die Sitzung mit seinem Kollegen in einem nahe gelegenen Café. Es ist spät geworden und beide Herren sind rechtschaffen müde und erschöpft doch noch voller Gedanken an die insgesamt wenig erfreuliche Aussprache. Herr Gorlichs bestellt sich einen Tee, sein Kollege ein Bier; essen wollen sie nichts. Lange sitzen sie schweigend und betroffen beisammen. Es fällt nicht leicht, angesichts so unwiderlegbarer Zeichen für ein aufziehendes Unheil, die passenden Worte zu finden. Tief nachsinnend sagt Gorlichs etwas unvermittelt: „Wie leicht ist es, mit Worten ein Herz im Sturm zu erobern; aber es sind auch Worte, die es schaffen, ein ganzes Volk in den Abgrund zu stürzen.“ „Sind es die Worte?“, fragt der Freund, „oder ist es die dahinterstehende Absicht? Oder ist es einfach die Gesinnung, die die Worte vergiftet? Vielleicht aber ist es der Boden, auf den der Samen fällt und ihn begierig aufnimmt. Wo also müssen wir ansetzen?“. Sie saßen noch bis spät in die Nacht, sich austauschend und sich gegenseitig Mut zusprechend. Eine kurze Wegstrecke gingen sie noch gemeinsam, bis sie sich verabschieden.

In den nächsten Tagen trifft sich erneut der Bürgermeister mit seinem Führungsstab, um die Vorbereitungen für das kommende Wochenende zu treffen. Es sind wieder Demonstrationen angekündigt. Es werden zusätzliche Polizeikräfte aus den Nachbargemeinden angefordert und nach langen Beratungen ist man sich sicher, auf alles gut vorbereitet zu sein. Es ist Donnerstag. Noch vor Tagesanbruch erhalten die Parteivorsitzenden einen Anruf aus dem Büro des Bürgermeisters: „Gorlichs ist tot. Er wurde gegen Mitternacht überfallen; er wurde erstochen. Jede Hilfe kam zu spät. Eine Stadtratssitzung ist für 8.00 Uhr angesetzt.“. Die Meldungen überschlagen sich. Die Tageszeitungen berichten auf den Titelseiten. Herr Gorlichs war beliebt, als Lehrer sehr geschätzt; er galt als Vertreter der Konservativen. Schon viele Jahre war er Abgeordneter im Stadtrat und war bekannt als überaus besonnen und zuverlässig.

Die Stimmung ist gedrückt; der Bürgermeister eröffnet die Sitzung: „Wie Sie wissen, haben wir den Tod eines überaus verdienten und allseits geschätzten Kollegen zu beklagen. Ich bitte Sie, sich zu erheben.“ Nach einer Schweigeminute fährt er in gewohnt geschäftsmäßigem Ton fort: „Nähere Umstände sind uns bislang nicht bekannt; wie wir wissen, ist Herr Gorlichs auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Es wird von drei oder vier Tätern berichtet; die Polizei ermittelt noch. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung gleichsam als Nachtrag zur letzten Sitzung: Er war kein Poet, er war ein mutiger Kämpfer für die Einhaltung und Bewahrung der menschlichen Würde.“. Zögernd melden sich die ersten Redner zu Wort. Die Anfänge der Aussprache verlaufen durchaus sachlich und der Situation angemessen. Die Verdienste des Verstorbenen werden gewürdigt, der entstandene Verlust immer wieder hervorgehoben. Das Gesprächsklima beginnt sich jedoch in dem Maße zu ändern, wie von einigen Rednern begonnen wird, Schuldzuweisungen nach der einen oder anderen Seite zu erheben. „Es müssen Täter aus dem links-radikalen Spektrum gewesen sein“, so die Einen mit dem Hinweis, Herr Gorlichs sei doch immerhin ein überzeugter Vertreter einer streng konservativen Politik gewesen. „Es handelt sich eindeutig um die Handschrift rechts-radikaler Kräfte. Denken Sie doch an die letzte Sitzung und an die Proteste aus den hinteren Reihen“, so die Anderen. Die angesprochenen Abgeordneten verließen prompt den Sitzungssaal. „Rechtsradikale“ oder „Linksradikale“? Die im Menschen gründende Urheberschaft des Bösen, die eigentliche Täterschaft also, wird zum Zankapfel anonymisierender Begrifflichkeiten und die Begriffe selbst zum Schutzwall des jeweils eigenen Standpunktes. Wegen zunehmend turbulenter Auswüchse wird die Sitzung vorzeitig abgebrochen.

Die Suche nach den Tätern macht keine Fortschritte; über eine heiße Spur wird nicht berichtet. In das Entsetzen der Bürger mischen sich Ratlosigkeit und immer wieder Gerüchte, die sich auf vermeintlich gesicherte Erkenntnisse gründen. Ein Fleischermesser hätte man am Tatort gefunden, also läge es nahe, die Täter im Umfeld des Fleischerhandwerks zu vermuten. Andere wiederum machen den Tatort zum Gegenstand ihrer Vermutungen. Nachdem der Mord in der Nähe einer Kirche geschehen sei, muss angenommen werden, dass es sich um eine religiös motivierte Tat handeln würde. So läge es nahe, dass es Ausländer waren. Möglicherweise ist es diese Version, die sich bei den Bürgern festgesetzt hat, denn entgegen aller Erwartungen und Vorhersagen hat die Demonstration am Samstagnachmittag erheblichen Zulauf erfahren. Neu ist, dass viele der Demonstranten maskiert sind und es fällt die Vielzahl der mitgeführten schwarzen Plakate auf mit den aufreizenden roten Initialen. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, aggressiv und feindselig. Es kommt zu Übergriffen und Gewalttätigkeiten gegenüber der Polizei und – in auffallender Deutlichkeit – vermehrt gegen Ausländer.

Ausführlich wird über den Verlauf der Demon­stration in den Zeitungen der folgenden Tage berichtet. Am Montagnachmittag gibt die Polizei weitere Informationen bekannt. Mit großer Spannung wird die Übertragung der Pressekonferenz im Hörfunk und im Fernsehen erwartet. Die Bilanz der Demonstration, so der Polizeisprecher sei erschreckend: Drei Schwerverletzte, die im Krankenhaus behandelt werden müssen; Lebensgefahr bestünde allerdings nicht. Eine Vielzahl von Leichtverletzten, darunter allein 32 Polizisten. Der Sachschaden sei beträchtlich: Drei geplünderte Geschäfte, Gebäudeschäden in großem Umfang, zwei brennende Autos, insgesamt 12 Festnahmen. Was den hinterhältigen Mord an dem Stadtrat Herrn Gorlichs angeht, tappt die Polizei weiter im Dunkeln; die Bürger werden zur Wachsamkeit aufgefordert. Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen ist eine Belohnung von 10 000 Euro ausgesetzt.

Lange Artikel in den Zeitungen versuchen, bei gebotener Sachlichkeit, die Stimmungen in der Stadt einzufangen. Die Presse, so viel und wahrheitstreu sie auch berichtet, tut sie doch das ihrige dazu: Indem sie die bestehende Unruhe und die allgemeine Empörung in markanten Überschriften und in einer aufwühlenden Berichterstattung festschreibt und auf diese Weise im öffentlichen Bewusstsein verankert: „Es herrscht Bürgerkrieg“, „Der Ruf nach einer Bürgerwehr wird lauter“, „Muss das Militär eingreifen?“, „Die ungehemmte Aggression, wer steckt dahinter?“.

Der Bürgermeister ruft seinen Führungsstab zu sich. „Die Situation ist unerträglich, die Gewalt beginnt sich zu verselbständigen“, so seine einleitenden Worte. „Ich weiß nicht, ob Sie schon gehört haben, dass einige Bürger einen jungen Mann heftig attackiert haben als dieser versuchte, eines der berüchtigten Plakate an einem Geschäft in der Kriegbaumstraße anzubringen. Der Vorfall hat sich gestern Abend ereignet. Während der junge Mann offenbar entwischt ist, werden zurzeit die Beteilig­ten, nach Angaben der Polizei bislang unbescholtene Bürger, zum Tathergang befragt. Sie sehen daran, meine Herren, wie gereizt und aufgebracht die derzeitige Stimmungslage in unserer Stadt ist.“. „Wie ich weiß“, ergänzt der Referent des Stadtbauamtes, „hängen in dieser Straße ohnehin schon auffallend viele Plakate dieser Art.“.

„Es ist noch etwas anderes, was mich beunruhigt“, fährt der Bürgermeister mit besorgter Miene fort, „Wie ich höre, haben sich in mehreren Stadtteilen Bürgerwehren etabliert. Ohne jede rechtliche Befugnis beabsichtigen sie, auf den Straßen und Plätzen, vor allem in den Abend- und Nachtstunden Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. In den Zeitungen war bereits davon zu lesen. Sie stimmen mir zu, dass mit diesem Anliegen die Staatsgewalt kompromittiert wird. Wir können das nicht zulassen.“. Einhellige Meinung besteht darin, die nächtliche Polizeipräsenz in den jeweils gefährdeten Stadtgebieten zu erhöhen. Darüber hinaus werden Maßnahmen zum Schutz öffentlicher und privater Einrichtungen im Zusammenhang zukünftiger Demonstrationen beschlossen. „Ich bitte Sie, sich Gedanken zu machen über Mittel und Wege, dieser unglückseligen Situation Herr zu werden. Die Polizei versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, Licht ins Dunkel zu bringen und die Initiatoren der aufkeimenden Gewalt dingfest zu machen.“.

Zwei Tage später, es ist Mittwoch, kurz vor Mitternacht. In der Kriegbaumstraße vor einem türkischen Kleinwarenhändler explodiert eine Bombe. Trotz eiligst herbeigerufener Feuerwehr konnte der dadurch entstandene Brand in dem kleinen Geschäft nicht verhindert werden. Auch die Polizei, insbesondere die Experten des Brandschutzes sind vor Ort. Die Bombe hat am Mauerwerk des Gebäudes und im Bereich der Straßendecke erheblichen Schaden angerichtet. Wenige Meter vom Bombenkrater entfernt liegt ein Toter, völlig entstellt von der Gewalt der Explosion mit ausgedehnten Verbrennungen und zerfetzten Kleidern. Es wird nach Möglichkeiten einer Identifizierung gesucht, Ausweispapiere wurden nicht gefunden, auch andere besondere Merkmale konnten bisher nicht festgestellt werden. Man findet nichts. Etwas weiter entfernt liegt eine alte, braune Ledertasche, verbeult und zerrissen. In dieser Tasche finden sich lediglich ein Lineal und zwei Rotstifte. Spezialkräfte beginnen mit den Untersuchungen. Auch die Öffentlichkeit wird um Mithilfe gebeten. „Wer kennt die Tasche?, wer kennt diesen Mann?“.

Der Steuerprüfer

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