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Emil und die Kamera

Es war eine Familie wie jede andere auch. Der Vater galt als streng, korrekt und stilbeflissen, was aber durch seinen Beruf als Gymnasiallehrer durchaus erklärt werden konnte und keineswegs als anstößig empfunden wurde. Die Mutter sorgte sich, neben ihrer Halbtagstätigkeit in einer angesehenen Privatbank um die Familie, die häuslichen Geschäfte, die unmittelbaren Alltäglichkeiten und sie sorgte sich um die vier Kinder.

Drei von ihnen waren schon älter, während Emil das Schicksal eines Nachkömmlings zu tragen hatte. Er wuchs im Schatten der anderen auf, erregte nur wenig Aufsehen und erntete eine Aufmerksamkeit, die eher beiläufig, nur selten überschwänglich war. Die Zuwendungen, die er erfuhr, entsprachen seinem Alter und schon früh lernte er zu unterscheiden zwischen der Ernsthaftigkeit bei Auseinandersetzungen, wie er sie bei seinen Geschwistern erlebte und einer wohlwollenden Besänftigung, wie sie ihm gewöhnlich zuteil wurde. Durch eine Haushaltshilfe, die ihm in den Vormittagsstunden zur Seite stand, wurde das Gefühl der Sonderstellung und der Distanz zum Selbstverständnis der „Großen“ verstärkt.

So durchlebte er seine Kinderjahre, zwar eingebettet in die Familie, jedoch immer wieder allein mit seinem Schicksal. Wie seine älteren Geschwister besuchte er schließlich das Gymnasium, endlich. Endlich hatte auch er den Status erreicht, die Distanz überwunden, die ihn von diesen immer schon großen Geschwistern getrennt hatte. Endlich Gymnasium, endlich selbst groß sein!

Doch alle drei Großen hatten inzwischen mit dem Studium begonnen. Emil war Schüler. Seine Zeugnisse waren nicht mehr als durchschnittlich. Der Blick nach oben hatte ihn stets angespornt, hatte ihn stets gelähmt. So gab es Zeiten, in denen er sich sammelte mit allen Kräften; dann gab es Zeiten, in denen er sich gehen ließ, in denen er erschlaffte, träumend in sich gekehrt und sich nach einem Glück sehnte, das er nicht benennen konnte. In solchen Zeiten nahm er widerstandslos alles, was sich ihm bot: Fernsehen, Filme, Videos und Musik, letztere sich monoton wiederholend.

An einem solchen Abend sah er einen Film über den mexikanischen Freiheitskämpfer Emilio Zapata. Kein gebildeter Mann, ein Bauer, der wie andere um sein Land kämpfte, der sich gegenüber der vereinnahmenden Fremdherrschaft zur Wehr setzte, der klug und besonnen Verhandlungen führte und wenn es sein musste, zur Waffe griff. Er, Emilio Zapata, war anerkannt und bewundert, als Anführer, als Leitbild, als Held.

Mit ganzer Hingabe verfolgte Emil die Auftritte dieser strahlenden Lichtfigur und bewunderte die Angemessenheit seines Denkens und die Entschiedenheit seines Handelns. Er versuchte, sich in dem Bild dieses großen Mannes zu spiegeln und mehr und mehr verwischten sich die Grenzen zwischen dem bewunderten Emilio und dem von Anerkennung träumenden Emil.

Schon der nächste Tag zwang Emil, sich wiederum seiner Wirklichkeit zu stellen. Mit der Klassenarbeit, die er unerwartet und unvorbereitet zu schreiben hatte, war er überfordert. Es fehlten ihm Denkvermögen und Konzentration; seine Gedanken blieben flüchtig.

Sein Weg von der Schule nach Hause führte ihn vorbei an langen Häuserzeilen, an Vorgärten und schließlich einem brachliegenden Grundstück, an dessen Ende eine schmale Steintreppe zu einem höhergelegenen Platz aufstieg. Immer wieder kam es vor, dass ihm bei seinem mittäglichen Heimweg ein kleiner Junge, nicht älter als sechs Jahre, in Höhe dieser Stufen entgegenkam. An solchen Tagen, besonders dann, wenn er nagenden Frust in sich spürte, nutzte Emil die Enge der Treppe, diesem kleinen, verspielt über die Stufen tänzelnden Jungen, den Weg zu versperren. Emil merkte zwar, dass er diesen Jungen auf diese Weise verunsicherte und verängstigte, doch stärker war in ihm das Bedürfnis, vor sich und vor dem Jungen seine Überlegenheit zu demonstrieren. Erst nach Beendigung eines Liedes, das zu singen er von ihm abverlangte, ließ er ihn gehen und er schaute ihm nach, dem Kind, das die Leichtigkeit des Tänzelns verloren hatte. Nie hatte Emil irgendjemandem davon erzählt.

Es vergingen drei Jahre, während ihm und seinen Eltern immer klarer wurde, dass er das Gymnasium nicht schaffen würde, zu unstet waren seine Leistungen, zu wenig ernst sein schulischer Wille.

Er beschäftigte sich mit vielem, doch nichts konnte ihn zufrieden stellen, kaum gab es etwas, was ihn erfüllte. Das Wünschen war bei ihm stärker als die Bereitschaft zu wagen, die Ungeduld größer als die Beständigkeit der Hingabe.

Das unstete, fahrige und insgesamt glücklose Leben von Emil gab den Eltern Anlass zur Sorge. Von ihren drei Großen waren sie anderes gewohnt und sie suchten nach Erklärungen für dieses befremdlich anmutende Verhalten von Emil. Aufmunterungen und gutmeinendes Zureden waren ebenso wenig hilfreich wie Ermahnungen und nachdrückliche Zurechtweisungen. Sie versuchten es mit Gaben und Belohnungen, die sie an Bedingungen knüpften, mit Versprechungen, die ihm die Pflichten schmackhafter machen sollten. Doch alles ohne den gewünschten Erfolg.

Der von Emil schließlich übernommenen „Wenn-dann-Argumentation“ wussten die Eltern nichts Wirkungsvolles entgegenzusetzen. So kam es, dass Emil eines Tages glaubhaft versicherte, dass ihm eine Kamera dazu verhelfen würde, seine Freizeit nutzbringender und sinnvoller zu verbringen – wo er sich doch immer schon eine Kamera gewünscht hatte – und dass er sich dann um so intensiver und damit auch erfolgreicher um die Schulaufgaben kümmern würde. Der Wunsch nach einer Kamera wurde ihm erfüllt; unerfüllt hingegen blieben seine schulischen Vorsätze.

So bestand bald schon Einigkeit darüber, dass die Fortsetzung der bangen Gymnasialzeit wenig Sinn mache, eine Auffassung, die vor allem der Vater nachdrücklich zu vertreten wusste. Die Gründe, die Emil bewogen, sich dieser Meinung anzuschließen, waren andere, kaum offen diskutierte. Zu weit hatte er sich schon von den familiären Vorbildern gelöst, als dass er diesen Schritt als Niederlage empfunden hätte. Irgendwie, dessen war er sich sicher, würde er auf seine Weise Anerkennung finden, irgendwie würde auch er Erfolg haben. Dennoch war es ein Schmerz für ihn, ohne dass er es hätte näher erklären können.

Seinen Neigungen folgend begann er eine Ausbildung in einem Fotolabor. Das Erlernen der technischen Grundlagen sollte ihm helfen, in das Metier des Fotografierens intensiv und profund einzusteigen. In der Tat gelang es ihm zwei Jahre später, sich mit diesen Kenntnissen eine Anstellung bei einem Fotografen zu verschaffen. Er machte seine Arbeit gut und er nahm sie ernst. In der Erfüllung seiner Pflichten ging die Zeit dahin. Immer wieder mussten Porträtaufnahmen gefertigt werden, in der oder jener Pose, mit Licht und Schatten spielend, immer in anderer Weise und doch immer auch gleich. Gelegentlich waren es Veranstaltungen unterschiedlicher Art, die er fotografierend zu begleiten hatte: Hochzeiten, Kongresse, Kultur- und Sportveranstaltungen, eben alles, was sich aus dem Alltäglichen hervortat.

Es waren mitunter gewichtige Anlässe, zu denen er als Fotograf gebeten wurde, gesellschaftliche Ereignisse von nachhaltiger Außenwirkung. Er war sich seiner Bedeutung durchaus bewusst und doch war er es ja nur, der das Besondere ins Bild setzte, der dem Augenblick zu seiner Wirkung verhalf. Nie war er es, der Aufmerksamkeit erntete, von dem Wirkung ausging, nie selbst dem Besonderen zugehörig, es immer nur abbildend.

Obwohl nicht bewusst, bedrückte es ihn und machte seine Gefühle stumpf. Nur tief im Inneren pochte etwas unerfüllt, brennend und lähmend. Es waren die Kräfte, die ihn suchen ließen nach einem neuen Betätigungsfeld, nach einem Leben, in dem er sich selbst verwirklichen konnte.

Er las eine Anzeige, in der ein überregional bekanntes und allgemein geschätztes Journal einen Mitarbeiter mit ausgewiesenen fotografischen Erfahrungen suchte. Er bewarb sich, er, und viele andere auch. Er kam nach Vorlage verschiedener Exponate und mehreren Gesprächen in die engere Auswahl. Es zog sich. Doch endlich, mit offiziellem Schreiben, auf wohlfeinem Papier, erhielt er eine Absage. Man hätte sich leider nicht für ihn entscheiden können, hieß es. Nach weiteren Tagen traf unverhofft ein zweites Schreiben ein: „Nachdem zwei Bewerber aus privaten Gründen die Stelle nicht antreten konnten, erlauben wir uns, anzufragen, ob Ihrerseits noch Interesse besteht?“. Er sagte zu. Er verdrängte dabei den kleinen Schmerz, dass bei all seinem Können der Wettbewerb nicht mit vorbehaltloser Anerkennung und Wertschätzung für ihn entschieden wurde. Er war leider nur zweiter, dritter, vierter, wer weiß.

Er begann seine Tätigkeit als Fotoreporter. Als Mitarbeiter der weithin anerkannten Zeitschrift rundete sich sein Selbstbewusstsein und in seinem Auftreten konnte man Sicherheit und Festigkeit spüren. Alles andere trug er verborgen in sich.

Es kam, dass er als Kriegsberichterstatter an die Front geschickt wurde. Die Nachrichten über die kriegerischen Auseinandersetzungen im fernen Afrika waren bislang spärlich. Man hörte Bruchstückhaftes und Widersprüchliches. Emil hatte nicht viel Zeit, sich auf diesen Einsatz vorzubereiten. Mit einer Maschine staatlich organisierter Hilfssendungen sollte er das Kriegsgebiet erreichen.

Er traf ein, nahm Kontakte mit verabredeten Stellen auf und suchte seinen Weg in dem turbulent friedlosen Durcheinander. Er nahm Verbindung auf mit den offiziellen Truppen und schloss sich einer Gruppe von sechs leicht bewaffneten Kämpfern an, mit der Aufgabe, ein nahegelegenes, völlig unübersichtliches Buschgebiet von feindlichen Guerillakämpfern zu säubern.

Emil war nun hautnah am unmittelbaren Frontgeschehen beteiligt, ohne Zeit und ohne Gelegenheit, seine erhitzten Gefühle zu ordnen. Er ging mit seiner Kamera wenige Schritte hinter den Soldaten, Schutz suchend und ängstlich. Die sich dem Horizont nähernde glutrote Tropensonne warf lange Schatten und ließ im dichten Buschwerk mitunter bizarre Figuren entstehen.

Aus der Ferne waren vollklingende, flötenartige Tierlaute zu hören. Sie klangen ihm fremd und anmutig zugleich, doch sein Blick hielt Kontakt zu den lautlos nach vorne pirschenden olivgrünen Soldaten mit ihren Magazinen und Gewehren. Mit der linken Hand schob er die sperrig federnden Zweige beiseite, mit der rechten, fiebrig schwitzend, hielt er seine Kamera wie ein Gewehr, schussbereit.

In dieser Anspannung erlebte er die Zeit wie ruhelos aneinandergereihte Bilder: Jedes einzelne von ihnen angefüllt und überladen mit den zehrenden Eindrücken des Augenblicks und jedes doch unfertig angesichts des Erwarteten, des unheimlich Unbekannten.

Die Sonne senkte sich weiter, die Kleidung klebte am Körper, die Sinne fieberten. Es fiel ein Schuss und mit ihm brach ein Feuertoben los, krachend, knallend, reißend. Emil warf sich zu Boden. Er stierte von Angst gelähmt auf die rotbraune, trocken zerfurchte Erde. Mit der linken Hand klammerte er sich an einen abgefallenen Ast, mit der rechten hielt er die Kamera. Er wagte nicht hochzublicken. Mit jedem Schuss presste er sich tiefer in die staubige Erde.

Er wusste nicht, wie lange er dort lag. Irgendwann hatte das Schießen aufgehört, irgendwie hatte ihn das lange bedrohte Abwarten erschöpft. Er hob den Kopf und sah sich um. Alles blieb ruhig. Er stand auf und wagte erste Schritte. Es war, als würde sich das zuletzt gespeicherte Bild in Erinnerung bringen, wie in einem Film, der sich, abgerissen, wieder in Bewegung setzt. Er sah niemanden, nicht die Soldaten, nicht Fremde, niemanden. Nichts war, außer einer betäubend leeren Stille.

Irgendwo mussten die Soldaten doch sein, irgend­etwas musste doch zu entdecken sein, Spuren, irgendwelche Spuren. Er ging in verschiedene Richtungen, traf auf eingedrückte Grasmulden, abgerissene Zweige und aufgewühlte Erdflecken.

Plötzlich aber hörte er ein Geräusch, leise und fern, hauchend, stöhnend. Langsam erst, sich seiner Sicherheit vergewissernd, dann schneller, hellwach und ungeduldig, näherte er sich den immer deutlicher werdenden Umrissen. Es war einer der Soldaten, die er begleitet hatte. Seine Jacke war zerfetzt, blutig; auch am Kopf waren blutige Spuren mit dem Schweiß des heißen Tages vermischt. Seine Augen waren weit geöffnet, in die Ferne gerichtet, hilflos, ergeben – aber er lebte, denn langsam zog er seine Hand zum Körper. Emil führte die Kamera vor seine Augen und drückte ab. Er machte ein zweites Bild und ein drittes, ein nächstes, stehend, gebeugt, kniend. Jede Geste, jeden Ausdruck des Sterbenden einfangend. Emil war wie im Rausch, besetzt und besessen von den Zwängen und Kräften seines Inneren. Er fotografierte den Körper, das Gesicht, die Hand, die sich ganz langsam vom Körper löste. Jetzt aber war sie gefallen und er fotografierte den Toten in seiner zurückgezogenen Verlassenheit. Er fotografierte das Blut und erwischte dabei die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

Als das letzte Bild genommen war, besann er sich, nahm seine Kamera und schlich sich ängstlich aber erfüllt zur Stadt zurück.

Mit den Bildern beteiligte er sich später an einem internationalen Wettbewerb. Er gewann den ersten Preis, denn kaum andere Bilder konnten den Schrecken des Krieges so eindrucksvoll und mitfühlend vermitteln. Sein Mut, seine Unerschrocken­heit und seine Tapferkeit fanden in besonderer Weise Erwähnung.

Der Steuerprüfer

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