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Das Vermächtnis

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Willkommen im Haus des Holismus. Am Anfang war die Information. Alles ist durch die Information geworden. In ihr war das Leben. Und durch sie wurde der Mensch.

Der Mensch aber tickt unmenschlich präzise. Wie eine Uhr, die so merkwürdig genau geht, dass sie sich der Zeit anpassen kann. Der Homo sapiens funktioniert anders, ganzheitlich, vielfältig, mysteriös und schön verrückt, holistisch eben.

Das Wunder Mensch verwundert die Menschheit, seit sie denken kann. Wo ist die Erkenntnis, die alles erklärt? Wo ist der Schlüssel zur staubigen Kiste, auf der in Goldschrift Sinn des Lebens steht? Fragen über Fragen.

Aber es gibt gute Nachrichten. Es gibt keinen Zufall. Nichts ist einfach so da, von der Ewigkeit aus Langeweile hingespuckt. Unser derzeitiges Schicksal wird von einem früheren Leben mitbestimmt. Dieser Satz kokettiert mit der Wiedergeburt, und das ist gut so. Alles passiert nach einem großen Plan, alles hängt zusammen, alles ist eins.

Der Holismus sieht den Menschen nicht bloß als körperliches Wesen, das mit ein paar Gefühlen garniert ist, sie versucht, ihn in seiner Gesamtheit zu verstehen. Die Seele, das Vorher, das Danach. Ja, die moderne Medizin setzt sich heute schon über Begriffe wie Raum und Zeit hinweg, wagt sich auf unbekanntes Terrain, stellt Fragen, die in der Wissenschaft vor Kurzem noch auf gerümpfte Nasen und verdrehte Augen gestoßen sind.

Was war vor unserem diesseitigen Leben? Was davon hat man wie vererbt bekommen? Was kommt danach? Was hinterlässt man als Vermächtnis? Bleibt überhaupt etwas? Und vor allem: Wie kann man das alles verstehen?

Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt:

»In den Fakultäten galten bislang allein die harten Fakten als existent – in Zukunft muss man sich mit den harten Nicht-Fakten zurechtfinden.«

Nicht-Fakten müssen nicht nur falsche Informationen sein, sondern auch Informationen, die wir noch nicht verstehen.

Immer mehr Forscher haben ganzheitliche Sichtweisen auf das Leben. Neue Studien zeigen auf, wie der Mensch schon vor seiner Zeugung durch die Verhaltensweisen seiner Eltern geprägt wird. Wenn also jemand geboren wird, dann hat es ihn schon in Form von zwei getrennten Erbinformationen in seiner Mutter und seinem Vater bereits gegeben. Nein, die Generationen vor ihm haben schon durch ihr Handeln und Lassen die Baustelle ihres Kindes vorbereitet.

Organe kommunizieren miteinander, selbst der Knochen meldet sich und plaudert mit den Hoden, plaudert mit der weiblichen Brust, mit dem Gehirn sowieso. In allem ist Licht und Finsternis. Sex macht jung und Sex macht alt. Schwangerschaften sind eine Belastung, können aber das Leben verlängern. Kinder haben auch Teile ihrer älteren Geschwister in sich.

Im Großen und Ganzen ist der Mensch kompliziert und komplex. Viel mehr als die Summe seiner Organe, mehr als eine biologische Masse aus Muskeln, Sehnen, Haut und Knochen. Holistische Betrachtung heißt, gleichzeitig mit dem Mikroskop näher zu rücken und geistig zwei Schritte zurückzutreten. Das Kleine wie auch das Große sehen. Die Mücke und den Elefanten. Das Bekannte wie das Unsichtbare. Forschen heißt, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Dazu braucht es den Geist der Neugierde und den Mut, bekannte Pfade zu verlassen. Man muss Wege finden, um den Holismus unseres Körpers zu begreifen.

Manche Hardliner und selbsternannte Wissens-Monopolisten unter den Medizinern kommen mir vor wie Fiakerpferde. Stur tragen sie ihre Scheuklappen und sehen nur die gepflasterte Straße vor sich, keine Quergassen, keine Parallelstraßen, keine Straßennetze. Nie machen sie einen Blick nach hinten oder zur Seite oder nach oben. So stehen ihnen auch nie 360 Grad Rundumblick zur Verfügung.

Beim Medicinicum Lech 2017 wurde mehrmals die Frage gestellt, warum so viele Menschen den schulmedizinischen Methoden skeptisch gegenüberstehen und sich der chinesischen Medizin oder Ayurveda zuwenden. Die Schwäche unserer Schulmedizin ist ihre Spezialisierung. Aber die ist auch ihre größte Stärke. Mithilfe von Spezialisierungen hat die Schulmedizin die großartigsten Dinge zuwege gebracht.

1928 legte der Bakteriologe Sir Alexander Fleming vom Londoner St. Mary’s Hospital mehrere Nährbodenplatten mit Staphylokokken an und ließ diese Bakterien auf einem Stapel in der Ecke des Labors zurück. Dann fuhr er in die Sommerferien. Nach seiner Rückkehr ins Krankenhaus entdeckte er, dass auf dem Nährboden einer der Platten auch ein Schimmelpilz gewachsen war, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Staphylokokken nicht vermehrt hatten. Endlich hatte er den Weg gefunden, wie sich Bakterien bekämpfen lassen. Zum ersten Antibiotikum war es nicht mehr weit. Jetzt durfte Fleming nicht lockerlassen, sondern musste weiter und weiter forschen und vor allem andere spezialisierte Kollegen auf seine Entdeckung aufmerksam machen. Eine Entdeckung, die unzählbare, wirklich unzählbare Leben gerettet hat.

Dreht man das Rad der Zeit noch weiter zurück, offenbart sich eine andere medizinische Meisterleistung, ebenfalls geboren aus dem sogenannten Zufall und weiterentwickelt mit dem Geist der Forschung: 1844 besuchte der Zahnarzt Horace Wells die Vorstellung einer Wanderbühne, bei der Freiwillige als Attraktion Lachgas einatmen konnten. Während der Vorstellung beobachtete Wells, dass eine der Versuchspersonen sich eine klaffende Wunde am Unterschenkel zuzog, ohne die geringste Schmerzreaktion zu zeigen. Daraufhin begann Wells mit Lachgas und anderen Inhalationsnarkotika zu experimentieren. Als er seine Entdeckung öffentlich vorführen wollte, ist er wegen einer falschen Dosierung kläglich gescheitert, ruinierte seinen Ruf und wurde chloroformsüchtig. Sein Mitarbeiter William Morton war glücklicher. Ihm ist eine öffentliche Vorführung gelungen. Er wurde berühmt. Auf jeden Fall war das Tor für die chirurgische Lebensrettung geöffnet.

Die Liste der Wunder ist lang, die Zufriedenheit der Patienten eher kurz. Wenn überhaupt. Die Gründe sind vielfältig: Oft sind es nur die wenigen Minuten, die sich der Schulmediziner den Damen und Herren widmen kann. Mitunter sind es unerfüllbare Wünsche oder Hoffnungen schwerkranker Menschen. Und häufig ist es einfach nur Unbehagen, ein leises Gefühl der Unsicherheit. Man sitzt im Wartezimmer und befürchtet, dass die hochspezialisierte Schulmedizin vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, sich nur auf das fachärztliche Organ konzentriert, und dass die Ganzheitlichkeit der Heilkunst beim Teufel ist. Der Skeptiker nennt das Scheuklappenmedizin.

Holismus heißt aber, sich immer wieder aufs Neue umzusehen und Zusammenhänge zu erkennen, nicht Pferdeäpfel auf dem Asphalt, sondern die Straße, die Stadt, das Land, den Kontinent, den Planeten, das Weltall, die Milchstraße, das Universum und was vielleicht dahintersteckt. Den Mikrokosmos, den Mesokosmos, den Makrokosmos. Die holistische Verschränkung. Die Zahnräder des Seins und die Kanten dessen, was wir Schicksal nennen. Bis zu den Rändern des Verstands und darüber hinaus.

Dazu eine Anekdote: Der Wiener Erzbischof, Franz Kardinal König, musste wie alle anderen auch auf seine Gesundheit achten. Sein Leibarzt, ein gewisser Willibald Polterauer, besuchte seinen Patienten dann und wann. Ich habe damals Medizin und Theologie studiert und arbeitete als Sekretär des Kardinals. Natürlich konnte ich es mir nicht entgehen lassen, mit dem Leibarzt meines Chefs so oft wie möglich ein paar Worte zu wechseln. Dass er über große Erfahrung verfügte, war schon in seinen kleinsten Bemerkungen zu spüren. Einmal meinte Polterauer:

»Ein guter Arzt weiß, dass unser Körper ein sehr gutes Gedächtnis hat. Er merkt sich vieles, auch über Jahrzehnte, aus der Kindheit und, könnte man weiterdenken, vielleicht auch aus der Zeit davor.«

Wir haben über Zusammenhänge gesprochen, die den Körper im Laufe der Zeit beeinflussen. Und über Verschränkungen, die im Körper alle gleichzeitig passieren. Was passiert mit dem einen Organ, wenn ein anderes Organ sich plötzlich anders benimmt als sonst? Ist die Erinnerung des Körpers das, was ihn mit der Ewigkeit verbindet? Wie weit reicht die Erinnerung?

Offensichtlich gibt es diese Verschränkung nicht nur in der Medizin, sondern, wenn auch in ähnlicher Art, in der Physik.

Spätestens seit dem Jahr 2016 macht ein chinesisch-österreichisches Projekt Schlagzeilen. Und gerade vor Kurzem, am 29. September 2017, sind es noch mal viel mehr Schlagzeilen geworden, als der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger in Wien zur öffentlichen Vorstellung der Früchte seiner Arbeit und der Arbeit seiner chinesischen Kolleginnen und Kollegen lud. Zwischen Wien und Peking wurde eine »spukhafte« Telefonverbindung hergestellt. Ein Wunder der Verschränkung.

Es geht um die Verschränkung von Quanten. Schon Albert Einstein hatte dieses Phänomen angenommen und treffend als »spukhafte Fernwirkung« bezeichnet.

Zwei Quanten, zum Beispiel Photonen, also Lichtteilchen, können nach den Gesetzen der Quantenphysik einen gemeinsamen Zustand annehmen. Diese Verschränkung bleibt auch dann erhalten, wenn man die beiden Teilchen räumlich trennt.

Wird eines der beiden Teilchen anschließend verändert, etwa indem man es mit einem weiteren Photon verschränkt, ändert sich der Quantenzustand des entfernten Partners automatisch. Dieses Prinzip funktioniert sogar über unglaubliche Distanzen von tausenden Kilometern, also auch zwischen Wien und Peking. Die Information wird gleichsam gebeamt. Nein, das trifft es nicht. Die Information ist zugleich an dem einen und an dem anderen Ort.

Das Projekt heißt Quantum Experiments at Space Scale, kurz QUESS. Nach ersten Versuchen auf dem Erdboden in China wurde im Sommer 2016 der erste Satellit in den Weltraum gesandt, der die Möglichkeit der Quantenverschränkung auch zwischen Weltraum und Erde aufgezeigt hat. Vereinfacht bedeutet das: Wenn alles nach Plan läuft, gibt es bald eine völlig neue, extrem schnelle Art des Internets. Anton Zeilinger formuliert den philosophischen Hintergrund in einem Interview so:

»Wichtiger als die Konzepte Raum und Zeit ist das Konzept der Information, und Information ist offenbar unabhängig von Raum und Zeit. Das heißt, die Information liegt vor, dass beide Systeme gleich sein müssen, auch wenn sie vor der Beobachtung noch keine vordefinierten Eigenschaften besitzen und obwohl sie keine Verbindung haben. Für mich deutet das in die Richtung, dass Information fundamentaler ist als alle anderen Konzepte. Schon das Johannes-Evangelium beginnt mit: Am Anfang war das Wort. Das kann ich auch mit Information übersetzen.«

Am Anfang war also die Information.

Die Romantik hatte das bereits in poetische Worte gekleidet. So dichtet Joseph von Eichendorff:

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt fängt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.

Der Wiener Quantenphysiker Anton Zeilinger vermutet vor allem hinter den Verschränkungsphänomenen ebenfalls eine uns noch nicht bekannte »Melodie«. Und er moniert auch, dass die spekulative Physik des 20. Jahrhunderts eigentlich die neuen Weltanschauungen prägen müsste, ähnlich wie das die mechanistische Physik zwei Jahrhunderte vorher gemacht hat.

»Das Paradigma zu jeder Zeit war, zu versuchen, Gehirn und Bewusstsein anhand der Leitwissenschaft in der Physik zu erklären«, sagt Zeilinger. »Im 19. Jahrhundert gab es mechanische Modelle des Gehirns mit Zahnrädern. Später waren es Vorstellungen mit elektrischen Relais, heute ist es die Quantenphysik.«

Sie erlaubt wesentlich mehr Verschränkungen und Korrelationen als die klassische Physik. Eigentlich ist sie holistischer.

Wenn uns die Hirnforscher bestätigen, dass sich nur ein kleines Segment der Wirklichkeit unserem Geist und unserem Verständnis erschließt, so ist das natürlich noch lange kein Gottesbeweis. Allerdings erscheint es heute intellektuell redlicher als noch vor hundert Jahren, im Nebel des uns nicht Zugänglichen einen Weltenbaumeister anzusiedeln. In Sinnstiftungsfragen ist das für mich auf jeden Fall der Plan A, im Gegensatz zum Plan B der traurigen und unromantischen Abwesenheit Gottes.

Faust, der große Wissenschaftler, kannte weder Neurowissenschaften noch Quantenphysik, und machte sich deshalb über Gretchens Glauben lustig.

Mit den Worten einer Sphinx spricht auch Philosoph Peter Sloterdijk von einer Endlichkeit des Wissens und rät, dieses Manko durch einen gewissen Surrealismus zu kompensieren:

»Durch den Sinn für das Mögliche, das Außergewöhnliche, das Wunderbare und das Absurde.«

Das Transzendentale erwähnt er nicht ausdrücklich.

Allerdings scheint es nicht mehr unvernünftig zu sein, sich für Wirklichkeiten zu entscheiden, die jenseits unserer Erkenntniswelt liegen. Ob im Gestern, im Heute oder in dem, was kommen mag, was uns erst im Morgen vermacht werden wird. Und manchmal ist so ein Vermächtnis eine Botschaft, die erst sehr viel später ihre Wirkung entfaltet.

Beim Medizinerkongress in München, es war Anfang Mai 2017, ein herrlicher Tag, hielt Sloterdijk einen Festvortrag. Wir haben ihn mit einem Brief begrüßt, einem Schriftstück von Sigmund Freud an Arthur Schnitzler:

»Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objekts erworben habe, und habe den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition all das wissen, was ich in langer Arbeit an Menschen aufgedeckt habe. Den Dichter, den ich stets beneidete, beginne ich jetzt zu bewundern.«

Heute würde man sagen: Sigmund freut sich. Die Dichtung, die Philosophie und die Wissenschaft sind verschränkt. Die Dichtung muss nicht so präzise sein wie die Wissenschaft, aber die Wissenschaft kann sich von der Dichtung die schönen Worte ausborgen.

Der Glaube, heißt es, kann Berge versetzen. Wer auch immer das glauben mag. Eine Sache kommt mir in den Sinn, wenn Atheisten sich mit sagenhafter Überheblichkeit über gläubige Menschen lustig machen und dogmatisch feststellen, dass der Glaube an Gott ja bekanntlich tot sei, und dass das doch ohnehin alle vernünftigen Leute wüssten. Ich erinnere mich dann immer an die suchende Vorsicht, die der frühere Bundeskanzler Bruno Kreisky bei seinen jährlichen Weihnachtsbesuchen bei Kardinal König nicht nur einmal zur Rede brachte: Dass unser Gehirn nicht fähig wäre, Transzendentales zu erkennen, aber dass man das Transzendentale deshalb auch nicht ausschließen dürfe. Es steht, so Kreiskys Meinung, fünfzig zu fünfzig.

Meine Aufgabe damals war es, die Gäste zu erwarten und zu Kardinal König hinaufzuführen. Bei einem dieser Besuche blieb Kreisky auf der wunderschönen Renaissancestiege des Palais stehen und fragte mich nach meinen Zukunftsplänen. Als ich ihm erzählte, ich wolle Arzt werden, hielt er inne, wandte sich auf der Stiege mir zu und sagte:

»Da müssen Sie das machen, was auch in der Politik gilt. Ein guter Politiker muss die Menschen lieben. Ein guter Arzt muss das auch.«

Kardinal König führte dann kurz vor seinem Tod ein Gespräch mit mir. Es war ebenso berührend wie tiefsinnig.

»Ich habe einen Wunsch«, sagte er. »Sie sollten sich mit der Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Theologie befassen. Es gibt Schnittpunkte, glauben Sie mir, mehr als man denkt. Naturwissenschaft und Theologie lassen sich verknüpfen. Das eine schließt das andere nicht aus, im Gegenteil, beide Teile bilden ein Ganzes. Die große Aufgabe besteht darin, zu verstehen. Das könnte zu einer tiefen Erkenntnis führen.«

Es hat eine Zeitlang gebraucht, bis ich seinem Wunsch nachkommen konnte. Jetzt gehen die Knoten auf, alles löst und öffnet sich. Auch das ist sein Vermächtnis. Auch wenn die tatsächliche »Erkenntnis« wohl natürlich in alle Ewigkeit auf sich warten lassen wird.

Nach Jahrzehnten soll hier auch versucht werden, seine Sicht der Vernünftigkeit, an Transzendentales zu glauben, und die Versöhnung zwischen Glaube und Wissen zu kommemorieren. Und genau diese Versöhnung erlaubt auch intellektuell, redliche Antworten auf die großen Fragen zu finden, die Kardinal König immer wieder zur Rede brachte: »Woher komme ich? Wohin gehe ich?«

Damit griff er auf die gnostische Erlösungsformel zurück, die Clemens von Alexandrien zitierte:

»Wer waren wir? Was sind wir geworden? Wo waren wir? Wohinein wurden wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt? Was ist Wiedergeburt?«

Selbst Biologie und Medizin sprechen zunehmend von einer Art Leben vor unserer Zeugung und von einem Leben nach uns, in das beispielsweise Liebe und Zuneigung, die sich tatsächlich auch vererben lassen, weiterwirken können.

Werden die Fragen des Woher und des Wohin noch weiter gesteckt, über die Biologie hinausgehend, so soll es nicht als unvernünftig abgetan werden, wenn sich religiös musikalische Menschen zu Wort melden und das Diesseits als eine Art Exil ansehen. Ein Exil, in das man von dort hineingefallen ist, wohin man nachher wieder zurückgeht. Ein Exil, in dem man aber auch bleibt, selbst wenn man schon weg ist. So hat Sokrates von der weisen Diotima erfahren, dass der Mensch durch seine Kinder an der Unsterblichkeit teilhat. Aber nicht nur durch Kinder, wie wir sehen werden.

Das ganze Welttheater ist wie ein Puppenspiel. Wir sehen nur die Puppen, nicht die Hand, die hinter den Puppen steckt und sie führt. Auch wir Menschen sind wie Puppen. Wir bewegen uns wie Figuren auf einem Maskenball.

Die Welt ist unendlich bunt und vielgestaltig, nur können wir sie in unserer menschlichen Beschränktheit immer nur wie durch getönte Gläser sehen. Durch Brillen, die uns von der Ganzheit der Welt immer nur Teilaspekte zeigen, Schattierungen, Ausblendungen, Graustufen. Und nicht das Bild, das uns das prächtige Kaleidoskop des Alls bietet. Der Mensch begreift weniger, als er glauben kann.

Auch die Chaostheorie geht von einer uns nicht immer verständlichen Beeinflussung von Reaktionsketten aus. Der Schmetterlingseffekt ist ein Phänomen der nichtlinearen Dynamik. Er soll anschaulich machen, wie physikalische Reaktionen, die uns chaotisch erscheinen, sich beeinflussen. Es ist nicht vorhersehbar, in welchem Maß sich schon winzig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen eines Systems langfristig auf die gesamte Entwicklung des Systems auswirken. Kann ein Flügelschlag eines Schmetterlings über Afrika einen Hurrikan in der Karibik auslösen? Er kann.

Angenommen, Sie gehen eine Minute zu spät aus dem Haus und verpassen die Straßenbahn. Dadurch verspäten Sie sich zu einem Vorstellungsgespräch und werden nicht genommen. Zerknirscht verlassen Sie die Firma und werden angerempelt. Der Mensch vor Ihnen schaut Sie an, sie reden miteinander, verlieben sich, gründen eine Familie und werden glücklich. Wären Sie pünktlich aus dem Haus gegangen, dann wäre das alles nicht passiert. Sie hätten den Job bekommen und den Lebenspartner nie getroffen. Flügelschläge des Schicksals, Myriaden von Möglichkeiten.

Jeder Quantenvorgang hat weitreichende, der Physiker sagt »nichtlokale« Auswirkungen, die mit extrem sensiblen Antennen wahrgenommen werden können. Sie stehen in einer holistischen Verbindung zueinander. So ein Band gibt es auch zwischen Kind und Mutter. Ein Band aus unendlich vielen Fäden gesponnen.

Der einprägsame Begriff »Schmetterlingseffekt« stammt übrigens von dem amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz, der im Jahr 1972 vor der American Association for the Advancement of Science einen Vortrag über Vorsehung hielt. In seiner ursprünglichen Form verwendete er den Flügelschlag einer Möwe statt eines Schmetterlings, aber wir wollen nicht kleinlich sein, besser holistisch.

Am Anfang war die Information. Mit der Zeit kommt die Erkenntnis. Oder auch nicht. Am Ende bleibt ein Lächeln.

Der holistische Mensch

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