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Die Ära der hormonellen Innenpolitik

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Willkommen in einer der spannendsten Zeiten der Medizin. Wir befinden uns in der Welt des Holismus und betreten fast täglich Neuland. Die Forschung überrascht uns, die Zusammenhänge beeindrucken uns. Gängige Abläufe werden mit Aha-Effekten gespickt. Bekannte Stoffe zeigen sich von bisher völlig unbekannten Seiten. Es ist, als säßen wir in einem immer dichter werdenden Spinnennetz, in dem mit jeder Erkenntnis ein neuer Faden erscheint. Die Vernetzung lässt uns keine Pause beim Staunen.

Nehmen wir an, wir könnten am Stand der Dinge einmal kurz innehalten und zur Abwechslung nicht nach vorn, sondern zurückschauen. Zu den Anfängen. Gab es überhaupt einen Anfang? Wann hat sie begonnen, die Vernetzung des Menschen?

Wenn wir die Evolution nach dem entscheidenden Moment absuchen, stoßen wir auf eine große Geschichte, die sich Mutter Natur etwa vor 150 Millionen Jahren ausgedacht hat. Mit ihr ist der erste Tag einer neuen Zeit angebrochen. Es ist sozusagen die Guten-Morgen-Geschichte für die Spezies der Säuger. So sind sie entstanden, und als Prachtstück in dieser Reihe, als Krönung der Gattung, ist der Mensch aus ihr hervorgegangen.

Die Geschichte beginnt mit einer mutigen Eizelle, der ein Experiment gelang, das eine radikale Umgestaltung des weiblichen Körpers bewirkte. Ein Schmetterlingseffekt, da haben wir ihn wieder. Ein Schmetterlingseffekt von unermesslichem Ausmaß. Da muss ein Falter mit einer sagenhaften Flügelspannweite aufgeflattert sein.

Die mutige Eizelle lebte in einer Zeit, da die Fortpflanzung es nicht in die Top Ten der reizvollsten Freizeitbeschäftigungen geschafft hätte. Sex war nicht besonders aufregend. Genauer gesagt: Oft genug war es gar kein Sex, was vor Millionen von Jahren für Reproduktion sorgte.

Lebewesen haben sich vermehrt, wie sie alles andere auch gemacht haben. Fressen, kämpfen, flüchten, schlafen, fortpflanzen, was eben gerade anstand. Emotionslos, pragmatisch, gehorsam. Weil es in den Genen so eingetragen war. Irgendwie stand es so auf dem Stundenplan, damals in den evolutionär so umstürzlerischen Tagen der Kreidezeit.

Ursprünglich mussten nicht einmal zwei Organismen an diesem Nicht-Sex beteiligt sein. Das Weibchen produzierte ganz für sich ihre Eier und deponierte sie im Stillen. Irgendwo an einem geschützten Ort machte sie ein Häufchen aus ihnen, und das war’s. In manchen Fällen wurden sie von der Sonne bebrütet. In anderen vom Muttertier. Oder auch gar nicht.

Waren doch zwei Lebewesen zuständig, brauchten sie sich überhaupt nicht zu kennen. Sie mussten sich niemals begegnet sein, sie mussten einander nicht einmal gesehen haben, geschweige denn berührt. Viele Fischarten zum Beispiel halten für die Befruchtung nicht einmal inne, sie erledigen das heute noch im Vorbeigleiten. Das Weibchen setzt an irgendeiner Wasserpflanze ihren Laich ab. Darauf, wer das letzten Endes ist, der da des Weges daherschwimmt und seine Spermawolke darüber ablässt, kommt es ihr nicht so an.

Ähnlich ist es bei den Reptilien und allerlei Federvieh. Sympathie ist kein Kriterium bei der Vermehrung. Erst recht keine Leidenschaft. Wäre das heute auch bei den Säugern, wie ja letztlich der Homo sapiens einer ist, noch so, hätten wir eher einen Orgasmus, wenn uns jemand ein Hühnerauge entfernt. Irgendwas dürfte selbst der Natur dabei gefehlt haben. Vielleicht hatte sie auch nur zu viel Energie, möglicherweise sehnte sie sich nach ein bisschen Liebe. Oder ihr war fad, weil alles so gut im Laufen war, und sie wollte einfach nur herumprobieren. Jedenfalls beschloss sie, dass das so nicht weitergehen konnte.

Wenn die Fortpflanzung das zentrale Lebensziel war, könnte sie doch auch mit ein wenig mehr Verve betrieben werden. Sex könnte Spaß machen, das war nicht verwerflich. Im Gegenteil, ein Ansatz von Romantik sollte der Reproduktion dienlich sein. Mutter Natur brütete eine Zeitlang über dieser Idee, und irgendwie könnte genau dieses Brüten sie inspiriert haben. Denn heraus kam: Wir verlegen das Brüten einfach in den Körper.

Ab jetzt, dachte die Natur, wird in einer gemeinsamen, lustbringenden Aktion befruchtet, das nennen wir Koitus, und dann reift der Nachwuchs innen heran, im weiblichen Organismus, den nennen wir Eva.

Der Gedanke war revolutionär. Bisher waren es die Eier, die den Körper eines Lebewesens verließen, um außen ausgebrütet zu werden. Eine Indoor-Variante war reine Science Fiction. Junge, die im Körper der Mutter reiften und erst ans Tageslicht kamen, wenn sie einigermaßen fertig waren, das war genial. Gewagt, keine Frage, aber grandios.

Und es war machbar, da war sich die Natur sicher. Es gab ein paar Probleme zu lösen, das schon. Aber im Problemlösen war die Natur immer ein Ass. Sie setzte sich in die Abenddämmerung, kaute an einem Grashalm herum und dachte die Sache durch.

Genau da passierte etwas, das quasi den Startschuss zur Reproduktion im Inneren gab. Eine Eizelle ging ein Experiment ein.

Es war eine ausgesprochen mutige kleine Eizelle. Ein paar Viren, die damals schon überall vorhanden waren, hatten sie aufs Korn genommen und schlichen sich in sie ein. Normalerweise versucht der Wirt, solche Viren sofort zu deaktivieren. Feind, Gefahr, Zerstörung, das Gesetz des Überlebens.

Aber diese Eizelle tat nichts dergleichen. Sie rührte sich nicht, rief niemanden um Hilfe. Ließ keinen Piep zum Immunsystem vordringen. Sie entschied, die Viren in sich arbeiten zu lassen.

Was immer ihr dabei eingefallen ist, der Effekt war vorerst verheerend. Es entstand eine krebsartige Geschwulst, also von vornherein einmal nichts Gutes. Die Viren hatten freie Hand. Ungehindert bildete sich neues Gewebe, das wuchs und wuchs und war zunächst nicht zu stoppen. Irgendwann hielt es dann inne, und aus dem bösartigen Virusbefall ist der Mutterkuchen geworden.

Die Plazenta war entstanden. Ein Blutschwamm. Nichts Ansehnliches, aber in der Lage, mit sehr vielen Blutgefäßen in das weibliche Individuum hineinzuwachsen. Was sie auch tat.

Mit wenig Sauerstoff auszukommen, sich nicht von Nachbarzellen hemmen zu lassen und den Abwehrkräften des Wirtes zu trotzen, das haben der Mutterkuchen und der Krebs gemeinsam. Deshalb ist die Plazenta etwas wie ein Pseudo-Malignom, sie ist ein Pseudo-Krebs. Erst vor der Geburt stellt er sein Wachstum ein.

Die Viren, die damals am Werk waren, lassen sich nach wie vor identifizieren. Nach 150 Millionen Jahren. Wir können sie heute noch im Labor erkennen. Die Eizelle hat ihr Experiment überlebt und mithilfe der Viren etwas völlig Neues hervorgebracht.

Die Plazenta war der erste bescheidene Begleiter des Kindes, der in der Lage war, einen Kontakt zur Mutter herzustellen. Nicht außerhalb, irgendwo in einem Ei, sondern in einem weiblichen Körper, in Eva. Diese Eva war ein kleines Tierchen, das einer Maus ähnlichsah: die Eomaia scansoria.

Das war der Quantensprung in der Reproduktion. Mit einer fundamentaleren Leistung hat sich die Evolution weder vorher noch nachher in das Gästebuch der Natur eingraviert.

Getan war es damit natürlich noch nicht. Damit die Sache funktionieren konnte, musste einiges umgekrempelt werden. Notwendigerweise vor allem das Immunsystem, das total aus dem Häuschen war nach dieser epochalen Umwälzung. Viren, die nicht bekämpft wurden. So etwas hatte es noch nie gegeben. Eva hat einen Teil eines fremden Organismus in sich aufgenommen, der toleriert und weitergezüchtet werden musste. Das war immunologisch keine Kleinigkeit.

Auch das Herz konnte sich auf weit mehr Arbeit gefasst machen. Die Herzleistung hat sich tatsächlich fundamental geändert. Evas Herz musste auf einmal für zwei schlagen, für sich und das Kind in ihr. Da brauchte es ein komplett neues kardiovaskuläres System. Herz und Gefäßsystem der Frau sind deshalb anders als die des Mannes. Was für sie den Vorteil hat, dass sie in ihrer fruchtbaren Zeit kaum einen Herzinfarkt bekommt.

Ein anderer Vorteil für die Frau ist ein niedriger Cholesterinspiegel. Der entsteht, weil das Kind Cholesterin für die Zellmembran braucht, und Mutter ihm das ihre zur Verfügung stellt. Das hat den feinen Nebeneffekt, dass die Verkalkung im weiblichen Körper nicht so schnell voranschreitet.

Aber für diese Leistung braucht Eva auch zusätzliche Energie. Für neun Monate Schwangerschaft und drei Monate Stillzeit 140.000 Kalorien, um genau zu sein. So hat sich die Natur das ausgerechnet. Diese zusätzliche Reserve muss sie in ihrem Körper irgendwo speichern und deponiert Last vorsorglich in der Regio glutealis und der Regio femoris, wie man das im Medizinjargon nennt. Landläufig sagt man Oberschenkel und Po dazu. Das sind die weiblichen Fettdepots für die Reproduktion.

Interessant dabei ist, dass diese evolutionären Pölsterchen auch ein sichtbares Signal für das andere Geschlecht sind, daran ändert auch die Mode unseres so androgynen Schönheitsideals nichts. Wenn sich die Kurven einer jungen Frau in der Pubertät ausgeformt haben und sie dem Mann damit ihre Geschlechtsreife deutlich macht, ist er instinktiv empfänglich. Es ist eine Art Ich-Tarzan-du-Jane-Code.

Nach und nach wurde Evas Organismus zu dem holistisch perfekten Körper, den es für die Fortpflanzung braucht. Mit einem neu aufgesetzten Stoffwechsel, einem verbesserten Blutgerinnungssystem, einem neu vernetzten Gehirn – wir werden dem noch im Detail begegnen. Natürlich designte die Natur auch den männlichen Körper um, allerdings nicht ganz so bahnbrechend. Immerhin ist die tragende Rolle der Reproduktion die weibliche.

Es war ein großes Experiment, das die Natur da mithilfe der kleinen Eizelle anstellte. Überraschend gelang es. Wer in dieser Geschichte gern unter den Tisch fallen gelassen wird, sind die Viren. Ohne ihren Beitrag in der mutigen Eizelle wäre aus dem ehrgeizigen Plan nie was geworden. Ohne sie wäre die hormonelle Ära der Innenpolitik überhaupt nicht angebrochen. Sie sind nicht nur Handlanger der Evolution, sie sind Mitverschwörer des Holismus.

Ich finde, es ist an der Zeit für eine Ehrenrettung der Viren.

Wer oder was sind diese Partikelchen eigentlich? Unter den Begriff »Lebewesen« lassen sie sich nicht ganz einordnen, weil sie selbständig nicht zur Fortpflanzung fähig sind und auch keinen eigenen Stoffwechsel haben. In beiden Belangen sind sie auf ihre Wirtszellen angewiesen. Sie können sich nur intrazellulär, also bloß innerhalb der Wirtszelle vermehren.

Würde man eine Straßenumfrage starten, würden die meisten Menschen sie als Auslöser von Erkrankungen deklarieren, die sie tatsächlich auch sind. Aber nicht nur.

In Wahrheit sind Viren weder Freund noch Feind. Sie lösen nicht ausschließlich Krankheiten aus, sie sind aber natürlich auch keineswegs harmlos, weil sie für Unmengen von verschiedenen Krankheiten verantwortlich sind.

Bei so einem Ruf geht natürlich leicht unter, was die Viren für die Gesundheit, die Evolution und allerlei biologische Reaktionen tun. Geflissentlich wird dabei vergessen, dass acht Prozent des menschlichen Erbguts viralen Ursprungs sind.

Tatsächlich haben Viren in vieler Hinsicht etwas sehr Nützliches an sich. Grundsätzlich wünscht sich niemand eine chronische Virusinfektion, und doch hat der Körper auch was davon. Sie ist ein hervorragender Drill-Sergeant fürs Immunsystem. Eine Art Bootcamp für dendritische Zellen. Die Wissenschaft vermutet, dass die harmlosen Viren unsere körpereigene Abwehr auf die gravierenderen Infektionen vorbereiten.

In ruhigen Zeiten, wenn sich im Körper einmal keine Katastrophe anbahnt, die das Immunsystem in Alarmbereitschaft versetzt, wird den Abwehrzellen mitunter langweilig. Ohne Herausforderung wächst der Übermut, und die ansonsten so disziplinierte immunologische Security im Organismus glaubt, Feinde zu sehen, wo gar keine sind. Im Überschwang greifen die fadisierten Truppen dann sogar körpereigene Zellen an. Auch vor solchen Autoimmunreaktionen bewahren uns die Viren, indem sie das Immunsystem zur Ordnung rufen.

Ganz klar leisten Viren nützliche Dienste an Neugeborenen. Eingeschleust über die Mutter verabreichen sie dem Säugling eine erste Impfung, die es auf andere Virusinfektionen vorbereitet, auch davon werden wir noch mehr hören. Die bakterienfressenden Viren, die sogenannten Bakteriophagen, kontrollieren dann in weiterer Folge auch die Balance unter den Bakterien.

Einige Viren schützen selbst vor pathogenen Viren. Eines davon ist das Pegivirus C, das offenbar die Konsequenzen einer HIV-Infektion mildert.

Günstig könnte auch die Vorliebe der Viren für Zellen sein, die sich schnell teilen. Damit könnte Großes anzufangen sein. Vielleicht helfen sie dem Immunsystem ja dabei, Krebszellen zu beseitigen. Anzeichen dafür gibt es. Nach Virusinfektionen kommt es immerhin gelegentlich zu Spontanheilungen oder zumindest entscheidenden Verbesserungen bei Krebs.

Viren sind also weit nützlicher, als man ihnen zugesteht.

Bei den großen Sprüngen des höheren Lebens haben sie fraglos eine große Bedeutung. Zwischen Mensch und Virus gibt es demnach so etwas wie eine Ko-Evolution. Ihr Beitrag zur Bildung der Plazenta ist ein Teil davon. In dem Fall waren die Viren eine derartige Bereicherung für ihren Wirt, dass eine ganz neue Art entstanden ist: die Säugetiere und mit ihnen der Mensch.

Dass Viren die Immunsituation des Wirtes verändern und ihn somit in der Evolution derart nach vorne katapultieren können, ist dennoch eine sehr neue holistische Interpretation. Befeuert wird sie durch die Entdeckung der Genscheren.

Es war keine Erkenntnis, die über Nacht in die Welt der Wissenschaft einbrach. Das tun Forschungsergebnisse nie, schon die eigentliche Arbeit in der Abgeschiedenheit eines Labors ist langwierig und aufwendig. Die Wissenschaft ist nicht immer von eiligem Charakter. Auch wenn sie im generellen Fortschritt in gewaltigen Stiefeln und mit Riesenschritten unterwegs ist, lässt sich die Natur ihre Geheimnisse im Einzelnen nur unter Ächzen abringen. Sind alle Studien fertig, die Statistiken ausgewertet, der Artikel geschrieben, geht noch etliche Zeit drauf, bis die Welt die Neuigkeiten erfährt. Die großen Wissenschaftsmagazine wie Science oder Nature, in denen nur Themen veröffentlicht werden, die durchbruchverdächtig sind, haben lange Begutachtungszeiten. Allein bis einmal feststeht, ob es sich um einen solchen Durchbruch handeln könnte, dauert es mindestens ein Jahr. Ich walze das deshalb ein bisschen aus, weil es im Falle der Genscheren eine Rolle spielt.

Die Vorgeschichte beginnt vor zwanzig Jahren. Um die nicht ganz unkomplizierte Materie zu verstehen, unternehmen wir einer Art Science-Hopping durch die Forschungsgeschichte.

Erste Station: die Universität Alicante. Als ein gewisser Francisco Mojica dort seine Doktorarbeit schrieb, beschäftigte er sich mit einem Archaebakterium aus den Salzmarschen der spanischen Costa Blanca. Beim Untersuchen des Erbguts der Mikrobe fiel ihm etwas Seltsames auf. Mehrere Sequenzen in der Länge von 30 sogenannten Buchstaben wiederholten sich immer wieder in Abständen von jeweils etwa 36 Buchstaben.

Langmütig, wie die Wissenschaft eben ist, ließ sie erst Jahre später erkennen, was das zu bedeuten hatte. In DNA-Banken fand Mojica, dass diese Wiederholungen etwas mit der Erbgut-Sequenz eines Virus zu tun haben, das Bakterien befällt. Wenn das Bakterium die Virus-DNA speichert, wird es gegen das Virus immun.

Machen wir es kurz: Mojica war auf eine Art Immunsystem der Bakterien gestoßen.

Vor zehn Jahren kämpften dann die Franzosen Philippe Horvath und Rodolphe Barrangou für ein Unternehmen, das Milchprodukte erzeugte, mit dem Problem häufiger Virusinfektionen in den Milchsäurebakterien. Dabei stießen die Biowissenschaftler auf ähnliche Buchstabenwiederholungen wie Mojica.

Der Stand der Dinge damals war: Wenn das im Wirtsgenom gespeicherte Virus abgelesen wird, löst das einen Selbstschutzmechanismus aus. Das Viruspartikel wird zerstört, wenn es wiederkommt. Und zwar mit einer Schere.

Wie das geht, konnten dann Luciano Marraffini und Erik Sontheimer erklären. Das Ganze ähnelt den Ermittlungen in einem Kriminalfall.

Ein Bakterium wird von einem Virus angegriffen. Wenn es den überlebt, baut es ein Stück vom Erbgut des Virus zwischen zwei Wiederholungen ein. Quasi als Fahndungsfoto. Taucht das gleiche Virus wieder auf, lenkt die Sequenz, die das Fahndungsfoto enthält, die Schere zu seiner Erbinformation. Die Schere schnappt zu, und um das Virus ist es geschehen.

Diese Schere bezeichnet man als CRISPR/Cas. Die Abkürzung CRISPR steht für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats, was so viel wie »regelmäßige Wiederholungen« bedeutet. Und die Abkürzung Cas wenig fantasievoll für CRISPR-associated.

Von hier führt uns unser Wissenschafts-Hopping nun annähernd gleichzeitig nach Wien, nach Berkeley, nach Litauen und nach Massachusetts. Überall dort fanden Forscherinnen und Forscher heraus, wie dieser Mechanismus gezielt angewendet werden kann, um Erbgut zu verändern.

Emmanuelle Charpentier von der Wiener Uni und Jennifer Doudna von der University of California in Berkeley haben gezeigt, wie mit den CRISPR/Cas-Scheren auch Bakterien-DNA zerschnitten werden kann. Die beiden hatten ihre Kräfte vereint und beeindruckten die Redaktion des Magazins Science. Die Begutachtung, ob der Artikel für eine Veröffentlichung infrage käme, wurde beschleunigt. Die Antwort war ein Ja. Damit konnten sich die Verfasserinnen schon einmal auf weltweiten Ruhm einstellen. Charpentier und Doudna werden am 17. August 2012 vermutlich einen sauteuren Champagner entkorkt haben. An dem Tag publizierte Science ihren Artikel.

Ich gebe das auch deshalb so genau wieder, weil der Erfolg immer viele Eltern hat, aber nicht alle zu denselben Ehren kommen. Im Falle der Genscheren blieb der Biochemiker Virginijus Šikšnys über, obwohl er an der Universität in Vilnius mit einem internationalen Team zu denselben Schlüssen gekommen war. Allerdings war über seine Leistung erst einige Tage später zu lesen. Zu dem Zeitpunkt wurden Charpentier und Doudna bereits als die neuen Stars am Himmel der Wissenschaft gefeiert. Aber ganz leer ausgegangen ist Virginijus Šikšnys auch nicht. Fünf Patentanmeldungen gehen auf sein Konto.

Über das wichtige Patent zur Anwendung der CRISPR/Cas-Scheren tobt zurzeit ein ziemlicher Streit. Feng Zhang vom Massachusetts Institute of Technology hat die Methode nämlich verfeinert und auch für menschliches Erbgut anwendbar gemacht. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna konnten nur an Bakterien herumschneiden. So hat Feng Zhang das Patent für die Anwendung von CRISPR/Cas am Menschen, während Charpentier und Doudna nur das weniger lukrative Patent für die Anwendung an Bakterien besitzen.

Und woher kommt diese Schere ursprünglich? Vom Virus.

Alle diese Forschungsergebnisse zeigen also, dass die Viren in der ganzheitlichen Betrachtung der Dinge ihren Platz erobert haben, und zwar nicht in ihrer Funktion als ewige Krankheitserreger. Sie können mehr und stehen mit Bakterien und Säugetierzellen in einer noch nicht ganz klaren Kooperation.

Stellt sich die Frage, ob nicht auch in den biologischen Systemen, ähnlich wie Anton Zeilinger es für die physikalischen vermutet, eine Information über eine Balance des Lebendigen steckt. Die Überlegung liegt nahe. Denn auch die Viren haben seither nicht untätig zugesehen, wie sie von Bakterien zerschnitten werden. Sie konnten in der Zwischenzeit eine Überlebensstrategie entwickeln, die sie vor der Zerstückelung schützt.

Es ist ein riesengroßes Puzzle, und die einzelnen Steinchen werden am ganzen Erdball darauf abgeklopft, ob sie ins Große und Ganze passen. Mit jedem Steinchen werden die Verbindungen, die die Natur hergestellt hat, immer logischer. Die Evolution bekommt zusehends etwas Nachvollziehbares. Dabei an ein beliebiges Roulette zu glauben, geht fast nicht mehr.

Kann wirklich alles einem Zufallsgenerator überlassen gewesen sein? Oder steht ein wunderbares holistisches Prinzip dahinter, dem wir in der Forschung nachjagen?

Der holistische Mensch

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