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Zwei Tote

Ein betäubender Trestergeruch hängt in den Gassen, als Edelbert Schicke mit dem Weinbergstraktor durch das Kraichgau-Dorf Großvillars rumpelt. Schicke schnuppert zufrieden – es ist sein Lieblingsduft. Mehr noch als am zarten Aroma junger Nüsse, an Flieder und Maiglöckchen, selbstgekochter Tomatensuppe, Rührei mit Schnittlauch und frisch gebackenem Brot erfreut er sich an diesem tausend Erinnerungen in ihren Verstecken aufstöbernden Herbstgeruch, wenn in jedem Hof die Moste gären und an den Hügeln ringsum die Trauben in der Oktobersonne dünsten. Für Edelbert wie für alle Weinbauern, ihre Angestellen und Helfer sind dies die höchsten Feiertage im Jahreslauf. Erntedankstimmung? Ja, auch, durchaus. Aber nur in den Pausen, wenn Ute Schäufele die heißen Würste in den Weinberg zur Lesemannschaft bringt und das eine oder andere Glas vom kellerkühlen Vorjährigen den Durst aus den Hälsen scheucht. Oder aber am frühen Morgen, vor dem Lesetag, wenn noch nicht alle Sinne auf die anstrengende, diffizile Arbeit konzentriert sind: Dann teilt sich unwillkürlich etwas mit von der weihevollen Atmosphäre der Reife, die frühere Generationen ohne Schwierigkeiten mit Gottes Segen in Zusammenhang zu bringen wussten.

In der Nähe des wunderhübsch renovierten Weinberghäuschens der Familie Schäufele stellt Schicke den schmalen Trecker ab. Vom Herbstfest gestern Abend sind keine Spuren mehr zu finden. Alle haben mitangepackt, Tische, Bänke, Flaschen hin- und wieder weggeschleppt; nicht ein Papierchen liegt mehr auf dem kleinen Festplatz. – Noch einmal will er den Spätburgunder in Augenschein nehmen. Jeden Tag, bisweilen mehrmals, ist er zuletzt gemeinsam mit Armin, dem Hausherrn des Kelterhofs, in den Weinberg hinaufgestiegen. Das Gespräch hatte stets einen ähnlichen Wortlaut.

„Sollen wir mal langsam?“

„Hm. Vielleicht noch ein, zwei Tage?“

„Hm. Vielleicht noch mal den Wetterbericht konsultieren?“

Der Wetterbericht! Vergleichbar allenfalls den Hochseefischern im Atlantik oder den Tabakbauern Mittelamerikas, versteht sich die Gilde der Winzer auf Wetterprognosen; es ist diese Abhängigkeit von oftmals minimalen Veränderungen der Witterung, zumal in der Zeit vor der Ernte, die ein Höchstmaß an Kenntnis, Weitsicht und Gespür erfordert. Alle haben sie das schon erlebt: Plötzliche Kälteeinbrüche, Hagel, Nässe, aber auch Trockenheit, zu viel Wind, zu wenig Wind ... all diese Faktoren entscheiden über die Qualität ganzer Jahrgänge oder gar über die Existenz von Betrieben.

Nein, heute ist es so weit: Jetzt ist er dran. Genug in der Sonne gelümmelt, ab damit und in die Presse! Edelbert Schicke zückt unwillkürlich das Refraktometer, nähert sich einem dieser makellos dunkelroten Henkel, pickt ein Träubchen heraus und zerquetscht es. Tatsächlich: Noch ein Grad Oechsle mehr als gestern. Vollreif sind diese Trauben ja seit Wochen; doch Armin Schäufele hat etwas Außergewöhnliches mit diesem Spätburgunder vor: Er soll Kraft haben, soll zum Erstwein, zum Flaggschiff des Gutes aufsteigen – ein muskulöser, ein männlicher Pinot Noir wird daraus werden, eine trockene Auslese, reifend in Barriques aus heimischer Eiche, zu Teilen eigens gefertigt von den kundigen Händen französischer Küfer. Während Schicke das Refraktometer trockenwischt, fällt ihm etwas auf: In der Reihe der schimmernden Burgundertrauben ist etwas in Unordnung geraten. Was soll nun das? Da hegt und pflegt man die Lage mit aufwändiger Laubarbeit und auf einmal kommt so ein Strolch daher und reißt die Drähte runter! Erbost geht Edelbert Schicke auf die lädierte Stelle zu – und taumelt im gleichen Augenblick zurück. Zwischen den herrlichen Früchten, leuchtend im Frühlicht, hängt ein blutiger Menschenkopf. Der Arbeiter im Weinberg hat nur kurz hingesehen; unwillkürlich schlägt er die Hand vor Mund und Augen. Doch die Zehntelsekunde hat genügt um zu erkennen, dass da ein lebloser Mensch im Weinberg kauert, halb über die Drähte gebeugt, mit einer gewaltigen Wunde im Kopf. In der Rückwärtsbewegung drängt es Edelbert, doch noch einmal hinzusehen. Kein Zweifel, ein Toter. Oder eine Tote? Das ist aus der Entfernung nicht zu erkennen; entstellt sieht die Leiche aus, umgeben von farbigem Weinlaub und den schönsten Trauben. Um alles in der Welt: Was hat dergleichen in Großvillars zu suchen, einem der friedlichsten Örtchen im Rund, wo seit Jahrhunderten keine Gewalttat mehr vorgekommen ist?

Geschüttelt von Ekel und Entsetzen, wendet sich Edelbert Schicke ab, läuft auf den Trecker zu ... und stolpert. Hart schlägt er hin, rappelt sich sofort wieder hoch. Dabei stellt er fest, dass sich sein Fuß in einem anderen Fuß verfangen hat: Kaum zwei Meter von ihm entfernt liegt eine weitere Leiche: Der Mund ist aufgerissen, die Beine sind verkrümmt, und der Rumpf sieht aus wie mitten entzweigeschnitten. Neuer Schrecken durchfährt den Ahnungslosen. Mit einem Aufschrei schnellt er empor, von einem einzigen Gedanken beflügelt: Weg hier, rasch ins Dorf, die Leute verständigen, die Polizei! Zittrig tastet Edelbert nach seinem Handy. Es fällt ihm aus der Tasche. Er will Armins Nummer wählen, aber die Finger gehorchen nicht.

„Ruhig, ganz ruhig weiteratmen“, zwingt er sich zum Innehalten. Tastend schiebt er sich voran, gegen den Brechreiz ankämpfend. Endlich am Traktor angekommen, zieht Schicke den Schlüssel aus der Hosentasche. Doch kaum, dass er aufsteigen will, hört er etwas, das ihm zum dritten Mal die Nackenhaare sträubt.

Von drüben, offenbar aus dem Wengerthäusle, dringt eine Stimme, erst leise, dann immer deutlicher vernehmlich: „Hallo? Hallo?“

Es folgt ein Pochen. Von da drinnen. Im Wengerthäusle befindet sich also noch jemand. Wer wird das wohl sein, wenn hier draußen zwei Tote liegen? Edelbert lässt den Schlüssel stecken, wendet sich ab. Hilfesuchend blickt er sich um. Nichts, niemand. Nur die beiden entsetzlich zugerichteten Körper.

Da hört er es wieder: „Hallo? Hallo?“

Jetzt hält ihn gar nichts mehr. In großen Sätzen hastet der Geplagte zu Tale, mitten durch die Reben hindurch, weg von dieser greulichen Stelle, die noch vor kurzem sein Lieblingsaufenthalt, sein Inbegriff von Idylle und Glück gewesen ist.

Kaum hat er eine kleine Strecke im Galopp zurückgelegt, hört er es noch einmal aus dem Häuschen schreien: „Hilfe! Bleiben Sie doch stehen! Hallo!“

Ha, so weit kommt’s noch ... Nein, nicht mit ihm! Darauf fällt er gewiss nicht rein. Wer weiß, was zu dieser Menschenansammlung von Lebenden und Toten im besten Weinberg des Kelterhofs geführt hat, das mögen andere aufklären – und zwar von der Polizei. Einstweilen gilt nur: Rette sich, wer kann!

Als er die Landstraße erreicht, sieht er von ferne einen Kleintransporter auf sich zukommen. Edelbert winkt, ruft verzweifelt: „Anhalten! Halt!“ Aber der Mistkerl im gelben Lieferwagen fährt einfach weiter, Richtung Bretten, beschleunigt sogar noch. Schicke flucht.

Schwitzend, völlig außer Atem, trifft er endlich im Ort ein. Als er schon überlegt, ob er beim erstbesten Haus an die Tür pochen soll, biegt eines der Erntefahrzeuge vom Kelterhof an der Kirche ums Eck. Mit beiden Armen winkend wie ein Verhungernder mitten in der Tundra, wenn nach Wochen der Hubschrauber auftaucht, eilt Edelbert Schicke auf die Leute zu. Im Anhänger sitzen lauter Bekannte aus dem Ort, einige kommen sogar von weiter her, bis aus Karlsruhe, um an den Erntefreuden teilzuhaben. Edelberts Kumpel Heiner sitzt am Steuer des leistungsstarken Traktors.

„Nicht weiterfahren! Nicht!“

Verwirrt hält der Fahrer neben dem Aufgeregten an, ohne den Motor auszuschalten. „Was hast denn?“

„Da obe, da obe ... im Wengertshäusle: Da ... da liege zwei Dote! Un einer isch noch im Hüttle un klopft!“

Frühlingsfahrt

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