Читать книгу Frühlingsfahrt - Johannes Hucke - Страница 8
ОглавлениеEin Halbtoter
Beginnen wir noch einmal ganz woanders, sozusagen von vorn: im Frühling, wo alles beginnt, was Anspruch auf Vorhandensein erhebt. Wo alles Leben sich erneuen soll, um mit frischem Mut seinen Weg anzutreten – es sei denn, es ist bereits am Ende angekommen. Die Dichter aller Zeiten haben behauptet, es sei besonders grausam, im Frühling zu sterben. Es sei nämlich unzumutbar, teilnahmslos beiseite zu treten, wenn alle sich freuen und ihre Verjüngung bejubeln. Trauernd durch erblühende Alleen zu ziehen, unbeteiligt, doppelt ausgegrenzt, doppelt allein – solch ein Schicksal wäre doch wirklich keinem zu wünschen!
Diese traurigen Helden auf der Schattenseite des Frühlings, ja, die gibt es freilich auch; von einem solchen müssen wir erzählen, wenn wir die Geschichte erzählen wollen, die am Wengertshäusle zu Großvillars so brutal zu Ende ging. Doch geschieht ja auf Erden nicht alles nach bewährtem Muster, wie dies unsere stets nach Sinn und Verstehen trachtende Einbildungskraft uns vorgaukeln mag; bisweilen treffen Dinge aufeinander, die voneinander nichts ahnen konnten, und vermengen sich im Kontrast, so dass am Ende kein Freund der Wahrheit mehr zu behaupten wagt, man habe kommen sehen, was geschah ...
Beginnen wir in einem Vorort von Heidelberg, einem jener Stadtteile, die ihre Existenz allein dem Nimbus und der Attraktivität der sandsteinroten Universitätsstadt zu verdanken haben. Hier wohnen Leute, die wohl die Nähe zum Traditionellen suchten, die nimmermehr sagen würden, sie lebten im Emmertsgrund oder auf dem Boxberg oder in irgendeiner namenlosen Neubausiedlung Richtung Wieblingen; nein, es steht ja „Heidelberg“ in ihrer Adresse – und dieser Name glänzt wie ein Ehrenzeichen hinter der nur Eingeweihten auf Anhieb entschlüsselbaren Postleitzahl. – Warum die besagten Rand-Heidelberger kein Domizil in der Mitte bezogen haben oder doch in besser beleumundeten Wohngebieten wie Neuenheim oder Handschuhsheim, ist leicht erklärt: Es fehlte an Kontakten, an Ersparnissen, vielleicht auch an Geschicklichkeit. Freilich, kaum dass man Quartier in der Banlieu bezogen hat, redet man sich aufs Praktische hinaus: die besseren Parkmöglichkeiten, die hervorragende Infrastruktur, die Familienfreundlichkeit.
Von einer solchen Familie wollen wir berichten, genauer: von ihrem Oberhaupt ... wobei in unserem Falle durchaus keine Bezeichnung weniger zuträfe. Nikolaus Henn (er hieß einmal Grashof mit Nachnamen, bevor er sich verehelichte), langjähriger Mitarbeiter einer Dachziegelfirma im Innenbetrieb, braver Familienvati, Mitglied im ökumenischen Kirchenchor, Besitzer mehrerer goldener Kundenkarten, lebte seit vierzehn Jahren in einer dieser ästhetisch wenig mitreißenden, gleichwohl mit Privatparkplatz und Mini-Gärtchen ausgestatteten Behausungen im Weichbild Heidelbergs. Kaum hatte Annedore – seine Annedore – in den Heiratsantrag eingewilligt, waren die Planungen für einen Umzug aus der Altstadt hinaus in eine „familiengeeignete“ Wohngegend begonnen worden. Für Nikolaus’ Geschmack war das sehr schnell vor sich gegangen; er hätte sich gerne noch Zeit gelassen – mit der Hochzeit, mit dem Umzug, mit dem Kind. Viel lieber hätte er noch ein paar Jährchen damit verbracht, Annedores im Übermaß vorhandene Lieblichkeit ungestört zu genießen.
Doch Annedore hatte bereits genossen – und zwar ausgiebig, was sich zu Nikolaus’ Erschrecken in unaufhörlichen Konfrontationen mit ehemaligen Liebhabern niederschlug. Wo auch immer sie miteinander unterwegs waren, in Bahnhöfen, Eisdielen, Supermärkten, unablässig trafen sie auf sonderbar schluffige Gestalten, die allesamt ausnehmend vertraut mit ihr taten. Nikolaus wagte Anzeichen von Eifersucht zu zeigen, doch seine Auserwählte lachte ihn aus, was für ein Spießer er doch sei. – Nun, die begehrte Frau, inzwischen deutlich über dreißig, war eindeutig in die Familiengründungsphase eingetreten. Zu diesem Behufe mochte ihr Nikolaus als formbarer Kindsvater, geduldiger Ernährer und fügsamer Hanswurst erscheinen. Auf einmal bekamen die Dinge ihr eigenes Tempo, und er konnte sich mitunter nur noch bestürzt umsehen, bevor er verwirrt hinterdrein hastete. Was ihm dabei in keiner Weise bewusst war: In der Sekunde der Eheschließung im Rathaus am Heidelberger Marktplatz begann die Geschichte seiner Verstoßung.
Wir treffen auf Nikolaus Henn an jenem Abend Ende März, welcher für ihn mit einem unerwarteten, dabei außerordentlich folgenreichen Einschnitt beginnen sollte. Annedore hatte Kerzen angezündet, zwei Stück, die sie zu beiden Seiten des Küchentischs aufstellte. Sie tat das manchmal: die Wohnung schmücken, das Alltägliche mit einer Idee von Festlichkeit impfen – doch gewöhnlich nur dann, wenn sie Besuch empfing und niemals, wenn nur Nikolaus zugegen war. Annedore nötigte Nikolaus, Platz zu nehmen. Erwartungsvoll kam er der Aufforderung nach. Erwartungsvoll? Wahrhaftig! Nikolaus wartete immer noch. Seit vierzehn Jahren war er der Auffassung, Annedore würde doch einmal erkennen, dass er der Richtige für sie sei – auch wenn während dieser knapp anderthalb Jahrzehnte wenig, nein, so gut wie nichts davon zu spüren gewesen war. Sie setzte sich ihm gegenüber und begann zu sprechen. Auch das war selten: Annedore begann selten Gespräche. Wenigstens nicht mit Nikolaus – es sei denn, es handelte sich um Dienstleistungen wie Renovierungsaufträge, Fahrten zum Baumarkt oder den täglichen Transportservice für Valentin, den dreizehnjährigen Sohn.
„Du hast’s uns aber hübsch gemacht“, begann Nikolaus in seiner schüchternen Weise; aufgrund verschiedentlicher herber Erfahrungen traute er sich nicht einmal mehr, Komplimente auszusprechen.
„Hör mal zu“, schnitt ihm Annedore das Wort ab und goss sich einen Schafgarbentee ein. „Ich wollt dir was sagen.“
„Da bin ich aber gespannt.“
Ein knapper, gewohnt sauertöpfischer Blick traf ihn. Dennoch, wie gesagt, er hoffte noch. Wie ungeschickt von ihm ...
„Ich hab heut auf dem Markt mein’ schpirituelle Lebenspartner kenneg’lernt.“
Eigentlich sagte sie „Lääbnspattna“, denn kaum dass die Ehe seinerzeit geschlossen worden war, verfiel sie dauerhaft in das Idiom der Gegend, wo sie aufgewachsen war: Oberschwaben. Vorher, in der Zeit des Kennenlernens, hatte Annedore nur hochdeutsch gesprochen; zumindest vermeinte sich Nikolaus daran erinnern zu können, wie fein und bedacht diese Stimme geklungen hatte, niemals plump oder motzig oder gar aggressiv. Das hatte sich dann rasch geändert. Nun aber saß er ihr gegenüber und lächelte. Hatte er nicht richtig zugehört? Beinahe. Nach wie vor in der trügerischen Überzeugung befangen, nur ihm allein stehe die Etikettierung „Lebenspartner“ zu, hatte er das hingeschnodderte „auf dem Markt“ („auf’m Maekt“) schlicht überhört. Erst als Annedore präzisierte „Er heißt Ramon“, begann Nikolaus zu begreifen.
Nun verhielt es sich ja so, dass Nikolaus’ Gattin seit langem gewissen mysteriösen Tätigkeiten oblag, die man gemeinhin der Sphäre der Esoterik zurechnet. Nikolaus konnte mit solchen Dingen nichts anfangen, sah jedoch keinerlei Gefahr darin. In seiner Betrachtungsweise war Annedores Schwärmerei für alles Indische, aber auch Indianische, bald Ostasiatische, bald Zentralafrikanische ein Hobby wie Turmspringen oder Rollhockey. Sicher, es füllte sich das gemeinsame Häuschen nach und nach mit allerlei Zierrat, dem er selbst wenig abgewinnen mochte – überall schummerten Salzlampen, blinkten Energiesteine, baumelten Traumfänger, worin er sich meistens verfing, von der Decke herab – , doch hatte er ohnehin nach wenigen Wochen des Zusammenlebens registriert, dass er sich auf dem Gebiete der Inneneinrichtung wohl komplett werde anpassen müssen.
Hatte Annedore (zu Nikolaus’ Befremden) schon kurz nach der Hochzeit ihr soziales Leben weitgehend eingestellt, den Kontakt zu all den Freundinnen und vor allem Freunden, die sie noch zu WG-Zeiten in großer Zahl besucht hatten, abgebrochen, so begann sie nach und nach, immer mehr „Seminare“ mit schwer ergründlicher Thematik zu besuchen. „Sei dir selbst eine Insel“, so lautete der Titel jener ersten Wochenendveranstaltung, von der Annedore sogar ein wenig erzählte. Danach erzählte sie nichts mehr.
„Was meinst du denn?“, fragte Nikolaus leise. Und Annedore rollte die Augen. Seine Begriffsstutzigkeit war für sie schon immer Anlass für Spott und Zurückweisungen gewesen. Gemäß einer verachtungsvollen Gewohnheit rollte sie also ihre Augen, zog die Stirne kraus und erläuterte unmissverständlich, dass sie sich scheiden lassen wolle, übrigens so schnell als möglich. Ein gemeinsames Leben, es sei ja ohnehin recht fade gewesen, komme für sie nicht länger in Frage. Sohn Valentin bleibe selbstverständlich bei ihr. Der Kontakt zum Erzeuger (damit meinte sie Nikolaus) werde selbstredend fair geregelt, sie denke an eine Zweidrittel-Eindrittel-Aufteilung. Schon morgen solle sich Nikolaus auf Suche nach einer geeigneten Wohnung für ihn selbst begeben, bitteschön weit genug entfernt, aber nicht zu weit, der Kindsbetreuung wegen, die gerade auch nachts zu erfolgen habe. Die monatlich zu entrichtende Unterstützungssumme belaufe sich auf 664,42 Euro; sie habe sich erlaubt, den Betrag schon einmal zu berechnen.
Nikolaus glotzte von einer Kerzenflamme zur anderen, räusperte sich mehrmals und brachte nur ein piepsendes „Aber warum denn?“ heraus.
Annedore war sein Schicksal ... wenngleich in ganz anderer Hinsicht als er sich dies einst ausgemalt hatte. Durch eine Kommilitonin hatte er sie kennengelernt. Annedore machte damals in zweiter Ausbildung eine Lehre als medizinisch-technische Assistentin. Schon ihr Äußeres erschien ihm über alle Maßen auffällig und liebenswert: ihre langen, hellbraunen Haare, die grazile Gestalt, das feingeschnittene Gesicht – und dann dieses Lächeln! Jenes allen irdischen Gram vergessen machende Lächeln ... Was Nikolaus aber am meisten wunderte, war Annedores Freundlichkeit. Wie konnte das zusammengehen: Solche Schönheit und solch bescheidenes, empfindsames, teilnahmsvolles Benehmen? Nikolaus war ganz verstört, als er sie zum ersten Mal persönlich sprach; eine derartige Sanftheit und Würde und Gewandtheit war ihm nie zuvor untergekommen – mehr noch, er hätte glatt geleugnet, dass dergleichen überhaupt irgendwo existieren könne! Ausgestattet mit eher wenig Selbstbewusstsein, erlebte er Annedores Aufgeschlossenheit, ihr Interesse an seinen Gedanken und Hoffnungen, als beständige Ermunterung. Jana gegenüber, der Vertrauten seines Herzens, einer Kameradin aus frühesten Kindertagen, eröffnete er alsbald seine Absicht, Annedore für sich zu gewinnen. Gelegentlich einer Geburtstagsfeier stellte er die beiden einander vor – und Jana riet dem Seelenfreund zu. Ja, diese zarte Annedore, die musste die Richtige für ihn sein, eigens geschaffen, um Nikolaus glücklich zu machen!
Zu seiner größten Überraschung schien Annedore einer Verbindung nicht abgeneigt. Es keimte zunächst wohl nicht die allergrößte Leidenschaft in ihr, doch bezeigte sie stete Zuneigung, ging bereitwillig auf allerlei Vorschläge ein, verabredete sich gern mit ihm. Man schlenderte durch Heidelbergs Wälder, es war ein beständiges Lächeln und Erzählen und Herumschäkern.
Mit dem ersten Kuss freilich begann eine Verfinsterung, die kein Außenstehender hätte erwarten können, Nikolaus am allerwenigsten. Es stellte sich heraus, dass Annedores sprichwörtliche Sanftheit immer nur für diejenigen reserviert blieb, die sie flüchtig kannte, die Nachbarn, die Bekannten, die Geschäftskollegen, die Liebhaber, aber auch für Passanten, die nach dem Weg fragten, für Kinder oder auch für Kunden des Ausbildungslabors, wo sie bald eine Festanstellung fand. Nie aber, unter keinen Umständen schenkte Annedore ein wenig von ihrer Huld denjenigen, die sie als zu ihr gehörig empfand, als Familie. „Hausteufel und Straßenengel“, dieser alte Spruch von tiefer systemischer Weisheit, traf derart vollständig auf Nikolaus’ Erwählte zu, dass man hätte meinen können, es handle sich um eine private Parodie.
Zunächst reagierte Nikolaus mit Bitten und Flehen, sodann mit Tränen und Zornesausbrüchen. Annedore blickte vorwurfsvoll, denn sie war schwanger und schalt Nikolaus ob seiner Selbstverliebtheit. Das war natürlich etwas ganz anderes! Der junge Mann entschuldigte sich tagelang, so etwas habe er ja nicht ahnen können, was da vorging ... und versprach, Annedore fürderhin in allem beizustehen, was sie von ihm verlangte. – Je mehr die beiden eine Hausgemeinschaft bildeten, in Erwartung eines dritten Mitbewohners, desto klarer trat ein weiterer Wesenszug Annedores hervor, welcher für den werdenden Vater eine Serie zusätzlicher Zurücksetzungen bedeutete. In keinem einzigen Fall zeigte sich Annedore kompromissbereit: Das Häuschen wurde nach ihren Vorstellungen eingerichtet, der Tageslauf hatte ihren Vorlieben zu entsprechen. Dabei bewies sie einen Nikolaus fremden Sinn für Reinlichkeit, besser: für Sterilität, der Nikolaus so seltsam vorkam, dass er all das Gewische und Gesauge für eine vorübergehende Manie hielt. Er selbst durfte weder saugen noch wischen; er machte es nicht gut genug. Als einmal beim Duschen zwei Wassertropfen auf die Waschmaschine hinübergespritzt waren, kam Annedore herbeigestürzt, rollte die Augen und wischte die Tröpfchen seufzend weg. Nikolaus wollte lachen – Wassertropfen im Bad, das musste doch erlaubt sein! Wie sehr er sich täuschen sollte.
Man hätte nun erwarten können, dass sich eine gewisse Zufriedenheit bei Annedore einstellte, da doch alles, was geschah, vollständig nach ihrem Willen verlief. Weit gefehlt: Kaum waren sie eingezogen in das antiseptisch funkelnde Vororthäuschen, wurde sie von einer zähen Depression befallen, die nicht mehr wich – bis zu dem Tage, da sie auf dem „Maekt“ ihren „schpirituelle Lääbnspattna“ kennenlernte.
Sämtliche Stufen, im gesamten Treppenhaus, hatte Nikolaus mit Rosen belegt, als Annedore mit dem kleinen Valentin aus der Geburtsklinik zurückkam. Sie latschte drüberweg und schimpfte: „Un wär soll des nachher alles wegbutze, hä?“
Geschäftskollegen, Verwandte, einige Vertraute, die es damals immerhin noch gab, glaubten ihm nicht, wenn er von solch absurden Qualen berichtete.
„Du musst sie erst einmal für dich gewinnen“, schlug Jana vor. Nikolaus nahm das ernst; in der Folge fügte er sich Annedores Befehlen restlos, wodurch er nach und nach all seine anderweitigen Kontakte einbüßte, zuerst zu seinen Kumpels, dann zur eigenen Familie, ohnedies nur noch lückenhaft vorhanden, schließlich zu Jana selbst.
Kurzum, Nikolaus führte ein Elendsleben in Abhängigkeit und Überanpassung. Der einzige soziale Raum, der ihm zum Austausch noch verblieb, war seine Arbeitsstelle. Die Schreibtischtätigkeit empfand er zwar als bedrückend langweilig, auf Dauer gar unerträglich für den kreativen Geist, der er einmal gewesen war; doch Annedore hielt erwartungsgemäß nichts von einem Stellenwechsel, der das geregelte Einkommen gefährden könnte. Sie selbst war nur noch stundenweise werktätig, widmete sich andererseits mit Akribie der Erziehung Valentins, vor allem freilich der Säuberung seiner Kleidung.
Nun, zweifellos, nach Ablauf einiger harter Monate, während derer Nikolaus so gut wie gar nicht geschlafen hatte, entwickelte der Vater starke Gefühle für den Sohn und verbrachte seine gesamte Freizeit damit, den Kleinen im Wägelchen durch die Gegend zu schieben, denn die Mutter lag zu Hause und brauchte ihre Ruhe, denn sie war ja depressiv, leicht reizbar und – wer weiß! – am Ende brachte sie sich noch um.
Aus dieser Hölle aus Ängsten und Isolation fand Nikolaus nicht mehr heraus. Seine einzige Hoffnung galt tatsächlich dem Tage, da Annedore endlich wieder so werden würde, wie er sie kennengelernt hatte. Und wahrhaftig, da gab es Stunden, in denen schien es möglich, da entschuldigte sie sich gar für ihr grobes Benehmen, zieh sich selber der Lebensfeindlichkeit, gar der Grausamkeit, äußerte, sie wisse überhaupt nicht, weshalb sie so hexenhaft handle, brach in Tränen aus und ließ sich trösten. Dies freilich stärkte Nikolaus darin, die kurz darauf folgenden Anschuldigungen, alles Leid, das Annedore zu tragen habe, sei nur durch ihn auf sie gekommen, umso williger zu ertragen.
„Du bist en Hannebambel!“, hatte Oschi, ein Kumpel aus Darmstädter Studientagen, die Freundschaft zu Nikolaus beendet.
„Wie kann man sich nur so wegschmeißen?“, hatte ihn Jana gescholten, bevor sie sich für immer von ihm zurückzog.
„So einen Jammerlappen wie Sie hat es bei uns in der Firma noch nicht gegeben“, hatte ihn sein Chef abgefertigt, als Nikolaus, nach einem von Annedores Wutausbrüchen dominierten Wochenende, gewagt hatte, dem Vorgesetzten sein Leid zu klagen. „Sie müssen sich neu positionieren, mein Guter! Nur ein ebenbürtiger Partner hat eine Chance auf Achtung. Merken Sie sich das.“
Nikolaus wusste das ja. Immer wieder hatte er den Versuch unternommen Annedore selbstbewusster gegenüberzutreten, ihr ein für alle Mal zu verdeutlichen, dass er kein Sklave sei. Sie wusste es besser. Sie heulte und tobte, bis der kleine Valentin verängstigt und tränenüberströmt aus dem Kinderzimmer getappst kam, die Kuscheldecke an sich gepresst. Nein, das war das Allerschlimmste, Unerträglichste: dass nun auch noch der Kleine unglücklich wurde! Und mit neuer Hingabe widmete sich Nikolaus den Wünschen seiner kühlen Gemahlin. Bald leistete er gar keinen Widerspruch mehr, einzig darum bemüht, dem geliebten Kind eine glückliche Zeit vorzuheucheln. – Aber war das denn geheuchelt? Lachte der Winzling nicht auffallend viel? Entwickelte er sich nicht prächtig? In der Tat, daran konnte kein Zweifel sein. Valentin gedieh! Er wurde ein empfindsamer, dabei durchsetzungsfähiger, liebevoller, dabei energischer, intelligenter, dabei uneitler Prachtkerl. Dafür hatte sich alles gelohnt: Nikolaus’ Opfer hatte einen Sinn gehabt. Bis zu dem Abend mit den beiden Kerzen.
„Du ... du meinst also, der, wie du sagst, spirituelle Lebenspartner, der wär nicht ich?“
Annedore prustete los: „Hä?“ Sie hatte sich angewöhnt, bei Tisch grundsätzlich nur noch mit vollem Mund zu sprechen; deswegen stopfte sie sich einen dicken Energiekeks zwischen die Zähne und begann zu lästern: „Wie kommscht denn auf so was? Ha du spinnscht ja! Heidernei, guck di doch emol oo! Du – un schpirituell! Des isch jo en Witz ...“
Das war nun allerdings richtig: Besonders vergeistigt hatte sich Nikolaus wirklich nie gefühlt, es sei denn in künstlerischer Hinsicht – aber das war lange her. Unwillkürlich erhob er sich. Narkotisiert von der Ahnung künftigen Leides, wankte er hinüber zum Kinderzimmer. Annedore rief ihm irgendetwas Abfälliges hinterher, doch verstand er es nicht, da die Energiekekse die Aussprache beeinträchtigten. Valentin lag auf seinem Sofa, hörte Musik und fummelte an einer elektronischen Apparatur herum, deren Sinn Nikolaus verborgen war. Mit belegter Stimme, umständlich, wie es seine Art war, doch einfühlsam und zärtlich begann der Vater, die schwierige neue Situation zu erläutern. Doch auch hier erlebte er eine finstre Überraschung. Unwillig dreht sich Valentin zu ihm um und blaffte: „Oh Mann Papa, das gibt’s ja wohl nicht! Merkst du auch mal was? Den Ramon kenn ich schon seit Monaten. Is’ übrigens total nett.“
Als der Dreizehnjährige die Bestürzung in des Vaters Augen sah, ergänzte er obenhin: „Naja, keine Bange, ich komm dich schon besuchen, wenn der Ramon hier eingezogen ist. Hast du eigentlich schon ’ne Wohnung?“
Mechanisch, ohne zu antworten, zog Nikolaus die Tür hinter sich zu. Irgendetwas rieselte beständig in seinem Inneren herab. Würde er demnächst zusammenbrechen? Vermutlich. Auf dem Weg in den Keller nahm er, ohne es recht zu bemerken, ein Lämpchen mit, das ihm Annedore hingestellt hatte. Ach ja, sein Kellerreich und die Treppe dorthin! Noch während der Stillzeit hatte ihn die junge Mutter eines Nachmittags damit überrascht, dass sie ihn in den ehemaligen Hobbykeller führte und ihm selbigen als künftigen Schlafplatz zuwies. Die Tischtennisplatte – ein wenig voreilig für das erwartete Kind angeschafft – stand zusammengeklappt an der Wand; in der Mitte prangte Annedores altes Sofa, Relikt leichterer Zeiten, wie sie sich auszudrücken beliebte, da sie noch häufig triebfreudigen Herrenbesuch empfing. Die gakelige, fleckige Liegestatt hatte sie fein säuberlich mit Spannbettbezug verdeckt – immerhin. Bis auf wenige Ausnahmen verbrachte Nikolaus die Nächte der nächsten dreizehn Jahre dort. Seine Nackenschmerzen nahmen zu, aber auch das war auszuhalten.
Das lichtlose Lämpchen in der Hand, näherte sich Nikolaus seinem Verlies. Ein weiteres Ritual Annedores bestand darin, dass sie ihm nach und nach all das, was sie einst miteinander verbunden hatte, sämtliche Geschenke, alle gemeinsam angeschafften Haushaltsdinge, jedwedes Ding, das sie auf welche Weise auch immer an den ohne Angabe von Gründen Verstoßenen erinnern mochte, auf die Treppe stellte: grundsätzlich auf die zweite Stufe von oben, Stück für Stück Demütigungen, Kennzeichen einer mitleidlosen, irreversiblen Austreibung.
Im Souterrainzimmerchen angekommen, drehte sich Nikolaus ein paarmal im Kreis. Er wusste durchaus nicht mehr, was er hier unten beginnen sollte. Der Schock, wiewohl vorbereitet durch vierzehn Jahre, wirkte sich aus; Nikolaus ruderte mit den Armen, ohne Halt zu finden. Dann schnürte er durch den dunklen Gang auf sein Privatklo, setzte sich und vergaß seine Notdurft zu entrichten. Er zog ab, schlich wieder zurück ins Zimmerchen, nahm die Jacke vom Stuhl und den Schlüssel vom Tisch. Als er sein Handy liegen sah, kam ihm der Gedanke, es gegen die Wand zu werfen. Doch er fürchtete Annedores Gezänk und den Schreck, den Nikolaus davontragen könnte. Also ließ er’s liegen und verriegelte die Tür mittels einer Spezialvorrichtung, die er einst selbst gebastelt hatte.
Der Weg nach oben, zur Haustür, war nur von dem einzigen Gedanken bestimmt: Niemand möge ihn jetzt ansprechen, auf keinen Fall Annedore, aber auch Valentin nicht, dessen Ignoranz ihm den größten Schmerz bereitet hatte. Vorsichtig, wie ein Tierpräparator ein totes Vögelchen, berührte er den Knauf der Haustür. Es klickte. Zu laut.
Bevor Nikolaus in die Nacht hinaustrat, hörte er es von drinnen gellen: „Haust du jetzt ab oder was?“
Nikolaus behielt den Schlüssel in der Hand, schlenkerte ihn unbewusst wie ein Spielzeug. In der anderen Hand trug er die Jacke. Es war die laueste Nacht seit dem letzten September, zeitige Wärme war schon vor Tagen den Rheingraben hinaufgeweht, hielt sich an den Hängen der Bergstraße fest. Langsam ging er geradeaus, unbekümmert um Ziel und Richtung. Wohl kam ihm der Gedanke, das Auto zu nehmen und loszufahren; Nikolaus redete sich ein, er verzichte darauf aus Verantwortung – denn wer weiß, vielleicht würde er absichtlich und mit Wucht auf irgendeinen Brückenpfosten zusteuern ... Dabei war ihm klar, dass er sich einzig und allein für den Spaziergang entschieden hatte, weil Annedore das Auto morgen früh benötigte. Und wo war er morgen früh? Er, Nikolaus Henn, der Dödel?
Ja, wo sollte er überhaupt jetzt hin? Er, der „Hannebambel“, wie ihn Oschi zutreffend beschrieben hatte, der außer Valentin keinen Menschen mehr kannte, der ihn mochte? Und auch dies schien seit heute Abend fraglich. – Es trieb Nikolaus zu dem Spielplatz, den er vor einem Jahrzehnt mehrmals täglich aufgesucht hatte, als sorgeberechtigte Begleitung des Kleinen: jeweils mit präziser Zeitangabe versehen, wie lange er sich hier aufzuhalten und wann er heimzukehren habe. Annedore brauchte eben Ruhe.
Unter einer Linde, die noch kahl war, ließ sich Nikolaus auf die wohlbekannte Bank nieder. Er betrachtete die Spielgeräte im Laternenlicht. Einerseits war es damals unendlich langweilig gewesen, Stunden über Stunden hier zu verbringen, in der selten anregenden Gesellschaft akribischer Mütter, die ihn mehr duldeten als schätzten. Zum andern hatte er seinerzeit eine Aufgabe, war gewissermaßen sozial akzeptiert im Kontakt zu diesem Kind, dessen Existenz ihn hinwiederum an eine Frau band, die ihn zu verabscheuen schien, warum auch immer. Nikolaus streckte die Beine aus, lehnte den Kopf nach hinten. Weiche Regenspritzer trafen ihn im Gesicht. Ah, Frühlingsregen, dachte er, ohne etwas dabei zu empfinden. Eine Melodie ging ihm durch den Kopf, eine lange nicht mehr gehörte. Er kam nicht drauf.
Früher, das wusste er, hatte er das Lied oft gesungen. Seit langem beschränkte er sich darauf, seine einst vorzüglich ausgebildete Stimme im Kirchenchor hören zu lassen. Bei den Aufführungen sang er so leise wie möglich, um nicht aufzufallen. Dieser Kirchenchor ... Nikolaus litt unter den quietschenden, verheulten Einsätzen zumal der älteren Soprane, durfte sich jedoch durchaus nicht beschweren: denn einer, der beinahe einmal die Laufbahn zum professionellen Sänger eingeschlagen hätte, ist in einem Vorstadtkirchenchor selbstverständlich fehl am Platz. Wie war er dort nur hineingeraten? Richtig, Annedore hatte gemeint, es könne nicht schaden, wenn man in der Gemeinde ein wenig Präsenz zeige ... zumal der liebe Valentin dort getauft worden war und die Kommunion erhalten hatte.
Durch ein Kichern wurde Nikolaus aus seinen Gedanken aufgescheucht. Es war ihm sogleich unangenehm, dass man ihn spätabends auf einem Kinderspielplatz alleine antraf. Wieder einmal gab er keine gute Figur ab – das fanden auch die fünf Jugendlichen, vier Burschen und ein Mädchen, die sich ihm gegenüber auf der anderen Bank niedergelassen hatten. Ein wenig blöde schaute er hinüber, sein Gesicht war nassgeregnet. Am lautesten lachte das Mädchen.
„Voll das Opfer“, tuschelte es ihren Begleitern zu. Einer von diesen, er trug eine kurze Jeansweste und war an den Oberarmen tätowiert, spielte den Fürsorglichen.
Indem er treuherzig mit dem Kopf wippte, beugte er sich vor und lehnte die Unterarme auf die Oberschenkel. „Ey, wenn wir dir irgendwie helfen können ...?“
Für seine Freunde war das zu viel. Kreischend vor lachen, klatschten sie einander ab, wischten sich Tränen aus den Augen. Das Mädchen schlug vor Übermut auf den Überfreundlichen ein und nannte ihn „Sozialheimer“. Auch dieser musste nun über seinen Witz lachen – zu Nikolaus’ Erstaunen, denn er hatte das Angebot ernst genommen.
Bis zur Halbglatze von Schauern der Scham überzogen, stand Nikolaus geschwinde auf. Um den Spielplatz zu verlassen, musste er direkt an dieser Bank voller Schadenfreude vorbei. Er überlegte, ob er lieber den rückwärtigen Zaun überklettern solle. Nein, das wäre nun doch übertrieben. Was kümmerten ihn ein paar harmlose Halbwüchsige? Er hatte anderen Kummer. In der Mitte des Spielplatzes befand sich ein Sandkasten; das hätte Nikolaus eigentlich wissen müssen – doch im Dunkeln stolperte er hinein, strauchelte und schlingerte auf das Türchen zu. Diese neuerliche Einlage gefiel seinem Publikum über die Maßen. Einer der Jungs röchelte am Boden und flehte, der Fremde solle doch bitte, bitte aufhören mit seiner Show. Es sei zu großartig. Während Nikolaus das Türchen durchschritt, vernahm er abermals das Wort „Opfer“. Diese darwinistische, hundserbärmlich gemeine Jugendsprache hatte ihn schon immer angewidert; doch in seinem Innern musste er den Nachtschwärmern recht geben.
Kaum hatte er sich ein paar Schritte entfernt, fiel ihm ein, dass der Schlüssel noch auf der Bank lag. Seine Rückkehr wurde mit großem Hallo begrüßt.
„Haben Sie es sich anders überlegt?“, machte sich der Chef-Zyniker zum Vergnügen seiner Beisitzer erneut über Nikolaus lustig.
„Der hat wahrscheinlich Sehnsucht nach uns“, stöhnte das Mädchen.
„Ja klar, nach dir!“, vermutete ein Rothaariger mit Bürstenschnitt. Und ergänzte: „Ey, wollen Sie die haben? Fünfzig Euro! Nee, hundert!“
Während das Mädchen wieder einmal wild drauflosprügelte, diesmal den Rothaarigen, sah sich Nikolaus genötigt, auch an dieser Stelle seine Demütigung komplett zu machen. So, als hätte er mit den Fünfen einen fröhlichen Abend verlebt, gab er überflüssiger Weise den Grund für sein abermaliges Auftauchen an: „Schlüssel vergessen.“
Dabei kam auch ihm seine Stimme so dünn und knabenhaft vor, dass er sich über den erneuten Lachsturm auf der Bank keineswegs wunderte.
Noch lange hörte er die Jugendlichen hinter sich gackern und jubeln. Wie konnte er sich nur so verhöhnen lassen? Den Einfall, ein weiteres Mal zurückzukehren, um die Unverschämten zur Rede zu stellen, vielleicht sogar zu züchtigen, setzte er glücklicherweise nicht in die Tat um; wer weiß, wie er sich bei diesem Unterfangen blamiert hätte ... Womöglich wäre er gestürzt und der muskulöse Menschenfreund hätte ihm die Kehle zugedrückt. Nun ja, eine Möglichkeit.
Der Regen fiel gleichmäßig, nicht sehr ergiebig, doch es genügte, um die Kleidung nach und nach vollständig durchzuweichen. Für eine halbe Stunde bot das Neubauviertel die öde Silhouette für Nikolaus Henns seltsame Nachtwanderung. Kahle weiße Häuser, Autos davor, Mülltonnen, ordentlich abgestellt, fabelhaft hässliche Laternen ... Allmählich bildete sich eine Idee heraus: Er würde ins Zentrum vordringen, in die Altstadt. Am Studentenwohnheim wollte er stehenbleiben, dort, wo er einmal gewohnt hatte. In „leichteren Zeiten“, wie Annedore sich auszudrücken beliebte. Er würde hinunter zum Neckar spazieren und am Ufer sitzen bleiben. Von dort aus würde man weitersehen.