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Hinweise eines Fensterputzer-Fisches

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„Immer derselbe Carpaccio-Quatsch! Gibt´s denn nirgendwo mehr Pellkartoffeln?“

Mit dem zum Vorzugspreis ausgewiesenen Businesslunch schien Direktor Essenwein nicht einverstanden zu sein.

„Wenn Sie Pellkartoffeln wollen“, äugte Dr. Eleonore Kahle hinter der überdimensionalen Speisekarte hervor, „hätten wir vielleicht nicht zu Ihrem Edel-Italiener gehen sollen.“

Unwillig hob Essenwein die Schultern. Sein Blick fiel auf einen Fensterputzer-Fisch, der in einem der Riesenaquarien, streng geometrisch über den weitläufigen Gastraum verteilt, seiner stumpfsinnigen Tätigkeit nachging: immer dieselbe Ecke, immer dieselbe Ecke ... Dahinter bemerkte der Direktor einen älteren Herrn, der eine auf DIN-5-Größe zusammengefaltete Zeitung las und mit seiner Lachslasagne schimpfte. Zu heiß, vermutlich.

„Ich habe den Eindruck“, setzte Eleonore von neuem an, „dass Ihre Distanz gekünstelt ist; dass Ihnen der Verkauf der Firma persönlich viel näher geht als Sie es zugeben wollen.“

„Ihnen kann ich´s ja sagen.“ Essenwein räusperte sich seltsam helltönend, der Fensterputzer-Fisch sah sich um. „So langsam verstehe ich die alten Offiziere, die für solche Fälle immer einen Revolver in der Schublade hatten. Das waren noch Ehrenmänner.“

„Na, na.“ Frau Dr. Kahles Miene changierte in Richtung Psychotherapie. „Sagten Sie nicht, Sie gehen bald in Kur? Vielleicht, dass danach ...“

„Ja, so ist es. Feigheit vor dem Feind, wenn Sie so wollen.“

Der angeschlagene Direktor winkte dem Kellner. Er brauchte jetzt Rotwein. Schweren Rotwein.

Eleonore Kahle, Wirtschaftsanwältin in dritter Generation, unverzichtbar in dieser Stadt, wenn es darum ging, kranke Firmen für gesund zu verkaufen – oder umgekehrt, je nach Bedarf – , war dem Hause Essenwein seit längerem verbunden. Hier herrschten also andere Gesetze. Wahrhaftig, das gab es! Von wegen „unbarmherzige Kampfhexe“, wie ihre wunderbar missratene Tochter sie zu titulieren pflegte. Jens Essenwein tat ihr als Mensch leid. Man stelle sich vor: als Mensch!

Das verlangte ungewöhnliche Maßnahmen.

„Wie Sie wissen“, bemühte sich die Anwältin um ein vertrauensvolles Timbre, „bin ich als Sparbrötchen verschrien. Heute aber nicht. Ich lade Sie zu einem schönen Brunello ein, ja? Und wenn Sie dann noch traurig sind ... fang´n wir an von vorn.“ Den Schluss hatte sie fast gesungen, im Heinz-Ehrhard-Stil.

„Das bin ich nicht wert“, schluckte Essenwein, der sichtlich gerührt war. „Nicht mehr.“

„Kscht!“

Wäre Eleonore wirklich eine Hexe gewesen, mit exakt dieser Bewegung hätte sie alle Trübsal vom Tisch verscheucht. So aber irritierte sie nur die streng uniformierte edelitalienische Bedienung, deren Bewegungen, mehr noch, deren Seele inklusive Erscheinungsbild von irgendwem gleichgeschaltet zu sein schien. Sie sagte tatsächlich „Oups!“, sie säuselte „Was darf ich denn Leckeres bringen?“, ließ auch das sklavische „Sehr gerne!“ nicht aus und zischte beim Servieren immer wieder „Genießen Sie eees!“

„Äh ...“ Direktor Essenwein deutete an, dass ihm übel sei. „Noch eine Generation, und das sind alles Automaten.“

„Warten Sie zwei ab, dann gibt es nichts anderes mehr, und dann merkt´s auch keiner.“

Frau Dr. Kahle schien sich nicht zu beunruhigen. Zumindest nicht, solange sie in einen so prachtvoll gereiften Brunello hineinriechen durfte.

„Und die Menschen? Was wird dann aus ...“

„Haben Sie Matrix gesehen?“

„Den Film? Och bitte, keine Science-Fiction. Nicht schon mittags.“

Nach und nach gelang es der Anwältin, ihren Schützling, der ihr in den vergangenen Jahren immer wieder fabelhafte Aufträge zugeschanzt hatte, in freundlichere Gewässer zu steuern. Statt von drohendem Konkurs, Zerschlagung, gierigen Erzfeinden quasselten die beiden bald vom Meer. Anlass war ein mit Limonen-Zesten erfrischter Schwertfisch, freilich in Mini-Ausführung, auf noch winzigeren Linguine gebettet. Ein Sonnenuntergang aus Bottarga vollzog sich in einer Tellerecke. Frau Kahle musste umschwenken; den Brunello ließ sie weiteratmen, indessen sie die Servierkraft programmierte, so schnell wie möglich einen Roero Arneis aus dem Kühlschrank zu fischen.

„Alte Römerrebe“, konnte sie einmal mehr ihr Fachwissen nicht unterdrücken. „Leichter Honigton, aber schön kräuterherb. Haben schon die großen Dichter gesoffen, Dings zum Beispiel.“

Während des erwartungsgemäß sich anschließenden Monologs über den Weinbau im Alten Rom im Vergleich zum noch älteren Griechenland nebst einem Exkurs in die frühe ägyptische Rebenkultur hatte Direktor Essenwein ausreichend Zeit, einer unerwarteten Kehrtwendung seine Beachtung zu schenken. Jener Fensterputzer-Fisch, den er kurz zuvor seiner tumb-gleichförmigen Verrichtungen wegen noch innerlich gescholten hatte, war auf einmal in eine andere Richtung unterwegs. Seinen traulichen Winkel hatte er verlassen, vielleicht für immer. Das unförmige graue Schleimvieh hatte sich auf eine schmierige Wanderschaft begeben, über ein Drittel der Glasscheibe hin, wo es mümmelnd verharrte.

Was mümmelte es eigentlich?

Keine weiteren Fragen, bitte. Die Saug- und Schmatz-Apparatur betrachtete Essenwein nicht so genau, er war ja am Essen. Doch kam es da drüben zu einem seltsamen Zusammenspiel zweier – vermutlich – unabhängiger Szenen: Das Fischlein nämlich machte genau über dem Haupt des sorgfältigen Zeitungslesers Halt und schien nun nicht mehr Fensterglas, sondern eine Stirn zu säubern, zumindest legte die Überlagerung der beiden Bilder die absurde Verknüpfung nahe.

„Interessieren Sie sich wirklich für Aquarien, oder ist Ihnen meine Gesellschaft so verdrießlich?“

Jens schrak auf.

„Um Gottes Willen, Entschuldigung, nein, ich bitte ...“ Er bemühte sich erst gar nicht, den idiotischen Einfall zu schildern – was sollte Frau Dr. Kahle von ihm denken? Zwei Teller mit zärtlich gegarten Kutteln, dem Zwischengericht, bevor man sich endlich dem rosigen Lamm-Karree (und damit auch dem Brunello) widmen konnte, lenkten die Aufmerksamkeit der Geschäftspartner aufs Wesentliche.

„Was für ein Duft! Da ist grober Senf drin. Ich sterbe ...“

„Frau Dr. Kahle, ich bin immer wieder überrascht, zu welchen emotionalen Höchstleistungen Sie fähig sind. Man verkennt Sie.“

„Ach papperlapapp, ist doch nur beim Essen so. Wenn’ s um Menschen geht, bin ich ganz Ratio. Menschen ess’ ich ja auch nicht. Noch nicht.“

Erst beim Dessert – Direktor Essenwein ließ es bei einem Espresso mit einer winzigen Eiswaffel bewenden, er war voll – , getraute sich der frisch gebackene Pleitier den entscheidenden Vorstoß zu. Es handelte sich um nichts weniger als um den Anlass zu diesem Rencontre. Zweimal setzte er an, da ebnete Eleonore schon das Feld.

„Nu’ drucksen Sie nicht rum, das passt nicht zu Ihnen. Natürlich weiß ich schon die ganze Zeit, was Sie wissen wollen, und ich weiß auch, warum Sie es wissen wollen und dass Sie nur mich fragen können, wen denn sonst? Hach, diese Kutteln! Haben hier so gar nichts von Calamares, finden Sie nicht? Also, wenn ich immer so gut Bescheid wüsste, ich könnte mir doch noch dieses bescheuerte überteuerte Bötchen da auf dem Lago di Orta leisten ...“

„Kannst du doch längst, Frau Mahlzahn“, flüsterte der Direktor in sein Innenleben hinein, wo die Worte von finsteren Wänden, bestückt mit rhythmisch blinkenden Smaragden, widerhallten. Er presste aber nur zwei Wörter hervor.

„Danke. Und?“

„Selbstverständlich darf ich nichts über die Verhandlungen verlautbaren lassen, das ist Ihnen bekannt. Ob Ballenberger den Zuschlag schon gekriegt hat, unterliegt natürlich der Schweigepflicht. Manchmal genügt aber auch ein minimaler Hinweis, nicht wahr?“

Die nach einer zeitlosen Fasson elegante Dame, deren tiefdunkles Lippenrot auch während der üppigsten Mahlzeiten kaum aufhellte, hob ein Espresso-Löffelchen in die Luft.

„Das ist oben, ja? Und das ist unten. Achten Sie einfach darauf, wie herum es liegenbleibt, wenn ich gleich eine rauchen gehe, ja?“

Jens schüttelte zustimmend den Kopf.

Er verstand zwar nicht, wozu dieses Schere-Stein-Papier-Spiel gut war – aber er hatte dann immerhin Gewissheit. Essenwein biss in das Wäffelchen und begann den Löffel zu hypnotisieren. Indes sein Gegenüber mit erfreulicher Boshaftigkeit über die „Rechtsgelehrten“ der Ballenberger Word Packaging & Co. parlierte, zeigte das Schäufelchen des Löffelchens mal nach oben, mal nach unten. Dann, mitten in einer Pointe, die der Direktor nicht kapierte, blieb das silberne Besteckchen plötzlich liegen. Es schaukelte ein wenig, wie der Verängstigte durch zusammengekniffene Augenlider erkennen konnte. Dann gab er sich einen Ruck. Sah hin. Und bestellte zwei Grappe, beide für sich.

So also ... so war die Entscheidung denn doch gefallen: Exakt auf jene Art und Weise, wie er dies seit Ende der Neunziger, als Ballenberger durchzustarten begann, befürchtet hatte. Ach was, befürchtet: Es war von Anfang an die Schreckensvorstellung schlechthin, die apokalyptische Vision, der totale Untergang. – Essenweins Packura, vom Vater übernommen als ein Musterunternehmen, gesund bis ins Dämm-Material der 421 verschiedenen Verpackungen hinein: aufgesaugt vom schlimmsten Konkurrenten ... dem unerträglichen, dem bitterzynischen, herausfordernden, so erfolgreichen wie gefühllosen Friedhelm Ballenberger! Gleicher Jahrgang wie Jens, aber viel verwöhnter; verzogen, konnte man sagen.

Jahrelang hatte die Packura die Nase vorn gehabt, vor allem in Deutschland. Aber in Osteuropa war Ballenberger schneller gewesen. Südafrika ebenfalls. Seither nannte sich dieser Drecksladen „World Packaging & Co. KG“

Pf!

Auf einer Tagung, es war sehr spät und Essenwein hatte sehr getrunken, war ihm der sehr nach Obstler riechende Kontrahent sehr nahe gerückt ... und hatte das Ende der Packura prophezeit, mit Genuss, versteht sich: das Aufgehen in seiner „Weltfirma.“

„Dem nicht!“, hatte Vater Essenwein daheim getobt, „dem nimmermehr! Sonst komm ich aus dem Grab zurück und ...“

Essenwein war ja kein Spiritist. Er glaubte auch nicht an Zeichen. Und doch ... und doch ... Wenn er je eines gelernt hatte in seinen knapp dreißig Dienstjahren, dann dies: die Lösungen sind immer schon da. Task Forces, Brainstormings und all der Moderatorenkram hatten nur den einen Sinn, Entscheidungen, die längst getroffen waren, plausibel zu formulieren; Tendenzen, die sich bereits durchgesetzt hatten, im Nachhinein zu legitimieren; Leute, die bedachtsam waren, sachte heranzuführen ans Unvermeidliche.

Kurzum, selbst Direktor Essenwein, der Spezialist für kluge Lösungsmodelle schlechthin, hatte eben noch versucht, das überdeutlich und mit einem Blick zutage Getretene zu ignorieren. Jetzt, nachdem der Espressolöffel entschieden hatte wie vor 1000 Jahren ein auf der Wegkreuzung umgekipptes Wikingerschwert, brauchte nichts mehr vertuscht zu werden: vor seinem eigenen Bewusstsein. Es stand ihm alles klar vor Augen. Er schämte sich nur ein bisschen. Ein bisschen sehr.

Als Eleonore wiederkehrte, den üblichen Nachdampf aller Pausenraucher mit sich führend, zeigte sie sich überrascht.

„Na so was! Da lasse ich Sie allein, diskret wie ich bin, weil ich denke, Sie weinen, klagen, zerraufen sich die Brust. Und jetzt? Sehen Sie aus, als hätten Sie eine Offenbarung gehabt. Allerdings, wenn ich Sie mir genauer betrachte ... dieser Engel war keiner von da oben, stimmt´s?“

„Eher nicht.“ Essenwein bemühte sich, den Triumph der Bosheit nicht in allzu großen Dosen nach außen dringen zu lassen. „Ich bin ... auch gar nicht Schuld. Der ...“ – dabei wies er mit einer Kopfbewegung zum Aquarium – „ ... hat es mir vorgesagt.“

„Der alte Mann am Tisch da drüben?“ Frau Dr. Kahle verstand mit einem Male nicht mehr viel.

„Nein, der Fensterputzer-Fisch. Allerdings ... wenn Sie es so sagen ... eigentlich alle beide. Im Duett.“

Sein Kichern hatte etwas Idiotisches. Immerhin platzte er noch nicht mit dem vulkanisch angestauten Lachen heraus.

„Ich glaube“, mischte Frau Dr. Kahle etwas mehr Dunkelblau in ihre Stimme, „das ist gar kein Fisch. Eher so ein ...“

„Nun?“

„Molch.“

„Ein Molch?“

„Oder Olm. Oder irgend so was. Diese kleinen Viecher halt. Jedenfalls, meiner Ansicht nach gibt es gar keine Fensterputzer-Fische. Die heißen anders. Ergo können Sie auch keine rettenden Ideen von einer nicht existenten Spezies erhalten haben, wie auch?“

„Rettend hab ich nicht gesagt.“

„Also“, Eleonore missdeutete die zwei Gläser Grappa und schnappte sich eins. „Was haben Sie vor?“

Jens Essenweins geradezu schmerzhaft belustigter Blick wandte sich wieder seinen Freunden hinter Glas zu. Er gluckste behandlungsbedürftig.

„Tja. Der jetzige Stand der Entwicklungen erlaubt noch keine ausführlichen Darlegungen, das müssen Sie verstehen. Aber so viel kann ich Ihnen bereits mitteilen ...“

Frau Dr. Kahle zog ihre Augenbrauen forschend so weit nach oben, dass sie zwei Paraglidern glichen, die dem Unendlichen entgegenstrebten. Und sie gewahrte, wie diese Männerhand da drüben nach ihrem, Eleonores Espresso-Löffelchen, griff ... und es ganz langsam umdrehte. So dass die Öffnung der Laffe nach oben wies.

„Aber“, konnte sich Jens Essenwein nun nicht mehr gerade halten, weil er geschüttelt wurde von etwas, das stärker war als er, „Sie können mir gerne ... bei der Formulierung ... eines Vertrages ... hihi ... helfen! Hu ... hu ... Es gilt (hier entjappste ihm der erste Laut, der ca. die Hälfte der Restaurantbesucher sich nach ihm umdrehen ließ), einen neuen ... (jetzt spritzten ihm die Lachtränen aus den Augen) kommissarischen ... Leiter einsus ... einsus ...“

Weiter kam er nicht. Aber die Bedienung kam, indigniert angesichts eines in diesen Räumen nie dagewesenen Lach-Schluchz-Anfalls eines augenscheinlich doch seit längerem erwachsenen Mannes. Es schaute jetzt auch die andere Hälfte der Gäste. Die Servicekraft stockte, einem pochierten Eierspeise nicht unähnlich.

Sie sagte nicht mal mehr „Oups!“

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