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Zwei Briefe

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„Sehr verehrter Herr Schmitt,

mein lieber Kurt!

Wie die Zeit doch rennt! Vergangenen Monat stellten wir fest, dass es nun doch schon exakt fünf Jahre sind, dass Sie in Ihren wohlverdienten Ruhestand abgeschieden sind. Gelegentlich, wenn man mit den alten Kollegen ins Plauschen kommt – das ist ja nicht mehr oft – , reden wir noch von Ihnen und Ihrer schönen Zeit bei uns. Das waren Jahre, die kommen so nie wieder. Es hat sich viel verändert, nicht nur, aber auch bei uns im Hause.

Leider, leider sind Sie bisher nie bei unseren stimmungsvollen Jahresbetriebsweihnachtsfeiern aufgekreuzt – ich nehme doch an, man hat Sie eingeladen? Es geht immer recht fröhlich zu. Die alten Geschichten werden wieder und wieder erzählt, wie das so sein muss. Vielleicht überlegen Sie es sich ja und kommen doch einmal vorbei. Wir würden uns freuen.

Ich weiß, Sie waren immer ein Mann der Tat, der langes Drumherum-Reden schlecht ertrug. Deswegen gleich zur Sache. Ich habe – wir haben – ein Anliegen, wobei, Anliegen ist vielleicht noch zu gering gesagt. Auf alle Fälle ist es eine Bitte, als solche allerdings vielleicht zu groß. Sie bemerken, es fällt mir nicht so leicht, gerade weil ich weiß, dass Sie damals den Abschied doch recht schwer genommen haben. Kein Wunder, nach so einer langen Zeit! Es müssen wohl um die dreißig Jahre gewesen sein? So etwas gibt es heutzutage ja gar nicht mehr.

Kurz und gut, besser: lang und schlecht (verzeihen Sie mir den kleinen Scherz, ich darf Ihnen sagen, seit Sie nicht mehr unter uns sind, erzählt keiner mehr Witze, jedenfalls nicht so gute!): die Firma ist am Ende. Unsere Firma, Herr Schmitt! Selbstkritisch muss ich einräumen, ich habe die Zeichen der Zeit zu spät erkannt. Sicher ist es nicht nur meine Schuld, im Wesentlichen geht es um Entwicklungen im Makrobereich, die keiner von uns Kleinen beeinflussen kann. Was mit Sicherheit zu sagen ist: Es fehlte in den letzten Jahren an Kompetenz. Es fehlte an Wissen, es fehlte an Planungsenergie. Mit einem Wort: Sie haben gefehlt!

Selbstverständlich war die Zeit gekommen, wie bei uns allen. Die wohlverdiente Rente, die Sie genießen, konnte ja schlecht noch ein paar Jahrzehnte hinausgeschoben werden, um es noch einmal mit einem Scherz zu versuchen ... Trotzdem, lassen Sie es mich rundheraus so formulieren: Ihr Abgang war auf Dauer nicht zu kompensieren. Und jetzt ist das Schlimmste eingetreten: Ballenberger wird uns schlucken. (Ich sehe, wie Sie förmlich zusammenzucken!) Ja, es ist schon fast so weit. Eine kleine Frist besteht noch, aber was soll sich da schon ändern? Oder wäre es doch möglich?!

Könnten Sie sich vorstellen, lieber Herr Schmitt, mein bester Kurt, die Firma ... zu retten? Bitte überlegen Sie sich das, ob Sie nicht wieder bei der Packura arbeiten wollen! Es gibt da Modelle, ganz neu, wo es um die Nutzung der Fähigkeiten und des Wissensschatzes von Senioren geht. Da müssten Sie freilich keine 40 Stunden die Woche arbeiten, das wäre ja noch schöner. Man würde die Arbeitszeit Ihrer persönlichen Situation anpassen. Ich bin mir sicher, wir würden uns einigen.

Jetzt der Clou. Wie Sie vielleicht gehört haben, geht es mir persönlich sehr schlecht. Mein Arzt hat gesagt, wenn ich nicht sofort etwas unternehme, kann ich mir Weihnachten die Erika von unten angucken. (Er meint das Heidekraut.) Könnten Sie sich vorstellen, als kommissarischer Leiter während der Zeit meiner Abwesenheit einzuspringen? Sie hätten volle Richtlinienkompetenz. Keinem anderen würde ich das Zepter so gerne in die vertrauensvollen Hände drücken wie Ihnen, Herr Schmitt. Ich weiß nicht, wann ich wieder am Platz sein werde ... und ob überhaupt noch einmal. Die Situation ist sehr kritisch, die Krankheit schreitet fort. Jedenfalls, ich denke mir: Erst mal auf ein Jahr?

Was meinen Sie? Würden Sie sich noch einmal einer solchen Aufgabe stellen wollen? Selbstverständlich gehört dazu, dass Sie einigermaßen bei Gesundheit sind, was ich doch annehme, bei Ihrem Bärennaturell! Bitte, schauen Sie doch einfach einmal bei uns in der Firma vorbei. Wie wäre es kommenden Donnerstag, den 19.9.? Wir würden uns so freuen! Vielleicht könnten wir im Anschluss drüben beim Brezel-Benno zu Mittag essen, da waren Sie doch immer so gerne. Ich könnte die Schlesinger fragen, ob sie mitkommt. Die ist nämlich auch noch da ... und ganz die Alte!

Also, mein lieber Schmitt, altes Haus: Denken Sie gut nach. Rufen Sie mich jederzeit an. Kommen Sie bitte ... und helfen Sie uns aus der Patsche.

WIR BRAUCHEN SIE!

Mit den herzlichsten Grüßen

Ihr Ihnen stets verbundener

Direktor der

PACKURA-KARTONAGEN U.A.V.

Jens Essenwein“

Schon im Treppenhaus, mechanisch das Briefkastentürchen öffnend, hatte Schmitt einen Anflug von Übelkeit verspürt. Meist war nur Reklame drin, Rechnungen, Post vom Leserring, aber niemals persönliche Briefe. Sehr selten Ansichtskarten. Den Briefkopf erkannte er schon, als das Kuvert noch hinter dem Handzettel vom Pizza-Heimservice im Kasten klemmte. Kurz musste er sich abwenden, der Schreck war zu groß. Dann nahm er den Umschlag heraus. Blickte auf den Absender: vom Chef persönlich. Kurt Schmitt nahm es sich selber übel, dass seine Hände zitterten. Dass er schwer atmen, ja aufseufzen musste. Einem Schwerstbetrunkenen gleich, schwankte er durchs Treppenhaus nach oben. Schenkte sich einen Korn ein. Fingerte den Brief auf. Setzte sich auf den orangenen Plastikstuhl. Las den ersten Absatz. Stockte. Dann den Rest.

Und erbrach sich in die Küche.

Vor allem die Schmerzen in den Knien, aber auch die im Rücken bewirkten, dass die anschließende Putzaktion hochnotpeinlich ausfiel. Als er vermittels eines tiefgrauen Lumpens den Rest aus der Ecke unter dem Brotkasten wienerte, hatte er plötzlich Angst, nicht mehr hoch zu kommen. Er ließ den Lappen fallen und klammerte sich an zwei Schubladen fest. Die aber aufgingen und ihn beinahe umgeworfen hätten, als er sich hochziehen wollte. Mehrmals musste er umgreifen, bis er endlich über der Spüle lehnte.

Schmitt atmete heftig. Er schwitzte viehisch.

Als er sich einigermaßen erholt hatte, schob er den Lappen per Pedes ins Bad. Wie gut, dass Heidelinde die gesamte Wohnung hatte kacheln lassen, in weiß. Einen Augenblick verharrte er. Und begab sich auf Kriegszug. Hierzu musste ein Wandschrank geöffnet und eine Schreibmaschine, immer noch seine erste, hervorgezogen werden: ein Qualitätsprodukt der Marke „Kleyer & Adler Torpedo Triumph“, das von seinem Vor-Vorgänger aus der Packura stammte. Damals, als die Invasion der Computer begann, konnte er die Unverwüstlichkeit der volleisernen Maschine noch so innig preisen – er musste sie doch mit nach Hause nehmen, andernfalls wäre sie verschrottet worden.

So wie er selbst ein paar Jahre später.

Mit Umsicht schleppte er das schwarze Ungetüm zum Küchentisch. Hoffentlich hatte er noch DIN-A-4-Papier vorrätig ... Nicht ohne Stolz durfte er feststellen, dass im Büroschränkchen, ebenfalls ein Überbleibsel aus seiner aktiven Zeit (es stand neben dem Ehebett) alles wohlgeordnet wie vor fünf Jahren zu finden war. Seither hatte er kaum mehr hineingeguckt, wozu auch? Sanft ratternd wurde das Papier eingespannt. Schmitt rückte den Stuhl zurecht. Steckte sich eine Zigarette an. Und legte los.

Sein Stil war seinerzeit im ganzen Hause und bis weit in den Umkreis bekannt: Die beiden Zeigefinger wurden zu Knüppeln, zu Hagelbrocken, zu Stukas, zu Sprengbomben, die unaufhörlich auf die bedauernswerten Flachdächer der Tastatur niedersausten.

„Sehr geehrter Herr Direktor,

Ihr Schreiben vom Montag ist die größte Unverschämtheit, an die ich mich erinnern kann. Das will etwas heißen, bin ich doch vor fünf Jahren nicht in den „wohlverdienten Ruhestand“ abgeschieden, wie Sie so widerwärtig anbiedernd – und auch noch falsch – formulieren, sondern ich wurde mit einem Arschtritt aus der Firma befördert, für die ich mein Leben hingegeben hätte. Dieser Arschtritt erfolgte nach vierzig, nicht nach dreißig Jahren, wenn ich das richtigstellen darf. Sie werden sich ganz gewiss nicht mehr daran erinnern, wie Sie mir zum 40. Dienstjubiläum einen Weltatlas überreichten, der Gebrauchsspuren aufwies, versehen mit dem zynischen Kommentar: „Für Ihre Weltreisen.“ Wovon ich selbige hätte finanzieren können, da ich ja nicht einmal Anspruch auf volle Rentenzahlung habe, ließen sie offen. Dass es so weit kommen würde, wussten Sie damals schon, da bin ich mir sicher.

Ihr Anerbieten erachte ich als offene Beleidigung. Verstehen Sie mich nicht falsch, das geht nicht gegen Ihre Person, Sie waren mir nie unangenehm – aber Sie haben damals nichts, aber auch gar nichts unternommen, um meine Degradierung, meine Demütigung, ja meinen öffentlichen Abschuss zu verhindern. Das müssen Sie mit sich selbst ausmachen. Sie wissen offensichtlich nicht, was Sie mir angetan haben. Ob sich hinter der geheuchelten Lobpreisung meiner Fähigkeiten (die ja für die Firma allesamt entbehrlich waren) auch noch Hohn verbirgt, kann ich nicht sagen. Dass ausgerechnet ich, der wie ein tollwütiger Hund vom Hof gejagt wurde, jetzt den Karren aus dem Dreck ziehen soll, entspricht jedoch ohne Zweifel dem Tatbestand der Verscheißerung.

Dass Sie und Ihre ach so dynamischen jungen Mitarbeiter aus einem kerngesunden Unternehmen einen verrotteten Scheißladen machen würden, war mir von Anfang an klar. Aber Sie wollten nicht auf mich hören. Keiner hörte mehr auf mich. Diese Drecksfirma kann mir gestohlen bleiben, verzeihen Sie die harten Ausdrücke – ich hätte härtere in petto. Eins muss ich allerdings einräumen: dass ausgerechnet Ballenberger uns schlucken soll, ist die größtmögliche Katastrophe. Auch das haben Sie zu verantworten. Ihr Vater hätte sich erschossen, was ich mir an Ihrer Stelle ebenfalls überlegen würde.“

(An dieser Stelle zuckte Eisenwein ernstlich zusammen.)

„Ihre jämmerlichen Weihnachtsfeiern können Sie sich in den Hintern schieben, ich brauche keine Senioren-Kindereien, ich hasse so etwas. Zu guter Letzt: Was maßen Sie sich an, mich „lieber Kurt“ zu nennen? Das hat nicht einmal meine Frau getan. Denken Sie, ich bin senil und lasse mich nasführen? Das soll mal einer versuchen.

Leben Sie wohl, lassen Sie mich in Ruhe – und zwar für immer.

Hochachtungsvoll,

Schmitt“

Hastig, atemlos ging er die anderthalb Seiten noch einmal durch. Zweimal hatte er sich vertippt – ganz ordentlich nach so langer Pause. Das Tipp Ex im Schränkchen war eingetrocknet. So musste er die Korrekturen mit Kuli vornehmen. Sicherlich war das nicht der beste Brief, den er zeitlebens geschrieben hatte; aber er war immerhin ehrlich, stellte in gewisser Hinsicht die Ehre des Ehemaligen wieder her.

Schmitt starrte vor sich hin. Tastete nach den Zigaretten. Fand sie aber nicht. Unversehens geriet er in eine weichere Stimmung. Und setzte schließlich, weniger heftig hämmernd, ein Postscriptum unter das Schreiben.

„Ps. Bitte richten Sie Frau Schlesinger Grüße aus. Für Sie, Herr Direktor, gute Besserung.“

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