Читать книгу Vierecke fallen nicht zur Seite - Johannes Irmscher - Страница 4

Buch 1 -1-

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Freyas linke Wange glühte rot. Es fühlte sich so an, als wäre sie mit Schnee eingeseift worden oder als würde sie, ohne Schal an einem kalten Wintertag, durch Schaldstättens Straßen laufen. Die Ohrfeige kam überraschend, der Schmerz meldete sich noch nicht zu Wort, als ihr Vater sie am Handgelenk packte und aus dem Kinderzimmer, über den Flur, hinein in das Bad zog. Freya schlüpfte aus ihrer durchnässten Schlafanzughose, mit den blauen und roten Rennautos und legte sie in das Waschbecken. Eine Wanne hatte die Familie Teutschwitz nicht und die Dusche würde Herr Teutschwitz für Freya benötigen. Das kleine Mädchen stand zitternd vor der Dusche mit der hohen Stufe. Der Vorhang mit Leopardenmuster war an die Wand gezogen, der dritte Halterungsring war zerbrochen und der Stoff hing etwas durch. Das Bad hatte keine Fenster und nur eine Glühbirne an der Decke erhellte den Raum. Um die Glühbirne herum gab es einmal eine cremefarbene Umhüllung aus Glas, die aber abfiel und zerbrach, als Freya und ihr Bruder Ian mit einem Ball in der Wohnung spielten. Jetzt schien eine einsame Glühbirne an der Decke zu schweben. Eine Mücke gesellte sich zu ihr, es war eine dieser Großen. Größer als Freyas Handfläche. Freya nahm sich vor, ihre Sachkundelehrerin nach der Art zu fragen. Morgen würde sie ihren Stundenplan für die dritte Klasse bekommen und sie nahm doch an, dass sie wieder Sachkunde haben würde. Ihr Vater hatte sich in die Dusche gelehnt und beugte sich nun wieder vor. Das Wasser hatte seiner Meinung nach, eine angemessene Temperatur. Er zog Freya über die Kante und hielt sie in der Dusche mit einer Armbeuge fest. Mit diesem Arm hielt er die Brause. In der freien Hand hielt er einen Schwamm, der beinahe auseinanderfiel und bei jedem Waschvorgang braungelbe Einzelteile im Abfluss zurückließ. Freyas Vater wusch recht grob den Urin von Freyas Beinen. Dann hob er das Mädchen aus der Dusche und trocknete sie mit einem Handtuch ab.

„Bleib“, sagte er zu ihr, wie zu einem Hund.

Herr Teutschwitz ging in das Schlafzimmer der Eltern, in dem sich seine Frau gerade umzog und holte ein Nachthemd von ihr. Es war mal weiß gewesen. Vor grauen Tagen. Der Vater zog es aus der unteren Schublade des Holzkleiderschrankes. Dann gab er es seiner Tochter.

„Zieh das an, leg dich auf die Couch“, befahl er.

Freya hielt das Nachthemd mit beiden Ärmchen umklammert und stapfte durch den Flur in das Wohnzimmer. Dabei ging sie an ihrem Zimmer vorbei, welches sie sich mit ihrem Bruder teilte. Ian stand in der Tür und hielt das Bettzeug und die Bettwäsche ähnlich wie Freya das Nachthemd. Freya wollte sich bei ihrem großen Bruder entschuldigen, doch sie traute sich nicht. Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch und schlüpfte in das Nachthemd ihrer Mutter, welches ihr natürlich viel zu groß war. Ihre Beine waren von dem Stoff komplett verdeckt und sie hätte es nach oben ziehen müssen, wenn sie durch die Wohnung hätte laufen wollen. Doch ihr Vater hatte ihr ja gesagt, dass sie sich hier hinlegen sollte und so tat sie das auch. In der hinterletzten Ecke verkrümelte sie sich. Sie fror an den Füßen und klappte das Nachthemd herum. Wie in einem Kokon gehüllt, lag sie da und wartete auf ihren Vater. Der kam mit einer Decke und legte sie auf Freya.

„Du schläfst heute Nacht hier.“

Freya war traurig, aber konnte es verstehen. Auf dem Bildschirm des kleinen Fernsehers liefen die Zusammenfassungen der Sonntagsspiele. Es dauerte nicht lange, bis ihr Vater einschlief. Das Schnarchen und die unbequeme Liegeposition hielten sie wach. Wie Kanonenschläge knallte es aus Herr Teutschwitz´ roter Nase. Dazu war sie noch sehr aufgeregt, da sie morgen in die dritte Klasse kommen würde. Hoffentlich würde Frau Rhemberg noch ihre Klassenlehrerin sein. Freya tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Und wenn doch, dann war sie sich immer selbst bewusst. Sie beneidete Ian.

Ian legte sich ins Bett und es dauerte keine zehn Minuten, bis er einschlief. Ian lag auch immer mit dem Kopf zur Tür.

Irgendwann wurde in der kleinen Wohnung das Licht angemacht. Im Wohnzimmer hing keine Uhr und deshalb wusste Freya nicht, wie lange sie Zeit zum Schlafen gehabt hätte. Sie hörte, wie sich ihre Eltern in der Küche Frühstück machten. Die Filterkaffeemaschine blubberte und der kräftige Geruch drang durch die Küchentür, über den Flur, in das Wohnzimmer. Dazu knallten die Weißbrotscheiben aus dem Toaster. Freyas Mutter befürchtete, dass das Gerät bald den Geist aufgeben würde, deshalb sollten Freya und ihr Bruder es nicht benutzen. Die Neudrittklässlerin versuchte sich wieder in die Decke einzumummeln und wartete.

Sie wartete auf ihre Mutter. Wartete auf den Abschiedskuss. Doch das Licht in der Küche ging aus und die beiden Erwachsenen traten in den Flur des Mehrfamilienhauses. Sie stiegen die eine Treppe hinab. Vater Teutschwitz parkte weiter weg. Gemeinsam fuhren Freyas Eltern zur Arbeit. Dann überkam Freya die Müdigkeit und in dem Moment, in dem sie die Augen fest schloss, ging das Licht schon wieder an.

Ihr Bruder Ian hatte die Jalousie der Wohnzimmerglastür hochgezogen. Familie Teutschwitz besaß einen Balkon, der etwa einen Meter über dem Unkraut hing.

Ian rüttelte sie leicht und sagte ihr, sie solle sich anziehen. Freya tippelte in das Kinderzimmer. Sie sah, dass Ian die obere Hälfte des Hochbettes noch nicht neu bezogen hatte. Die Matratze lehnte am gekippten Fenster. Draußen sangen Vögel, obwohl in den umliegenden Straßen kaum Bäume standen. Gegenüber dem Hochbett stand ein Schrank, dessen untere Hälfte die Sachen von Freya beherbergte. Sie holte Unterwäsche und Socken heraus. Als sie auf einem Bein balancierte, um die linke Socke anzuziehen, stolperte sie beinahe über den gepackten Schulranzen. Das Zimmer war klein. Aber da sie noch keine Schulbücher bekommen hatten, war der Ranzen nicht sehr stabil oder schwer. Er gab zuerst nach und Freya durfte stehen bleiben. Dann zog das Mädchen sich eine alte Jeans von Ian an. Viele Sachen, die ihr gehörten, hatten früher Ian gehört. Der Ranzen auch. Freya hätte lieber einen violetten Schulranzen gehabt. So wie ihre Freundinnen. Doch ihrer war blau und mit Rennautos versehen, deren Scheinwerfer kleine Reflektoren waren. Sie wollte sich gerade ihr T-Shirt anziehen, als Ian in das Zimmer kam.

„Warte mal“, sagte er, „geh dich erstmal waschen.“

Gemeinsam gingen die Geschwister in das Bad. Ian zeigte ihr wie Katzenwäsche funktionierte. Dann ließ er sie noch Zähneputzen. Abwechselnd spuckten sie ins Waschbecken. Die Borsten von Freyas Zahnbürste standen wilder ab, als Ians blonde Haare und stachen leicht in das Zahnfleisch.

Ian und Freya hatten beide die gleiche Haarfarbe. Im Frühling war es ein helles Straßenköterblond. Wenn die Sonne normal schien, würden die Köpfe der Geschwister Mitte Oktober am Hellsten aussehen. Wenn der Winter kam, wurden sie dann wieder dunkler. Freya beobachtete, wie Ian Wasser an seine Haare klatschte. Dann setzte er sich die schwarze Mütze auf. Er trug sie fast immer im Haus und Draußen sowieso.

Die ramponierte Zahnbürste wackelte noch in dem ausrangierten Senfglas, als Freya und Ian sich an den Küchentisch setzten. Ian holte aus dem ausziehbaren Fach unter der Arbeitsfläche zwei Cornflakesschüsseln aus ehemals roter Plastik heraus. Man sah, dass sie ihre besten Jahre in der Mikrowelle hinter sich gelassen hatten. Die beiden Schüsseln stellte er auf die Arbeitsfläche, durch die ein langer Kratzer, hervorgerufen durch einen Stein unter einem Brettchen, lief. Aus dem Schrank darüber holte er eine Packung, oder wie Freya sagen würde „Pappung“, Nougatkissen hervor und eine rot-schwarze Dose, durch deren zerschrammten, durchsichtigen Deckel man Haferflocken sehen konnte. Erst füllte er die Schüssel zur Hälfte mit Haferflocken auf, um dann Nougatkissen hinzuzufügen. Ian stellte die Cornflakes zurück an ihren Platz. Danach öffnete er die Kühlschranktür.

Der Kühlschrank war kaputt und deshalb waren die Einlassungen an der Tür leer. Ian holte eine „Pappung“ Milch heraus, drehte an dem weißen Verschluss und roch daran. Sie schien in Ordnung zu sein. Als er die Milch in die Schüsseln goss, waren die einzigen Klumpen die Kissen. Freya hatte derweil die Löffel aus der Besteckschublade geholt. Ian erlaubte ihr, einen großen Löffel zu nehmen. Bei ihren Eltern durfte sie nur die kleinen Plastikexemplare benutzen, die es dazu gab, wenn man sich ein Schokoladenei zum Auslöffeln kaufte. Gemeinsam mit den großen Löffeln, machten sie sich über ihr Frühstück her.

In der Küche hing zwar eine Wanduhr, doch Freya half das nicht. Klar es war 7:00 Uhr, das konnte sie schon lesen, doch sie wusste nicht, wie sie es einordnen sollte. Ohne Ian würde sie bestimmt zu spät zur Schule kommen. Er passte auf sie auf. Ian wartete, bis seine kleine Schwester aufgegessen hatte. Nahm dann die Schüsseln und spülte sie ab. Während er mit dem gemusterten Tuch über die Plastik fuhr, schickte er die widerwillige Freya schon ins Bad. Sie wollte sich kein zweites Mal die Zähne putzen. Die Bürste tat weh und die Zahnpasta schmeckte fürchterlich.

In Freyas Grundschule war einmal eine Frau gewesen, die hatte ihnen gezeigt, wie man richtig Zähne putzte. Die Kinder sollten eine farbige Flüssigkeit trinken und erst, wenn alles weg war, hatten sie gut genug geputzt. Die Zahnpasta hatte nach Waldmeister geschmeckt. So eine Tube hätte Freya gern. Sie überlegte schon, ob sie nur so tun sollte, als ob, doch da stand Ian bereits neben ihr.

Wachsam schaute er ihr zu. Dann gingen sie aus dem Bad raus. Ian sprühte noch etwas Parfüm auf sein T-Shirt. Es war das Parfüm des Vaters und Freya rümpfte die Nase. Mittlerweile war es 7:10 Uhr. Ian und Freya zogen sich ihre Schuhe an. Freya brauchte keine Hilfe beim Schleifenbinden. Die Schuhe waren neu, sie hatte sie diese Sommerferien bekommen. Ian hob ihr den Ranzen hoch, dabei war er gar nicht schwer und Freya schlüpfte mit den dünnen Ärmchen durch die Tragelaschen. Die Protektoren am Rücken waren schon leicht zerrissen und faserten so wie der Schwamm aus, doch sie lagen eng an Freyas Oberteil an. Ians Ranzen war ein Rucksack und baumelte weit unten. Zwischen Rucksack und Rücken klaffte eine große Lücke.

„Hast du dein´ Schlüssel?“, fragte Ian. Freya nickte fleißig. Der Schlüssel war an einem langen schwarzen Band mit dem Aufdruck „4. Paulmander Stadtteilfest“ befestigt.

Paulmander war eines der neusten Viertel von Schaldstätten. Es lag ziemlich weit draußen. Um den Bokettoberg mit dem Aussichtsturm und dem Rosengarten, standen Altbauhäuser mit Geschäften. Das alles war vor der Eingemeindung eine eigene Stadt. Um den Berg herum herrschte viel Trubel und es gab zwei große Einkaufscenter. Die Nebenstraßen bestanden zunächst aus größeren Gebäuden und nördlich entstanden Einfamilienhaussiedlungen. Südlich des Bokettoberges erhoben sich Wohnblöcke. Ian konnte sich noch erinnern, wie es zwischen den großen Häusern Felder gegeben hatte. Für Freya war das zu lange her. Mittlerweile wurden auch immer mehr Häuser gebaut, die viel schicker aussahen, als das in dem die Familie Teutschwitz wohnte. Zwei großen Straßen zogen sich wie Halbringe durch Paulmander. An den Seiten des zweiten Ringes standen hauptsächlich Industriebetriebe, die von außen alle gleich weiß aussahen.

Das Haus, aus dessen Glastür Freya und Ian gingen, war grau und bis zur zweiten Etage mit Tags überzogen. Die Steinplatten, die den Gehweg bildeten, waren teilweise lose und Löwenzahn zeigte sich in den Lücken. Die meisten Blüten sahen schon lange nicht mehr gelb aus. Auf einer dieser Steinplatten stand ein Junge, der im selben Haus wohnte und mit Ian in eine Klasse ging. Alex war in diesem August dreizehn Jahre alt geworden. Beide Hände von Alex steckten in einer knallgelben Trainingsjacke. Kleine Fliegen sammelten sich daran. Eigentlich war es so warm, dass man keine Jacken benötigte. Alexanders Haare waren an den Seiten mit Mustern rasiert und oben stachelig nach oben gegelt. Er wartete auf Ians Befehl und die drei marschierten an zwei Hauseingängen vorbei. Vor der 38 blieben sie stehen. Die beiden Jungs schauten fragend zu Freya hinunter.

„Ich habe Patrick in den Sommerferien nicht gesehen. Wir haben uns nichts ausgemacht. Wir müssen nicht warten.“

Patrick Schmidt wohnte im Kleinhauerweg 38 und war Freyas Sitznachbar. Seit der ersten Klasse. In den letzten Sommerferien hatten sie noch viel unternommen. Dieses Jahr nicht. Patrick war am Anfang zwei Wochen nach Kroatien gefahren. Dann war er nicht mehr rübergekommen. Alex nickte mit seinem kantigen Schädel. Alexander hatte ein Gesicht, dass schon sagte: „Wenn du mich haust, tut es eher dir weh als mir.“ Freyas Vater würde von einem Russenschädel sprechen.

Am Ende des Kleinhauerweges bogen die Schüler nach links ab. Für Fahrzeuge war die Straße eine Sackgasse, doch hinter dem letzten Wohnhaus gab es einen kleinen Trampelpfand. Die Stadt hatte die Büsche an den Seiten im Sommer geschnitten und so passten mit Ian und Alex zwei Siebtklässler nebeneinander durch die Schlippe. Freya trottete hinterher. Sie hielt sich an ihrem Ranzen fest. Sie kamen auf den Fußweg des zweiten Ringes raus. Busse und LKW fuhren über den neuen Flüsterasphalt, der die Geräuschkulisse reduzierte. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um auf den Gehweg zu scheinen. Die Industriegebäude auf der rechten Seite warfen ihre Schatten auf die Fußgänger, unter denen sich auch einige andere Schüler befanden. Sie passierten die U-Bahnstation „Paulmander Ring“. Hier fuhr die U6. Es handelte sich um eine der letzten Stationen. Danach kam nur noch der „Bokettoberg“ und „Paulmander Nord“. Die Station hatte zwei Treppen. Eine, die direkt auf den Ring führte und eine andere, die sich hinter der umzäunten Freifläche befand. Die Freifläche war eine der letzten im Viertel. Früher wurde sie als Abenteuerspielplatz genutzt. Es gab zwei große Bäume, die früh in ihrer Wachstumsphase gebrochen worden. Deshalb führte kein gerader Stamm nach oben, sondern viele Kleine. Ein wahres Kletterparadies. Jetzt waren die Bäume gefällt, dafür hatten die Disteln eine ähnliche Höhe, sie boten allerdings erheblich weniger Kletterspaß. Gegenüber der Fläche stand die Mycathie-Akihi-Realschule. Direkt dahinter, die Tuhlmspatz-Grundschule-Schaldstätten.

Der Tuhlmspatz war eine Sagengestalt, schon bekannt, als Paulmander noch ein Dorf war. Den Geschichten nach wohnte er im Fluss Tuhlm, der nördlich des Bokettoberges verlief und im Hafen von Schaldstätten, kurz vor dem monumentalen Glaskino in den großen Fluss floss. Im Winter grub sich der Tuhlmspatz in das Flussbett ein und sorgte so dafür, dass kleine Erdbrocken in das Wasser fielen, deshalb mäanderte der Tuhlm so stark. Die Dorfbewohner wollten das nicht und fragten den Tuhlmspatz, ob er das nicht lassen könnte. Der Tuhlmspatz schlug einen Handel vor. Jedes Jahr zum Erntedankfest sollten ihm jeweils das klügste, das kräftigste und das schönste Kind von Paulmander eine Gabe an sein Heim bringen. Wenn die Kinder das täten, würde er den Tuhlm wieder begradigen. Und so setzten sich die Bewohner jedes Jahr, kurz vor dem Erntedankfest, zusammen und suchten das klügste Kind, sie suchten das schönste Kind und sie suchten das stärkste Kind. Das ging so lange gut, bis eine Familie der Meinung war, ihr Kind sei nicht nur das Schönste, sondern auch das Klügste. Und sie stritten und sagten, schimpften und fluchten. Die anderen Dorfbewohner waren sich nicht sicher, ob der Tuhlmspatz das erlauben würde. Die Älteren waren vehement dagegen. Sie konnten sich noch an die Überschwemmungen und an die mühsame Arbeit an den Uferverläufen erinnern. Jetzt war es viel leichter mit den Flößen in den großen Fluss zu fahren und die Felder waren klar abgegrenzt. Sie wollten es sich nicht mit dem Tuhlmspatz verscherzen und so versuchten sie die Jüngeren zu überzeugen. Doch es gab nicht mehr so viele Alte, die sich noch an die schlingrigen Zeiten erinnern konnten. Die Jungen waren in der Überzahl und die Jungen hielten es für normal, dass alles gerade lief. Die Meisten von ihnen glaubten noch nicht einmal, dass es den Tuhlmspatz wirklich gab, deshalb ließen sie es zu, dass ein Kind zugleich das Schönste und das Klügste genannt wurde. In diesem Jahr wurden nur zwei Gaben an den Fluss gelegt und im Winter trat der Tuhlm wieder über die Ufer. Die Paulmanderer waren erbost. Die Familie, die ihr Kind zwei Plätze hat einnehmen lassen, wurde geächtet. Im nächsten Jahr wurden wieder drei Kinder ausgewählt und jedes von ihnen trug zwei Körbe mit Ernteerzeugnissen.

Ian, Freya und Alex schritten die Treppe zu der U-Bahnstation hinunter. Sie hätten auch um die umzäunte Freifläche herum gehen können, doch das hätte länger gedauert. Der Tunnel war lang und Freya, obwohl sie ihn gut kannte, recht unheimlich. Sie beeilte sich, um den Abstand zu ihrem Bruder nicht zu groß werden zu lassen. Als sie wieder an das Tageslicht kamen, trennten sich die Wege der Geschwister. Freya musste, wenn sie zu der Grundschule wollte, entlang einer Mauer hinter das große Schulgebäude laufen. Sie wollte ihren Bruder umarmen, doch unterdrückte den Impuls und ging winkend hinter den anderen Grundschülern her. Sie sah Neslihan und John, die sie beide sehr mochte und die hinter ihr saßen. Als sie sie einholte, waren Ian und Alex schon außer Sicht. Alex hatte eine Armbanduhr mit einem grüngelben Stoffband und sagte Ian, dass es 7:25 Uhr sei. Die Schüler standen schon dicht gedrängt vor dem Schuleingang. Die Glastüren waren aufgeschlossen, doch man durfte erst in fünf Minuten hinein gehen. Seitlich der Treppe befand sich ein Fahrradständer, an dem eine Gruppe Zehntklässler stand und rauchte. Der Platz vor dem Haupteingang war klein und wurde durch den Bauzaun begrenzt. An der anderen Ecke des Zaunes, führte eine Straße auf den kleinen Platz. Fahrräder und Elterntaxen fuhren dort. Es war schon oft zu kleinen Unfällen gekommen. Die Masse der Wartenden wurde größer und sah von oben aus wie ein Pfeil. Um die Fassade der Schule stand auch ein Bauzaun. In abwechselnden Entfernungen, von fünfzig Zentimetern bis zu zwei Metern. Aus der Plattenfassade der Mycathie-Akihi-Realschule fielen Steine heraus. Es klingelte und die Türen wurden geöffnet. Die Schüler drangen hinein. Die Schule erstreckte sich über vier Etagen und hatte die Bauform eines Rechtecks, in dessen Mitte der Schulhof lag. Treppenaufgänge gab es an den Stirnseiten.

„Hast du den Stundenplan?“, fragte Ian.

„Klar, der ist gestern online gegangen“, sagte Alex.

Weder Ian noch Freya besaßen einen Laptop oder ein Handy.

„Wo haben wir? Was haben wir?“

„Deutsch, 401“, antwortete Alex.

Ian wäre ohne Alex von den ausgehängten Zetteln im Glaskasten abhängig gewesen und vor dem sammelten sich gerade eine Menge Schüler.

Die Schule hatte Räume auf beiden Seiten, dadurch sahen die Gänge sehr dunkel und eng aus. Eine senfgelbe Farbe sollte das vertuschen. Alex und Ian quetschen sich durch die Ranzenmassen. Matthias, der von den deutschen Jungen nur bei seinen Nachnamen Schlagmann gerufen wurde, traf beim Treppenabsatz zu ihnen. Dass er ein Jahr älter war als die beiden, konnte man nicht erkennen. Die Jungs klatschen ein, rutschen dann mit der Handfläche zu einer Faust und ließen die Finger kurz gegeneinander fallen. Ian ging als erster die Treppe hoch. Oben warteten seine Klassenkameradinnen Vivien und Tania. Die beiden waren seit den Sommerferien beste Freundinnen und erzählten das, als sie Ian zur Begrüßung umarmten. Ian war größer als Schlagmann und Alex. Vor den Sommerferien war auch größer als Vivien gewesen. Sie war mit ihren Eltern in die serbische Heimat gefahren. Dort war sie größer und brauner geworden. Tania war weiterhin klein und weiß wie ein Toastbrot. Dafür schminkte sie sich schon stark. Der rote Lippenstift hob sich deutlich von der hellen, leicht pickligen Haut ab. Tania Jentzsch trug ihre schwarzgefärbten Haare kurz. Nette Menschen würden von einer feschen Kurzhaarfriseur sprechen, die 7a war da deutlich primitiver und sagte „Lesbenfrise“. Vivien trug ihre braunen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz. Die Babyhaare fielen ins lächelnde Gesicht.

Alex und Schlagmann standen hinter Ian und warteten darauf, ob sie von Vivien und Tania auch umarmt werden würden. Die beiden Mädchen machten aber dahingehend keinerlei Anstalten, sondern gingen die zweite Treppe hoch. Viviens Hose war kurz. Viviens Eltern hatten sie abgenickt. Viviens Eltern liefen allerdings auch nicht hinter ihrer Tochter eine Treppe hoch. Ian hingegen schon. Er versuchte nicht auf die herausfallenden Pobacken zu schauen.

Letztes Jahr gab es einen großen Streit unter den Mädchen, der sogar im Stuhlkreis diskutiert wurde. Vivien Radokc hatte einen Freund, aus der damaligen achten Klasse und wurde von der Mädelsgruppe um Elen Civelek als Schlampe bezeichnet. Dann gab es eine Phase, in der die deutschen Mädchen, Vivien gehörte als Serbin scheinbar auch dazu, die türkischen Mädchen provozieren wollten, in dem sie sich freizügiger anzogen. Angeblich zumindest. Während Ian an der Tür des Raumes 401 stand und auf den Sitzplan schaute, dachte er an diese Wochen zurück und erinnerte sich, dass er erst etwas davon mitbekommen hatte, als sie im Stuhlkreis saßen.

Der Sitzplan war gleichgeblieben. In den meisten Räumen waren die Tische zu einem „U“ geformt. Es gab auf beiden Seiten jeweils zwei weitere Tische, die in der Mitte standen. Ian saß in der Wandreihe und Vivien direkt vor ihm, auf einem der mittigen Plätze. Alex saß einen Platz versetzt hinter Vivien in der letzten Reihe und Matthias rechts daneben. Neben Schlagmann saß der schlaksige Franz Timbherg. Sein Adamsapfel tanzte auf Höhe des Kinns. Er saß schon da und begrüßte seine Freunde. Franz hatte den letzten Platz, der einen geraden Blick auf die Tafel zuließ. Ian musste seinen Kopf immer nach rechts drehen, doch er war noch besser dran als seine linke Banknachbarin.

Das war Lena Kraft. Eingeengt zwischen Ian und Franz saß Lena, die, nach einhelliger Meinung, eines der hübschesten Mädchen aus der Klassenstufe war. Dabei war sie noch eine der Jüngsten und würde erst im Mai dreizehn Jahre alt werden. In der 7a gab es einige Schüler, die sitzen geblieben waren oder schon im Sommer Geburtstag hatten. In den letzten Wochen des vorangegangenen Schuljahres hatte sich eine Beziehung zwischen Ian und Lena angedeutet. Am letzten Schultag hatten sich die beiden geküsst. Für Ian und Lena war es der erste Kuss auf dem Mund des anderen Geschlechts seit dem Kindergarten gewesen. Dementsprechend freudig schaute Ian auf, als die Klassenschönheit durch die Tür trat und sich mit vielen Umarmungen einen Weg durch die Wandreihe freischaufelte. Die blonden Haare hatte sie eng an die Kopfhaut geflochten und zwei Zöpfe hingen in ihrem Nacken. Das weiße Top hatte an den Ärmeln, am Hals und am unteren Rand Elemente aus Spitze. Dazu trug Lena eine braune Stoffhose, die weit über ihren Knöcheln endete.

Ian wollte seine Coolmanrolle einnehmen, doch er grinste, wie ein Hund, der, nachdem ihm das Halsband abgenommen wurde, schwanzwedelnd im Flur saß und wusste, dass es gleich aus der schwarz-roten Verpackung in der Speisekammer einen Hundekeks geben würde. Entsprechend enttäuscht schaute Ian drein, als Lena an ihm vorbeilief und Franz, Matthias und Alex umarmte.

Das konnte er nun überhaupt nicht verstehen. Klar, Franz war okay. Franz konnte sie umarmen, die kannten sich auch schon lange und waren auch Sitznachbarn. Aber Schlagmann und Alex? Die wurden nie umarmt und erst recht nicht vor Ian. Doch Lena ignorierte ihn weiter und quetschte sich auf ihren Platz. Die Nähe, die Stuhlbeine berührten sich, nahm der Geste etwas die Wirkung, doch Ian fühlte sich trotzdem schlecht.

„Is´ was?“, fragte Ian, während er den knarzenden Stuhl zurückzog, um sich auf die zerkratzte und ausgediente Sitzfläche zu fläzen.

„Nö“, sagte Lena und holte aus ihrer Tasche die Stiftebox und einen Collegeblock heraus. Ihren Ranzen aus dem letzten Jahr hatte sie gegen eine große Umhängetasche mit Reißverschluss eingetauscht. Ian bezweifelte, dass da alle Bücher reinpassen würden und er zweifelte auch an Lenas Antwort.

„Wir war´n deine Ferien?“

„Gut.“

Lena beließ es dabei. Dann kam Frau Lärmer-Nilmarch, die immer nur Frau Lärmer genannt wurde, in den Raum 401, schmiss ihre Ledertasche auf den einzigen gepolsterten Stuhl und legte zeitgleich mit dem Klingeln ihre beringte Hand auf den Lehrertisch.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde trugen die Lehrer an der Akihi-Realschule Namensschilder. Als wäre es nicht schon schwer genug in einer lauten, mit dreißig Schülern übervollen siebten Klasse Autorität auszustrahlen. Das Namensschild ließ die Deutschlehrerin wirklich lächerlich aussehen. Zumal dort auch nur „Frau Lärmer“ stand. Ein Kollege hatte das verbockt. Dabei war es ihr wichtig bei ihrem vollen Namen genannt zu werden. Das erwartete sie auch von ihren Schülern, das Namensschild war da keine große Hilfe. Sie hatte leider auch keine große Stimme, wenn sie lauter werden wollte, überschlug sie sich und das hörte sich sehr albern an. Deshalb hatte Frau Lärmer-Nilmarch sich für eine sehr leise Sprechweise entschieden. Fast flüsternd erklärte sie die ganzen organisatorischen Dinge, die zu Beginn eines neuen Schuljahres geklärt werden mussten. Sie wurde dabei immer wieder vom Klopfen an der Tür unterbrochen. Nach dem dritten Schüler, der zu spät kam und gegen die Tür hämmerte, ließ sie sie einfach offenstehen. Im Raum 401 gab es keine freien Stühle mehr und deshalb wurde der Kartenständer zum Türstopper umfunktioniert. Es waren schon fünfzehn Minuten der Unterrichtszeit verstrichen, als mit Adem der letzte Schüler, durch die nun offene Tür, kam. Letztes Jahr war sein Platz noch in der letzten Reihe gewesen, doch er wurde von Frau Lärmer, die auch gleichzeitig die Klassenlehrerin der 7a war, nach vorne in die Mädchengruppe gesetzt. Wie ein Gockel saß er da, umgeben von Elen, Gülsah, und Aiyln in der Fensterreihe. Jetzt kam Frau Lärmer zum Thema Bücher. Die Klasse wurde in drei Gruppen aufgeteilt und sollte sich die Schulbücher aus dem Bücherraum holen. Die erste Gruppe war die komplette Wandreihe, mit den dazugehörigen mittleren Plätzen. Lena stand schnell auf. Sie wollte vor zur Tür, konnte aber zwischen sich und Ian nur SS-Sveni bringen. SS-Sveni hieß mit Vornamen Silvio-Sven. Seinem Vater war die Konnotation sehr wohl bewusst. Hätte der Junge, der nun hinter Lena wartete, weil der dicke Leroy es nicht schaffte aufzustehen und die anderen sich stauten, mit Nachnamen Bauer, Müller oder Michl geheißen, so wäre sein Spitzname wahrscheinlich SS-Müller und so weiter geworden. Aber Silvio-Sven hieß mit Nachnamen Aé und daraus konnte man nun wirklich gar nichts machen. Als Leroy es endlich geschafft hatte, seine Rundungen aus der Umklammerung des Stuhles zu lösen, drängten die Schüler aus dem Raum, wie Sprudel aus einer geschüttelten Flasche. Lena machte weiter Plätze auf Ian gut, der an der Tür mit einer generösen Geste Vivien den Vortritt ließ. Das junge Mädchen machte einen Schritt aus der Tür und drehte sich dann im Flur auf, so dass sie neben Ian laufen würde. Im Gang war es schon sehr laut. Eigentlich war die Einteilung so, dass die Klassen sich abwechselnd die Bücher holen sollten. Doch den Geräuschen nach, waren wohl alle Schüler auf den Beinen. Bei einem Probefeueralarm gelang das selten.

„Es ist wohl Ärger im Paradies?“, fragte Vivien. Sie mussten an einer der Feuerschutztüren warten. Logischerweise hatten diese Türen einen Holzrahmen. Doch der Umstand, dass sie nur mit dem Kraftaufwand von fünf Siebtklässlern geöffnet werden konnten und deshalb spätestens ab dem zweiten Schultag immer sperrangelweit offenstanden, indem sie mit dem Metallhaken in der Öse befestigt wurden, machte sie noch obsoleter.

„Nein, alles paletti“, antwortete Ian ausweichend.

Auch wenn er Vivien mochte, wusste er, dass es keine gute Idee wäre, mit ihr über solche Sachen zu reden.

Lena hatte mit Vivien geredet. Sie hatte sich bei ihr beschwert, dass Ian ihr einfach nicht schrieb. Es kotzte sie schon an, dass er ihre Bilder auf SchülerCC nicht kommentierte. Ian hatte immer eine fadenscheinige Ausrede parat, von wegen; kein Handy, keinen Computer und so einen Mist. Ihrer Meinung nach sollte er dann einfach mal den Mut haben, seine Eltern zu fragen. Konnte ja nicht so schwer sein. Unter strengster Geheimhaltungsvereinbarung hatte Lena Vivien das alles erzählt.

Lena war schnell mal eingeschnappt, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit bekam, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Und sie hatte mit viel mehr Aufmerksamkeit seitens Ian gerechnet, gerade nach dem Kuss.

Etwa eine Viertelstunde von der U-Bahnstation „Paulmander Nord“ entfernt, nah des Bokettoberges, gab es einen See, an dem die Schüler traditionell den Nachmittag ihres letzten Schultages verbrachten. Letztes Jahr waren Ian und Lena dafür noch zu klein gewesen, deshalb stromerten sie stattdessen in den schmalen Gassen am Bokettoberg herum und setzten sich irgendwann an das Ufer des Tuhlm. In dem kleinen Park gab es mehrere Bänke, meist waren sie von Rentner besetzt. Die hatten immer Zeit. Doch an diesem Tag schienen Ian und Lena Glück gehabt zu haben.

Lena hatte für sich und Ian jeweils einen griechischen Joghurt gekauft. Der Vater ihrer Mitschülerin Maria führte ein Restaurant. Es befand sich in dem Keller des älteren Einkaufcenters. Früher sah dieses Gebäude fremd zwischen den Altbauhäusern des Außenbezirkes aus. Doch nun hatten Häuser dieser Art die Vorherrschaft in Paulmander errungen.

Den Joghurt aßen sie mit einem kleinen Löffel, den Freya verächtlich weggeschmissen hätte.

Etwa bei der Hälfte, ein Kanu zischte gerade an ihnen vorbei, fragte Lena Ian, ob er sie küssen wollte. Es war so unromatisch, aber auch so kindlich einfach gewesen. Ian hatte zwar gar keine Ahnung, doch nutzte die sich ihm bietende Chance. Er nahm Lenas schmale Hand, an der sie ein Armband trug, das zu ihrem Halsschmuck passte. Dann zog er an der Hand und ihre Schulter fiel nach vorn. Schnell beugte sich Ian zu ihr und küsste sie auf die kalten Lippen, die nach Apfel schmeckten.

Lena kicherte.

„Das musst du anders machen“, so hatte sie es zumindest in Zeitschriften gelesen, die ihre Mutter und ihre große Schwester lasen. Sie nahm sich Ian und streckte etwas zu früh ihre Zunge heraus. Der Belag war vom Essen weiß. Im Mund von Ian wusste sie dann aber auch nicht, was sie machen sollte und so fühlten sich die wenigen Sekunden ziemlich lang an. Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten, aber irgendwie doch ganz schön. Irgendwie doch ganz okay. Lena fragte sich, ob sie jetzt erwachsen wäre.

Den letzten Teil hatte sie Vivien nicht erzählt, den ganzen Rest hingegen schon. Und Vivien hatte es Tania erzählt und das erklärte, weshalb Tania und Lena die Köpfe zusammensteckten, als sie die Treppen hinunter gingen.

Vor dem Bücherraum stand eine Schlange, die noch aus etwa sechs Schülern bestand. Frau Giebenrath teilte die Bücher aus. Die Schüler mussten den Empfang, so wie absurderweise den einwandfreien Zustand der Bücher bestätigen. Die Schimmelflecken, die herausgerissenen Seiten und die aufgemalten Hitlerbärtchen existierten dann für ein Jahr nicht mehr. Erst bei der Bücherrückgabe tauchten sie wieder auf. Ian bekam seinen Stapel und sah, dass der Haufen größer war als letztes Jahr. Während er Vivien die dicksten Bücher abnahm, fragte er sich, wie Lena die ganzen Bücher nachhause tragen wollte. Würden sie überhaupt in ihre Tasche passen?

Frau Lärmer-Nilmarch schickte die letzte Reihe zum Bücherholen. Danach erklärte sie, dass die Bücher eingeschlagen werden sollten. Ian blätterte die erste Seite seines Deutschbuches auf. Dabei fragte er sich, ob einer seiner fünfzehn Vorgänger das Buch eingeschlagen hatte. Der Unterricht war fast vorbei, als endlich alle wieder oben waren. Ahmet schaute auf seine Vorgängerliste und haute seinem Kumpel Deniz mit einem Neandertalergrunzen auf den Rücken.

„Höhö, isch hab´ Riccardas.“

Deniz zog an Ahmets Mathebuch. Er wollte nachschauen. Riccarda war aus der Neunten und deshalb ein Thema, weil sie Melonen hatte, die größer waren als Leroys Bauch.

„Pfff“, schnaubte Lena verächtlich, „die mit ihrem ekligen Atombusen. Wie kann man so was nur geil finden.“

„Ja stimmt“ und „Mhmmhm“, nickten Schlagmann und Franz eilig. Das waren zwei Ja-Sager vor dem Herrn. Schlagmann, weil er sich einschleimen wollte und Angst hatte, nicht mehr bei den Coolen sein zu dürfen und Franz, weil er mit seinen überlangen, überdünnen Gliedmaßen nicht nur wie eine Marionette aussah, sondern sich auch wie eine verhielt. Franz schien keine Meinung zu irgendwas zu haben. Lena schaute Ian an und wartete, ob er ihr zustimmte. Schlagmann und Franz schauten ihn genauso an, da er es eigentlich war, der die Befehle gab und die beiden nun unsicher waren, auf wenn sie hören sollten. Frau Lärmer-Nilmarch, die hier eigentlich die Chefin sein sollte, beendet einen Tick vor dem Gong die Stunde. Mit einem Mal rückten alle Stühle über den Linoleumboden, der von der Kippelei Dellen und von den schwarzen Gumminoppen Striemen hatte.

Sie hatten fünf Minuten, um vom Raum 401 zum Raum 213 zu gelangen. Auf den vollen, schmalen Gängen dauerte das ewig. Für Toilettenbesuche war keine Zeit. Bei Frau Szchemanek, der Englischlehrerin, wollte wirklich niemand zu spät kommen, denn sie konnte ein Drache werden. Allerdings wollte man bei ihr auch nicht auf die Toilette müssen. Ian fand es schon demütigend genug, andere um die Erlaubnis fürs Pissen zu fragen, aber bei Frau Szchemanek konnte man sich das gleich sparen. Nie im Leben würde sie ein Verlassen des Unterrichtsraumes für so einen irrelevanten Grund erlauben. Naja, wenigstens war sie konsequent, denn Trinken durfte man bei ihr auch nicht. Ahmet Ezzedine hatte es einmal versucht. Sie hatte ihn nach vorn zur Tafel geholt, auf Englisch ermahnt und gleich mal mündlich drangenommen. Ahmet war in Englisch eine Niete, nicht einmal die Fragen hatte er verstanden. Die Note Fünf hatte Frau Szchemanek auf Deutsch ausgesprochen. Klar, deutlich und deutsch. Dabei hätte Ahmet dieses Zahlwort ausnahmsweise gekannt, da er den Großteil seiner Schulzeit damit verbrachte, mit seinem Sitznachbarn Deniz „High Fives“ einzustudieren.

Auch der Raum 213 ordnete die Tische in einer U-Form an. Allerdings waren hier die Abstände zur Wand größer. So konnte Ian ein paar Zentimeter zurückrutschen und Lena den Blick auf die Tafel gewähren. Als Frau Szchemanek fünf Minuten nach dem Klingeln, bei ihr war das kein Thema, in den Raum kam, war die Tafel noch leer. Da war es auch kein Problem, dass Lena wenig sehen konnte. Doch Frau Szchemanek schaffte es stets in einer atemberaubenden Geschwindigkeit die Tafel mit ihrer großen, aber schiefen Schrift vollzuschreiben. Dabei redete sie unentwegt und ausschließlich auf Englisch, während die Metallhalterungen, in denen sie die Kreide steckte, damit sie keine schmutzigen Hände bekam, wie in einem Comic über die grüne Tafel flogen. Dann bekam Lena meist ein Problem, denn für so etwas war eine U-förmige Sitzordnung Mist, egal wie sehr Ian rutschen würde. Die Wandreihe und die Fensterreihe beugten sich, aufgereiht wie Orgelpfeifen, nach vorn. Jeder Schüler ein Stück weiter als sein Sitznachbar. Und die, die ganz hinten saßen, hatten dann ein wirkliches Problem. In der Wandreihe war das Lena und ihr gegenüber saß der zweite Alex. Zu Alex´ Vorteil befand sich die Tafel nicht mittig, sondern im rechten Drittel der vorderen Wand. Links daneben stand der Lehrertisch mit dem blau gepolsterten Stuhl und der Polylux, für den auf der Wand eine weiße Projektionsfläche angebracht war. Links oben und unten hatte diese Fläche braungrüne Flecken, die von einer legendären Weintraubenschlacht herrührten. Da die Tafel nicht in der Mitte angebracht war, musste die Fensterreihe nicht wahnsinnig viel an ihrer Sitzposition ändern. Lena in der Wandreihe konnte allerdings nur etwas erkennen, da Ian den freien Platz in seinem Rücken ausnutze und wirklich, wirklich weit zurückrutschte. Er schaute durch die Lücke, die SS-Sveni und Tania bildeten. Lena beugte sich weit nach vorn und drehte ihren Kopf knapp über der Tischfläche. Franz war groß genug, der konnte über sie hinüberschauen. Jetzt in der ersten Stunde nach den Ferien waren die Schüler noch zu Verrenkungen bereit. Aber nach zwei Wochen war das vorbei.

Die allerbesten Plätze hatten Jale und Alparen, die an den Spitzen der Reihen und damit mit dem Lehrertisch auf einer Höhe saßen. Sie konnten immer alles erkennen. Egal ob es die seit fünf Jahren beschädigte VHS-Kassette aus dem Biounterricht war, in der Markus erklärte, dass das Mitochondrium das Kraftwerk der Zelle sei oder die schiefe Schrift von Frau Szchemanek. Dazu wurden sie auch nie drangenommen. Lehrerunabhängig. Sie wurden einfach übersehen.

Ian hatte da nicht so viel Glück. Dabei hätte er das gerade in diesem Fach gebraucht. Englisch war nicht so sein Ding. Wenn er am Platz drangenommen wurde, konnte er auf die Hilfe von Lena vertrauen, die in Englisch ein Ass war und sich für die viele Hilfe, die Ian ihr in den naturwissenschaftlichen Fächer gab, revanchieren wollte. Nun war es allerdings einfacher, das richtige Ergebnis einer Berechnung ins Ohr zu flüstern, als einen kompletten Satz. Lena gab aber trotzdem ihr Bestes. Sie hatte eine leise, hohe Stimme, die Frau Szchemanek nicht hörte und so konnte sie Ian ein paar Vokabeln in den Mund legen, auf die er selbst nicht gekommen wäre. Leider tendierte Frau Szchemanek immer mehr dazu, die Schüler aufstehen zu lassen. Da war das Vorsagen schon schwieriger und wenn sie vor zur Tafel geholt worden, war alles vorbei. Ian war froh, dass er keine Uhr hatte. Sonst hätte er aller paar Sekunden drauf geschaut. Die Zeit wäre dann noch langsamer verstrichen. Auch die Uhr, die über der Tafel hing und den Glockenturm mit dem Big Ben als Hintergrund hatte, zeigte schon lange nichts mehr an. Die Batterien waren wohl das letzte Mal an dem Tag ausgetauscht wurden, an dem Markus seine Biotipps aufgenommen hatte.

Ian war niemand, der wahnsinnig viel mitschrieb. Das lag zum einem an seiner Hefterlimitierung, er musste sie nämlich zwei Jahre lang benutzen und zum anderen an seiner Art Notizen zu machen. Ein Satz wie: „Der Vorsitzende der Partei für soziale Gerechtigkeit Özer Sahin betonte auf dem Bundesparteitag am 20.April ein weiteres Mal, dass er das Grundeinkommen als das zentrale Thema seiner politischen Arbeit und als das entscheidende Ziel seiner potentiellen Regierungsverantwortung ansieht.“ wurde in Ians Notizen höchstens zu einem: „Vs PSG AH-Bday Grundeink. wichtig.“

Damit und mit seiner Art, aus zwei Kästchen drei Zeilen zu machen, hatte er sich schon oft Ärger eingefangen. Er verstand ja, dass er bei Arbeiten ein Kästchen frei lassen sollte, aber weshalb es Lehrer interessierte, wie er in seinem eigenen Hefter schrieb, würde er nie verstehen. Es stimmte auch nicht, was sie sagten.

„Mit diesen Notizen wirst du dir nie etwas merken.“

„Wenn du nächste Woche in deinen Hefter schaust, verstehst du das nicht mehr.“

„Mit so einer Arbeitseinstellung wirst du später Probleme bekommen.“

„Wenn du nächstes Schuljahr in deinen Hefter schaust, verstehst du das nicht mehr.“

Es stimmte alles nicht. Ian reicht das als Merkstütze. Er hatte schon ein paar Mal gesagt: „Wenn die sich andere Notizen machen, ist doch cool, soll´n mir nicht auf´m Sack gehen, mit ihren fucking Muschigehabe.“

Sein Englischhefter war aber fast immer leer. Die Sätze an der Tafel schrieb er manchmal ab, ab er wusste nie, ob sie wichtig waren oder nicht. Meist griff er den Kugelschreiber, der würde ihm zumindest keinen Ärger mehr einbringen, denn ab der Siebten musste kein Füller mehr benutzt werden und kritzelte auch etwas auf sein Blatt.

Für einen Jungen in seinem Alter hatte Ian eine recht schöne Handschrift.

Die Größe allein ist ja nicht entscheidend.

Die Kanten waren hart und klar, doch das passte zu der bemerkenswerten Eigenschaft die Linie halten zu können. Auch auf einem weißen Blatt würden alle Buchstaben auf einer Höhe sein. Und die Haken der „g“s und „f“s und „j“s würden alle auf einer Ebene liegen. Auch sahen Ians Buchstaben immer gleich aus, da gab es keinerlei Varianz. Die Findungsphase war Mitte der zweiten Klasse abgeschlossen. Es würde sich nichts mehr ändern. In all den noch kommenden Jahren, würde sich das Wesen der Buchstaben wandeln, ihr Innerstes sich färben, doch die Haut, die hart und stramm, wie eine Rüstung über die Formen gelegt war, änderte sich nie. Das „A“, welches am Anfang stand und mit dem die Einleitung des Deutschaufsatzes begann, würde genauso so aussehen, wie das „A“, mit dem das Schlusswort auf der achten Seite begann.

Ians Schrift war so klein, dass der abgerissene Zettel, der von Vivien zu Ian zu Lena und wieder zurückwanderte, für die ganze Stunde ausreichen würde. Eigentlich brauchten die drei keinen Zettel, um sich im Unterricht zu unterhalten. Normalerweise war es so laut, dass sie auf Briefe nicht angewiesen waren. Doch bei Frau Szchemanek musste man aufpassen. Diese Frau wartete nur darauf ein Fish&Chips-Feuer ausspeien zu können.

Vivien schrieb: „Kennt ihr den neuen Geolehrer?“

Ihre Buchstaben hatten die, für Mädchen typischen, Verschnörkelungen. Ihr „K“ sah aus wie Roter Klee, der neben dem Handtuch, auf dem man sich gerade sonnte, hervorlugte und seine grünen Blätter in der leichten Brise wog. Wind, der die zarten Wassertropfen von der warmen, sonnengebräunten Haut kullern ließ. Wenn man sich zur Seite drehte, konnte man sehen, wie die Sonne Regenbögen unter den Wassertropfen erscheinen ließ und man konnte den roten Nektar des Klees riechen. Unter der Pflanze war Erde, die trotz der strahlenden Sonne feucht war und sich nicht wie Sand anfühlte.

Das „K“ eines Ians sah aus wie der Backstein einer gepflasterten Fläche, bei der man sagte: „Jo, hier kann ich meinen Sonnenschirm aufstellen. Hier ist es stabil.“

Ian hatte noch nicht von dem neuen Lehrer gehört, allerdings hatte er ja auch noch nicht gewusst, dass sie heute Geographie haben würden.

Lena schrieb: „Ne, kenn ich auch nicht.“

Jedes „N“ sah anders aus und es war der letzte Wortwechsel auf diesem Zettel, der für Außenstehende Sinn ergeben hätte. Es klingelte wieder. Frau Szchemanek rief in das Durcheinander die Hausaufgaben herein. Wieder auf Englisch. Ian nahm das gar nicht wahr. Er hielt es für eine Verabschiedung. Die Klasse versuchte schnellstmöglich in den Physikraum zu gelangen. Das war mit den vielen Büchern eine Herausforderung. Zwölfjährige sind in der Regel richtige Luftpumpen. Der Physikraum lag direkt unter ihnen und war ein Fachraum mit klassischer Anordnung, der aber nur mit einem Lehrer betreten werden durfte. Zügig wurden die Taschen hingestellt, Lena und Ian saßen hinter Tania und Vivien und dann wurden sie auf den Hof gescheucht. Ian schnappte sich noch schnell einen Stift.

Neben dem Glaskasten lag der Eingang zum Pausenhof. Der Durchgang von draußen nach drinnen nach halbdraußen war unterbrochen von Plakatwänden aus Kork, an denen Schülerarbeiten hingen. Die ersten fünf Jahre waren für die Kunstobjekte die schwierigsten. Doch wenn sie fünf Jahre dort hingen, bekamen sie einen Altersschutz, der sie vor Schmierereien bewahrte. Zwischen den Plakatwänden, die am Morgen manchmal umfielen, da die Schrauben an den Füßen locker waren und die hereinströmenden Schüler wenig Rücksicht nahmen, war ein kleiner Ständer, dessen Legierung abblätterte. Dieser Ständer hatte einen Korb, in dem der „Spießer“ und kostenlose Hausaufgabenhefte lagen. Sie waren viel dicker als die Exemplare, die man im Laden kaufen konnte, da auf jeder zweiten Seite Werbung für und von Schaldstättener Betriebe gedruckt war. Ian nahm sich so ein Hausaufgabenheft, dann stellte er sich an den Glaskasten. Er suchte seinen Klassenstundenplan. Auf dem schwachgedruckten Papier konnte er erkennen, dass er heute noch Gemeinschaftskunde und eine Doppelstunde Geographie haben würde. Das hieß, er würde heute um 13:25 Uhr Schluss haben. Hinter dem Fach standen der Raum und dahinter der Name des Lehrers. Ian erkannte, dass er viele Neue bekommen hatte. Während Ian das alles in sein Heft eintrug, wurde er von der Seite angesprochen. Zuerst hörte Ian das Klappern des Schlüsselbundes und er wusste, dass es sich um einen Lehrer handeln musste.

„Was machst du hier?“, fragte die Person neben Ian. Der schaute noch nicht hoch.

„Hallo, ich rede mit dir!“ Ian wurde auf die Schulter getippt.

Herr Schröder konnte froh sein, dass Ian kein verwöhnter Gymnasiumsbengel war, dessen Eltern wutentbrannt am nächsten Tag bei ihm anrufen würden, um etwas von „körperlicher Züchtigung“ zu faseln. Auf der Mycathie-Akihi-Realschule waren es vielleicht zehn Prozent der Schüler, die länger als fünf Minuten mit ihren Eltern über die Schule redeten. Ian und Freya Teutschwitz waren normal. Sie gehörten zu der Mehrheit.

„Ich schreib mir nur schnell den Stundenplan ab.“

„Dafür hattest du zuhause genug Zeit. Jetzt ist erst einmal Pause.“

„Ja gleich. Bin gleich fertig“, sagte Ian und trug ein, dass die erste Stunde am Freitag Deutsch im Raum 401 sein würde.

„Ich glaub, ich höre wohl nicht richtig.“

„Gleeeeich“, sagte Ian genervt. Er schaute dem jungen Lehrer ins Gesicht. Rechts hinterm Ohr baumelte ein Rattenschwanz, an dem komische bunte Kullern hingen. Bis auf seinen Sportlehrer verachtete Ian sie alle. Für ihn waren Lehrer in erster Linie Menschen, die sich einen draufabwichsten, Liebesbriefe von Jugendlichen laut vorzulesen. Aber vor den neuen Lehrern hatte er nicht das Mindestmaß an Respekt. Er verstand auch nicht, warum es eine Einstellungsvoraussetzung zu sein schien, komische Haare oder Freizeitaktivitäten zu haben. Letztes Jahr hatte er zwei Referendare gehabt. Die eine war weißer als Tania und trug Dreadlocks, war 1,50 Meter groß, trank ihren Tee aus einem braunen Gefäß, in welches sie immer wieder heißes Wasser aus einer Thermoskanne goss und sie bestand darauf, zu Stundenbeginn den Zeigefinger auf die Lippen zu legen, während sie mit der freien Hand Hitler grüßte und von fünf runter zählte. Der andere Referendar hatte aus irgendeinem, nicht erkenntlichen Grund zwei Zöpfe und jeden Tag ein schwarzes Hemd mit verkehrt herum angebrachten Hufeisen an, bei dem der Knopf sich am Bauch schon lange verabschiedet hatte. Er hatte den Schülern der 6a damals erzählt, dass sein Hobby Stockkampf war und er an Wettbewerben teilnahm.

Ian kannte Leute, die auf dem Schulhof mit Gras dealten, er hatte Freunde, die in der Partei waren und jeden Monat vor der U-Bahnstation Rechtsrock-CDs verteilten. Wie zur Hölle kamen Lehrer auf die Idee, dass sie mit Rattenschwänzen, Kräutertee und nach unten offenen Hufeisenhemden Autorität ausstrahlen könnten? Herr Schröder war ja noch nicht einmal größer als Ian. Na gut, vielleicht einen halben Kopf, aber das war es auch schon.

„Du verrätst mir jetzt bitte deinen Namen“, sagte Herr Schröder. Man merkte, wie er in seinem Kopf nach den Lektionen suchte, die es für den Umgang mit Störenfrieden und Rabauken gab.

Ian klappt sein neues Hausaufgabenheft zu und ging mit den Worten „Jetzt ist erstmal Pause“ auf den Hof. Er horchte, ob Herr Schröder ihn folgte, doch der junge Lehrer ahnte, dass er sich lächerlich machen würde.

Die Bauweise des Schulgebäudes ließ keine andere als eine rechteckige Form des Pausenhofes zu. An den zwei länglichen Seiten waren ebene Eingänge. An den Stirnseiten gab es kleine Podeste, auf denen jeweils ein Lehrer die Aufsicht hatte. Ein dritter Lehrer ging über die asphaltierte Fläche. Wenn die Schüler zu derb Fangen spielten, schritt er ein. Denn lange Leinen können sich um Beine wickeln. Und da die meisten Lehrer alt waren und Wasserknöchel hatten, wollte das niemand. Auf dem gesamten Schulhof gab es keinen Basketballkorb, keine Springfelder aus Kreide und keine Tischtennisplatte. Nicht ein einziger Baum wuchs auf der Fläche. Der einzige Blickfang waren die aufgemalten weißen Linien, gedacht für die Fahrradführerscheinstunden. Die wurden allerdings nur von den Grundschülern genutzt. An der einen Ecke, unter der die Mensa lag, war der innere Gang unterbrochen und ein Metalltor, das schwer den Eindruck von Knast und Gitterstäben machte, versperrte den Weg zur Grundschule und deren Schulhof. Manchmal kamen die Kinder rüber und fuhren eine Viertelstunde mit dem Rad. Wenn man aus den Fenstern schaute, konnte man manchmal einen kleinen Jungen sehen, der, da er immer wieder über den Lenker seines Fahrrades flog, einen Fußgänger spielen musste.

In den großen Pausen der Akihi-Realschule, die nach der zweiten, der vierten und der fünften Stunde stattfanden, wurden die Linien nur von den Kindern genutzt, die keine Freunde hatten und ihre Zeit alleine verbringen mussten. Es war unglaublich demütigend. Auf diesem Pausenhof gab es keinerlei Versteckmöglichkeiten und ihr Außenseitersein wurde zur Schau gestellt. Die, die nicht allein waren, standen in Kreisen und warteten. Ian lief an ein paar Gruppen seiner Klassenkameraden vorbei und stellte sich nahe des Tores zu SS-Sveni. Im Kreis standen noch Kralle aus der Achten, Riccardas Schwester, die der Atombusigen in Nichts nachstand, sowie Manuel Hunsieg und Carlo Schikowski, die beide in die neunte Klasse gingen und dieses Jahr ihren Hauptschulabschluss machen würden. Riccardas Schwester hatte sie gefragt, was sie nach dem Ende des Schuljahres machen wollten. Manuel plante in einer Gärtnerei anzufangen. Seine Eltern wohnten ganz im Süden von Paulmander. Sie teilten sich mit einer anderen Familie einen bunt bepflanzten Garten, den Manuel liebte. Carlos Ziel hatte im weitesten Sinne etwas mit Ausländer verprügeln zu tun. Carlo war einer von den gefährlichen Hunden, die bellen und beißen. Kralle gefiel das. Er konnte jedes Lied der ausgeteilten CD´s auswendig. Auch die Parteireden zwischendurch hatte er sich angehört. Kralle laberte etwas von einer Umvolkung. Riccardas Schwester nickte, während sie sich umdrehte und auf den Schulhof schaute. Tatsächlich waren nur wenige weiß. Die meisten waren braun. Viele von außen und ein paar von innen. Das konnte allerdings auch an der Sonne liegen, die den ganzen Sommer schon gebrannt hatte und auch jetzt den Schulhof erhellte. Kurz bevor es klingelte, setzten sich die Schülergruppen schon in Bewegung. Als es tatsächlich klingelte, schaute Ian durch die Gitterstäbe.

Auf dem Schulhof der Grundschule durfte noch Hasche gespielt werden. Es wurde nicht unterteilt.

Freya war zwar bewusst, dass ihr Papa Neslihan und John undufte finden würde, doch sie mochte sie. Zusammen mit Patrick waren sie ihre besten Freunde. Die Tuhlmspatz-Grundschule-Schaldstätten besaß nur einen Eingang. Dieser führte in einen bogenförmigen Flur. Wenn man nach rechts ging, kam man in das große Treppenhaus. In der Mitte gab es einen Fahrstuhl. Die Treppen schlängelte sich in vier breiten Abschnitten um den Schacht herum nach oben in die zweite Etage. Wenn man die Stufen hinunterstieg, konnte man in die Mensa gelangen. Auf der anderen Seite des Bogens fand man die Werkenräume. Zwischen den Enden waren Klassenzimmer für derzeit neun Klassen. Außerdem gab es noch einen Raum für den Hort.

Freyas Klassenzimmer war im zweiten Stock. An der Tür hing ein kleiner Zettel mit dem Aufdruck einer Sonne, die verriet, dass es sich um den Raum 205 handelte. Aus einem Regenbogenbogen war eine „3“ und ein kleines „A“ herausgeschnitten und neben die Sonne geklebt worden. Freya ließ Neslihan den Vortritt. Sie setzte sich dann in die Mitte der Fensterreihe. Vor ihr waren zwei Tische, dahinter auch. Neben ihr saß der kleine Patrick, der seit der ersten Klasse nicht mehr zu wachsen schien. Der Metallkorb unter seinem Tisch war voll mit Blättern. An der Spitze des braunen Tisches lag eine kleine Einkerbung, die mit Gummi ausgelegt war. In ihr lagen zwei angefangene Klebestifte und ein abgebrochener Füller. Die Drittklässler hatten heute die ersten beiden Stunden Deutsch mit Frau Rhemberg gehabt. Sie unterrichtete sie auch in Sachkunde, das stand jetzt auf dem Stundenplan. Sie war zugleich ihre Klassenlehrerin. Die Schulglocke ertönte. Alle Schüler schlugen ihre gelben Hefter auf. Die meisten schafften das alleine. Nur Sefa in der letzten Reihe brauchte etwas Hilfe. Hinter ihm saß ein Mann. Freya wusste, dass er kein Lehrer war, sie aber trotzdem auf ihn hören sollten, wenn er etwas sagte. Dieser Mann passte auf Sefa auf. Auch dass er seine Hausaufgaben und so was machte. Dafür gab es eigentlich die Hausaufgabenhilfe. Nach der Schule war die. Im Hort. Doch Sefa braucht noch mehr Hilfe. Denn wenn er etwas nicht konnte, wurde er schnell sauer. Dann stand er auf und schrie. Einmal hatte er die Kunstbox seiner Sitznachbarin Selen durch den Raum geworfen und dabei den Wasserbecher von Lotte schräg gegenüber getroffen. Ein anderes Mal, erinnerte sich Freya, hatte er im Sportunterricht seine Hose ausgezogen und gegen die Holzbank gepinkelt, weil seine Mannschaft beim „Ball unters Netz“-spielen verloren hatten. Am Anfang hatten ein paar gekichert, dann fanden sie es eklig. Frau Rhemberg hatte ihnen am nächsten Tag gesagt, dass jeder Mensch unterschiedlich sei und unterschiedlich auf Probleme reagiert. Sefa würde wohl schnell sauer von Problemen. Deshalb war es wichtig, dass die Klasse ihn unterstützte. Aber da die Klasse das nicht alleine konnte, gab es da auch noch diesen Mann. Vui, die in der ersten Reihe neben Zeki saß, meldete sich. Sie überstreckte dabei ihren Ellenbogen und schnipste. Frau Rhemberg hob mahnend die Augenbraue. Vui verstand und hörte auf, die Finger zu bewegen. Frau Rhemberg nahm sie dran.

„Sollen wir für Sachkunde liniert oder kariert nehmen?“

Vui hatten einen Stapel von beiden neben dem Papphefter liegen.

„Für den Sachkundeunterricht nehmen wir alle liniertes Papier“, sagte Frau Rhemberg und ging in die Klasse. Als sie bei Freya und Patrick stand, sah sie Freyas kariertes Papier.

„Freya, mach das einfach wie im Deutschunterricht. Da hast du ja auch liniertes Papier genommen. Kariertes Papier nehmen wir nur für Mathematik“, sagte sie freundlich, dann ging sie weiter, ohne zu wissen, dass Freya alle linierten Blätter, die sie von ihren Eltern bekommen hatte, schon für den Deutschhefter verbraucht hatte.

Da Frau Rhemberg eine gute Lehrerin war ging der Unterricht schnell vorbei. Danach hatten sie Mathe bei Frau Civelek. Dieses Fach mochte Freya wenig. Sie war nicht schlecht in Mathe. Beim schriftlichen Multiplizieren und Dividieren machte sie kaum Fehler. Aber sie konnte nur sehr mäßig Kopfrechnen. Wenn sie ein Blatt hatte, auf dem die Zahlen standen, dann ging es. Aber im luftleeren Raum, verlor Freya die Zahlen. Zum Ende der Stunde veranstaltete Frau Civelek ein Spiel. Eine Bank sollte aufstehen, dann wurde eine Rechenfrage gestellt. Wer die Frage zuerst richtig beantwortete, rutschte eine Bank weiter. Neslihan hätte eine ganze Runde geschafft, wenn sie nicht das eine Mal Sefa hätte gewinnen lassen. Als es klingelte stand sie neben Freya, einen Platz von ihrem eigenen entfernt. Wer eine ganze Runde schaffte, bekam ein Geschenk. Doch Neslihan hatte eine richtige Antwort zu wenig gegeben. Frau Civelek gab ihr nur lobend die Hand. Freya fand sie nett, aber irgendwie roch sie komisch, nach dicker Luft und dem, was ihr Vater jeden Abend trank. Frau Civelek winkte der Klasse zum Abschied. Die 3a hatte jetzt Sport. Doch da am ersten Tag nicht alle ihre Sporttasche dabeihatten, Freya auch nicht, ließ Herr Osowitsch sie auf dem Schulhof „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ spielen. Dann klingelte es. Freya schulterte ihren Ranzen, der jetzt auch die Bücher im Bauch hatte. Zu viert gingen Neslihan, Freya, Patrick und John an der Wand vorbei und die Treppe zur U-Bahnstation hinunter. Neslihan und John winkten. Sie fuhren eine lange Rolltreppe hinunter. Patrick und Freya kamen auf dem Ring wieder raus und liefen zu dem kleinen Trampelpfad. Sie bogen auf den Kleinhauerweg. Sie redeten über die Schule.

„Kommst du heute noch mit raus?“, fragte Patrick.

„Nein, ich mach die Hausaufgaben und dann muss ich Mama helfen“, sagte Freya.

Die beiden Kinder verabschiedeten sich vor dem Eingang 38. Danach lief Freya weiter und holte ihren Schlüsselbund hervor. In dem Moment, in dem sie nicht auf den Steinplattenboden schaute, wäre sie fast auf einen alten Hundehaufen getreten. Die Sonne hatte die Kacke gebleicht. Freya schloss die Tür auf. Dabei stemmte sie ihr ganzes Gewicht dagegen. Sie tapste die grauen Stufen hoch und öffnete auch die Wohnungstür. Sie zog, noch mit dem Ranzen auf dem Rücken, die Schuhe aus und legte sie in das Regal. Dann ging sie in die Küche. Den Ranzen lehnte sie an das Tischbein. Nun flitzte sie ins Bad. Dort wusch sie sich vor und nach dem Pieseln die kleinen Hände. Als sie auf den hohen Küchenstuhl gesprungen war, merkte sie, dass sie heute noch nichts getrunken hatte. An die Gläser im oberen Fach kam sie nicht heran. Deshalb nahm sie die Müslischüssel unter der Spüle. Das Leitungswasser war warm und schmeckte nicht gut. Dann setzte sie sich an ihre Hausaufgaben.

Vierecke fallen nicht zur Seite

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