Читать книгу Vierecke fallen nicht zur Seite - Johannes Irmscher - Страница 5

Buch 2 -2-

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Freya saß gerade am dritten Deckblatt. Deutsch und Mathe waren leicht gewesen, aber sie hatte sich trotzdem angestrengt, da sie eine Eins bekommen musste. Da klapperte an der Wohnungstür ein Schlüssel. Freya wollte sich, wie eine Turnerin, vom Stuhl schwingen. Dabei holte sie zu viel Schwung, sie rutschte mit ihren dünnen Söckchen aus und knallte gegen die Küchenmöbel.

„Ja sag mal, was is´n hier los“, lachte Ian. Er stand in der Tür. Freya rannte zu ihm. Sie umarmte ihn kurz. Dann setzten sie sich beide an den Küchentisch.

„Musst du viel machen?“, fragte Ian.

„Es geht. Deckblätter für Mathe, Deutsch und Sachkunde. Und wir sollen ein paar Aufgaben lösen. In Mathe. Sachen aus dem letzten Jahr zum Auffrischen“, erzählte Freya. Sie fuhr mit ihrem Finger über die sauber eingetragenen Punkte in ihrem Hausaufgabenheft. Die Fingernägel waren abgeknabbert. Am linken Ringfinger wuchs die Haut über den Nagel.

Ian suchte mit seiner Schwester, aus den Zeitungen von letzter Woche, Bilder für das Deckblatt heraus. Dann holte er aus dem Elternschlafzimmer Bücherumschläge und zog Freyas Ranzen nach oben. Während sie die Matheaufgaben löste, wickelte Ian die Bücher ein. Er schaute auf die Uhr. Es war 14:15 Uhr. In einer Viertelstunde war er mit Alex verabredet. Die Zeit reichte noch aus, um über die Berechnungen zu schauen. Ian erkannte keine Fehler. Dann ging er nach oben.

Ian klopfte, Frau Okowenko öffnete die Tür. Sie stammte aus Krasnodar. Ian kannte den Verein. Deshalb konnte er das zuordnen. Alex´ Mutter sprach Deutsch, aber mit starkem Akzent. Sie begrüßte Ian freundlich und gab ihm ein paar Hausschuhe. Frau Okowenko war stark geschminkt, da sie gleich Einkaufen fahren wollte. Alex saß noch in seinem Zimmer. Er schaute nur kurz hoch, als Ian auf die lockere Diele trat. Auf einem grauen Röhrenfernseher rasten täuschend echt aussehende Boliden über den Nürburgring.

„Hab die Zeit verpasst. Bin gleich fertig. Nur noch das eine Rennen“, sagte Alex, dabei beugte er sich in die Kurven.

Ian hasste es, wenn sich Menschen verspäteten.

Fünf Minuten vor der Zeit ist deutsche Pünktlichkeit.

Aber er hatte sich angewöhnt, sich leise aufzuregen. Denn die meisten seiner Freunde sahen das nicht so eng.

„Ian. Es ist im Kühlschrank noch Essen. Iss!“, sagte Alex´ Mutter. Ian wunderte sich, wie man in seinem kurzen Namen so viele „r“s einbauen konnte. Während Alexander noch mit seinem Videospiel beschäftigt war, ging Ian in die Küche. Die Küche war genauso aufgebaut, wie die der Familie Teutschwitz. Ian brauchte sich nur auf den Stuhl zu setzen. Er schaute Frau Okowenko an. Er sollte sie Kalina nennen. Kalina schöpfte mit einer Kelle Kartoffelsuppe in einen Teller und stellten diesen in die Mikrowelle. Während sich der Teller drehte und der kreisrunde Knopf zum Zeiteinstellen zurückwanderte, grinste Alex´ Mutter Ian an, er musste unweigerlich zurück lächeln. Es „blingte“. Kalina stellte den dampfenden Teller Suppe auf die grün-schwarze Plastiktischdecke, die mit kleinen Bärchenfiguren beschwert war. Sie griff in das Fensterbrett, sie stellte einen Petersilientopf daneben. Während Ian das Essen in sich hinein schaufelte, fragte sie ihn nach den heutigen Plänen.

Ian sagte, dass sie zum Schwanenteich gehen wollten und dann „mal schauen“.

Mit „mal schauen“ war das leerstehende Wohnhaus in der Teutebergstraße gemeint. Aber das konnte er Kalina ja schlecht verraten.

„Du magst keine Petersilie?“, fragte Kalina.

Ian sagte „Nein“, dabei wusste er einfach nicht, wie man Petersilie aß. Musste er die Stängel abrupfen oder nur die Blätter?

Kalina fragte ihn dann nach der Schule aus. Ian erzählte die Geschichte mit dem neuen rattenschwanztragenden Geolehrer, die Frau Okowenko zum Lachen brachte.

„So etwas könnte ich meiner Mutter niemals erzählen“, dachte sich Ian, als Alex in der Tür auftauchte.

„Machen wir los?“

Der Schwanenteich war voller Enten, die von einem Ufer zum nächsten schwammen, um sich füttern zu lassen. Der kleine Tümpel hatte ein Ausmaß von zehn mal zwanzig Metern. Er war umgeben von Weiden, die ihre Äste in das Wasser ditschten. Der Jotta-Liebermann-Park, benannt nach der ehemaligen Bürgermeisterin von Paulmander, die ihn anlegen ließ, war im Süden des Stadtviertels. Hier gab es keine Altbauten mehr. Der Jotta-Liebermann-Park hieß zuerst ganz unkreativ Tuhlmspatzpark und wurde nach dem Tod der Bürgermeisterin 1983 umbenannt. Von dem alten Namen wussten die Kinder nichts, aber da, hier in Paulmander, fast alles nach der Sagengestalt benannt war, hätte sie das nicht großartig überrascht. Ian und Schlagmann lehnten mit dem Rücken an einem blauen, fleckigen Geländer. Sie schauten Alex beim Vorführen seines neuen Handys zu. Es handelte sich um ein Nokiatouchhandy, bei dem man die Rückseite austauschen konnte, da verschiedene Farbstücke mitgeliefert wurden. Ian hatte so etwas noch nie gesehen. Schlagmann hingegen besaß ebenfalls ein Touchhandy, doch bei ihm konnte man dazu eine klassische Tastatur mit Zahlen und kleinen Buchstaben nach unten ziehen. Alex´ Mutter hatte für ihren Sohn einen Vertrag abgeschlossen. Unglaubliche 500 MB Datenvolumen, Ian konnte sich darunter überhaupt nichts vorstellen, so wie hundert Freiminuten und SMS. Schlagmann hatte einmal gehört, dass solche Verträge pure Abzocke wären, aber Alex war sich sicher, dass das eine gute Sache war.

Unter der Brücke, zu der das Geländer gehörte, lag ein Rohr, welches Regenwasser in den Schwanenteich leitete. Gerade schwamm eine Ente hinein, als Alex Ian fragte, ob er denn nicht sein altes Handy haben wollte. Ian lehnte das zügig ab. Er war froh, als Lena und Vivien bei dem Weg auftauchten. Dieses Mal bekam Schlagmann von Vivien eine Umarmung. Er strahlte. Beim Gang zur Teutebergstraße musste er alle paar Meter einen Ausfallschritt machen. Wahrscheinlich klemmte sein Hosenstall.

Die Teutebergstraße führte bis an den Rand des Jotta-Liebermann-Parks. Einen begehbaren Gehweg gab es nur auf einer Seite. Genau wie die Straße, bestand dieser aus einem Steinpflaster. Allerdings hatten sich Erdschichten über den Untergrund gelegt. Der Gehweg auf der anderen Seite, war mit Barken abgesperrt und im Erdreich versunken. Die neuen Rohre reflektierten die Sonnenstrahlen. Die harte Erde sah staubig aus. Ein Bauarbeiter mit einem Hopser verdichtete die Einfahrt zu einem Altersheim. Rechts und links standen Wohnhäuser mit grauen Wänden, an denen eine Menge Graffiti angebracht waren. Die Häuser besaßen alle drei Etagen und ein rotes Dach. Die meisten Briefkästen waren nur noch lose Halterungen an der Wand. Viele Fenster waren gardinenlos. Eine alte Telefonzelle mit zersprungener Tür, bildete einen der wenigen Farbtupfer.

Eine alte Frau, die sich aus dem Fenster gelehnt hatte und sich auf einem Kissen mit derbem Stoff abstütze, beobachtete die Kinder, wie sie die Teutebergstraße hochgingen. Buchstäblich hoch, denn das Ende der Straße lag auf einem kleinen Hügel. Hinter dem Hügel befand sich ein Tierheim, zwei Behindertenwerkstätten und ein Ausschusswarenlager. Die Mehrfamilienhäuser nahmen ein Stockwerk ab. Auf der linken Seite gab es einen kleinen Weg. Am Ende stand ein altes Haus. Ian hob die langen Äste der Hecke hoch. Nacheinander schlüpften Vivien, Schlagmann, Alex und Lena durch das Gartentor. Das Schloss war verrostet. Es bröselte auseinander. Ein altes Fahrradschloss war über die Gitter gelegt, jedoch so, dass man eine Schlaufe hinüberschieben konnte. Das Gras im Vorgarten ging selbst Vivien bis zur Hüfte. Als die Halme ihr über die gebräunten Beine strichen, bereute sie, eine kurze Hose angezogen zu haben. Allerdings war es brüllend heiß und Zecken sprangen ihres Wissens eh nur von Bäumen. Der Hauseingang auf der anderen Seite war verschlossen. Schaute man auf die Front des Hauses, hätte man nicht gewusst, dass es leer stand. Zwischen den Paulmander Ringen, standen da ganz andere Unterkünfte.

Von den Kindern war niemand ein professioneller Einbrecher, deshalb hätten sie niemals gewusst, wie sie die Tür öffnen könnten, doch zu ihrem Glück gab es da noch den Hintereingang. Er lag etwas unterhalb der Grasebene. Neben den nach vorn fallenden schmalen Treppenstufen standen Geländer, an denen einmal Schnüre zum Wäscheaufhängen befestigt waren. Jetzt bildeten sich an den Eisenstangen Blasen, die bettelten abgepuhlt zu werden. Das Schloss an der hinteren Holztür war von Schlagmann herausgeschraubt wurden. Er hatte das in einem Buch gelesen. Ein Geschenk seiner Eltern: 100 Dinge, die ein junger Mann wissen muss, oder so ähnlich. An dem Tag, als er der Gruppe diesen tollen Ort beschert hatte, war Matthias der Held und Vivien wollte unbedingt dieses Buch sehen, vielleicht standen da noch mehr nützliche Dinge drin. Doch Schlagmann lief tiefrot an und stammelte: „Ne, dis war a-aaa-alles. Sonst ist da nix drin.“

Vivien gab es auf, ihn gegenüber nett sein zu wollen. Sie wusste nicht, weshalb Ian ihn immer mitschleppte. Aber bei so etwas konnte man nicht mit ihm reden. Nie. Immer das gleiche Gequatsche.

„Er gehört halt dazu.“ So etwas sagte Ian und dachte, das würde irgendetwas erklären. Das konnte Vivien so aufregen. Das mit der Tür war das Coolste, was Schlagmann je gemacht hatte. Und wenn man mit ihm darüber reden wollte, stammelte er.

„Er soll endlich erwachsen werden“, dachte sich Vivien, zumal er ja älter war. Sie schlug vor, dass sie Verstecken spielen sollten.

„Sicherer Hafen“, nannte sie es. Der Hauseingang der neunten Wohnung, die einzige Abgeschlossene, wurde zum sicheren Hafen gekürt. Wenn man die Tür abklatschte, war man gerettet. „Wer ist Jäger?“, fragte Alex. Matthias war der Letzte, der merkte, dass sich alle an die Nasenspitze fassten.

Matthias Schlagmann lehnte sich an den Hauseingang. Er schloss die Augen. Er zählte laut bis fünfzig. Er hatte gehört wie zwei nach oben gegangen waren. Er entschied sich zunächst ihnen zu folgen. Aber als er die erste Stufe erklomm, sausten hinter ihm schon Alex und Vivien an die Tür.

Sie riefen laut: „Gerettet.“

Dann mussten Lena und Ian oben sein. Es ging nicht anders. Schlagmann hatte die Schritte gehört. Er linste um die Ecke. Er sah, dass der Fußabtreter umgeknickt dalag. So leise, wie er konnte, lief er zu der leeren Wohnung. Sie hatte nur ein Zimmer und er ...

Da kam schon wieder der Ruf: „Gerettet.“

Das konnte doch nicht sein. Verdammt, dachte Matthias. Er hatte Lenas Stimme erkannt. Das hieß, Ian war noch hier. Ian musste hier in dieser Wohnung sein. Wenn er ausgerechnet den Klassenking erwischen würden, wäre das genauso gut wie ein voller Sieg. Da würden seine Mädels aber blöd gucken.

„Ian!“, rief er, vor Anspannung und Anstrengung außer Atem, „Ich weiß das du hier bist.“

Wie in Erwartung eines plötzlich auftauchenden Horrorfilmmonsters schlich Schlagmann achtsam nur auf den Zehenspitzen an dem Bad vorbei. Die komplette Keramik fehlte. Dann stand er in dem Zimmer. Es gab keine Küche, nur Anschlüsse. Das war das einzige Zimmer. Ian musste doch hier sein. Schlagmann ging zu den offenstehenden Fenstern und dann sauste er herum, rannte aus der Wohnung und stolperte über den Fußabtreter.

Von Unten kam: „Gerettet.“

Die Dachpappe fühlte sich klebrig an. Schlagmann pulte einen kleinen Stein von seinen haarlosen Beinen. Innerlich schüttelte er immer noch den Kopf. Es war 17:05 Uhr. Die Sonne meldete schon langsam an, dass sie die anderen wecken musste. Matthias konnte nicht glauben, dass Ian für so ein blödes Spiel aus dem Fenster geklettert war.

„Deutsche sind tapfer“, hatte er gesagt.

Nun saßen sie alle auf einem Vordach, rechts von ihnen erstreckte sich Nichts als weites Feld. Weites, stoppeliges Feld. Ganz da hinten lag irgendwo einen Graben, in dem die Bahnschienen lagen. Wenn sie nach vorn schauten, konnten sie den Aussichtsturm auf dem Bokettoberg sehen. Die Hochhäuser waren größtenteils von der Hauswand verborgen. Das war allerdings nicht schlimm. Nur Alex und Matthias ließen ihren Blick noch in die Ferne schweifen. Alex´ Füße baumelten von der Kante hinunter. Ihn konnte man von der Teutebergstraße aus sehen. Lena und Ian lehnten auf der anderen Seite an der Ziegelwand. Lena hatte ihm etwas auf ihrem Handy gezeigt. Nun kritzelte Ian mit einem Dachpappenfetzen etwas auf die weiße Schuhsohle von Lena.

Vivien hatten sich lang gemacht und in die Sonne gelegt. Zunächst hatte sie in ihr T-Shirt einen Knoten gedreht und sich auf den Rücken gelegt, doch dann merkte sie schnell, dass der Zopf am Hinterkopf drückte und sich kleine Steinchen in den Haaren verhedderten. Deshalb lag sie nun auf dem Bauch. Den Kopf auf den Händen abgestützt und nach links gedreht, schaute sie auf das Feld. In ihrem gesamten Blickfeld gab es nicht eine einzige Landstraße. Kein einziges Auto fuhr über die Feldhügel, an deren Spitze eine Baumgruppe stand. Die Sonne kitzelte ihr an der Nase. Vivien genoss das Gefühl. Es war, als ob sie kurz davor war zu niesen. Nur kurz davor. Es kribbelte, aber nicht zu stark. Ein kleiner Schweißtropfen floss von ihrer Stirn. Sie schloss das Auge. Nur noch das Sonnenlicht sehend, verlor sie sich in Raum und Zeit und dachte an den Urlaub zurück. Für ihre Eltern war Kragujevac Heimat. Doch wie dachte sie darüber? Für Menschen wie Ian, für Menschen wie ihre Eltern, war Heimat ein so großer bedeutungsschwangerer Begriff.

Sie spürte, wie sich eine Fliege auf ihre linke Pobacke setzte. Vivien streckte die Hand nach hinten, um sie zu verscheuchen. Von der Bewegung merkte nur Schlagmann etwas. Lena und Ian redeten über das Tierheim. Matthias sah, wie Viviens Finger die Fliege verscheuchten. Dabei verrückten sie die kurze Hose. Er fand sie so schön. Er dachte an die Dinge, die in diesem Buch standen. Er musste sich nur trauen, etwas kitzelte ihn, nur trauen, dann ...

Alex zog an Schlagmanns ausgeleierten Ärmel.

„Waaa“, sagte der erst laut. Dann bemerkte er die Schweigegeste. Das „S“ blieb stumm. Alex hielt den Finger auf den Lippen, mit der anderen Hand zeigte er nach unten. Schlagmann blickte in die Richtung, hinein in seinen Schritt. Vor Schreck wäre er fast aufgesprungen. Seine Stoffhose war ausgebeult. Alex griff an Schlagmanns Schulter und verhinderte damit ein panisches Aufspringen.

„Mach was“, flüsterte Alexander.

„Was denn?“, fragte Matthias. Er weinte dabei fast.

Alex öffnete den Mund, als unten die Holztür knallte.

Vivien sprang ruckartig auf. Deswegen hatte sie keinerlei Augen für Matthias kleinen Schlagmann. Sie schauten alle ängstlich Ian an. Sie wussten nicht, ob sie hier sein durften. Bestimmt nicht. Das Haus gehörte irgendwen. Man darf doch nicht einfach so in Häuser gehen. Was sollten sie machen? Sie schauten Ian an und Ian blieb ruhig.

„Das werden auch nur Jugendliche sein“, sagte er.

Schlagmann, der ohne Ian in der Klasse ziemlich gehänselt werden würde, beruhigte das überhaupt nicht.

„Und was, wenn´s der ist, dem das Haus gehört?“, fiepste Lena.

„Der wird ja wohl kaum die Hintertür aufknallen.“

Ian krabbelte schon durch das Fenster, welches auf das Vordach führte. Erst half er Lena, dann Vivien.

„Und wenn es die Polizei ist?“, auch Viviens Stimme bebte.

„Glaub´ ich nicht“, winkte Ian ab und ging zur Treppe. Von unten kamen jugendliche Stimmen, die nicht Deutsch sprachen. Ians Füße standen schon auf der ersten Stufe, als Schlagmann durch den Fensterrahmen plumpste. An der geschlossenen Wohnungstür stand ein kleiner Junge, der laut rufend zu seinen Freunden rannte, als er Ian sah. Etwa zehn Jugendliche, verschiedenen Alters, standen im Flur. Sie schauten zu Ian, der selbstsicher die Treppe hinunterging. Er erkannte Adem aus seiner Klasse. Um ihn herum standen dessen Brüder und Cousins. Da Ian diese Leute, er würde ein ganz anderes Wort benutzen, allerdings eh nicht auseinanderhalten wollte, fiel ihm die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen ihnen nicht auf. Adem war der Drittgrößte der Gruppe. Angeblich trainierte er in einem Kampfsportverein, doch Ian glaubte das nicht. Schließlich behauptete das, hier in Paulmander, jeder zweite Junge von sich. Mittlerweile standen Vivien, Lena, Alex und Schlagmann auf den Stufen hinter ihm. Sie hatten die höhere Position.

„Schönes Haus habt ihr hier. Euer?“, grinste Adem.

„Wir gehen schon. Ihr könnt es haben“, sagte Ian zähneknirschend. Während er sprach, ging er schon in die Gruppe hinein, die ihn eigentlich den Weg versperren wollte.

„Ohne deine Nazifreunde hast du nicht so´n großes Maul, oder?“, lachte Adem, dann schaute er zu Matthias. Mit dem Finger zeigte er auf dessen Stoffhose.

„Sag mal Schlagmann, hast du dich eingepisst?“

Matthias und zu seinem Leidwesen auch alle anderen, einschließlich Vivien, schauten an ihm hinunter. Ähnlich wie sein T-Shirt, war auch sein Dreiecksschlüpfer nicht mehr neu. Ein kleiner nasser Fleck hatte sich in seinem Schoß gebildet.

„Ne, wir waren auf dem Dach und in der Regenrinne war noch altes Wasser“, sagte Alex schnell und laut, bevor alle lachen konnten. Dann zog er Matthias durch die Gruppe.

„Chayas, ihr könnt hier bei uns bleiben, wenn ihr wollt. Dann könnt ihr das Haus noch weiter nutzen“, schlug Adem gönnerhaft vor.

Vivien ging so schnell wie möglich raus zu Ian, aber Lena zögerte.

Auf dem Nachhauseweg rechtfertigte sie sich: „Ich hatte halt Angst. Ich dachte, es wäre klüger sie nicht weiter zu reizen.“

Ihre Wege trennten sich. Alex schloss die Tür im Kleinhauerweg 42 auf, da war es schon halb sieben.

Freya hörte nun zum dritten Mal die Schlüssel. Ihre Mutter war vor einer Stunde heimgekommen. Seitdem saßen sie vor dem Fernseher und schauten ein Promiformat. Es trug einen Namen, der in die Richtung „Feurig“ oder „Explizit“ oder „Uiuiui“ ging. Freya hielt das für den inhaltsleersten Scheibenkleister aller Zeiten. Diese Sendungen waren immer gleich aufgebaut. Aufmacher: Prinz Firlefanz und Prinzessin Lächleblöd sind schwanger. Werden es Zwillinge?

(der dicke Bauch spricht dafür)

Dann stellen vier Promis ihren neuen Film, ihre neue CD oder ihr neues Buch vor.

Zwei Adelsexperten unterhalten sich mit einer Modeexpertin darüber, wie unvorteilhaft das schlichte 3000,00 € Kleid geschnitten ist und dass Prinzessin Lächleblöd damit ein Statement setzen wollte.

Eine Schauspielerin spricht darüber wie sie dem Alkohol verfallen und wieder clean geworden ist. War ihr Vater schuld?

Es werden erste Zweifel gestreut. Sind die Drillinge gar nicht vom Prinzen?

Der achte Werbeblock wird mit einer Abnehmpille beendet, die die Moderatorin weiterempfehlen kann.

Ein weiblicher Fan wird vor den Toren des Palastes zu den Untreuevorwürfen befragt. Die blonde Frau ist vollbeladen mit Merchandisingartikeln. Ein hoher Hut, mit dem Konterfei des Prinzen, wippt auf ihrem gefärbten Haupthaar, als sie sagt, dass: „Sie zu Prinz Firlefanz steht und das von der Schlampe schon immer erwartet hätte.“

Frau Teutschwitz nickte zustimmend. Danach folgte die Auflösung des Gewinnspiels. Frau Gabi Müller-Spirat aus Ludwigsfelde wusste zwar, dass man den liebsten Freund des Mannes Hund und nicht Stirnlappenbasilisken nennt, bei der Folgefrage musste sie jedoch passen. Keine Ahnung wie viel die Hündin Laika wog, als sie am weitesten von der Erde entfernt war? Vier?

Dann klapperte der Schlüssel und Freya sprang auf. Dass die Moderatorin gerade verlautbarte, dass weder Prinzessin Lächleblöd, noch Prinz Firlefanz schwanger waren, bekamen weder Mutter, noch Tochter mit.

Herr Teutschwitz kam gegen sieben. Er war früh dran. Zum Glück hatten Freya und Ian das Essen trotzdem schon vorbereitet. Wie jeden Wochentag gab es Schnitten. Etwas hatte den Vater bei der Arbeit aufgeregt. Er schnaufte noch mehr als sonst. Er war so sehr auf seine Wut konzentriert, dass er vergaß sein Bier zu trinken. Das war für die Kinder ziemlich blöd, denn nüchtern war er unangenehmer. Während des Abendbrotes schnaufte und schmatzte er laut. Das Radio blieb stumm. Freya bekam kaum einen Bissen hinunter. Die Essgeräusche widerten sie an. Sie schaute zu ihrem Bruder und wunderte sich, wie er einfach so seine Salamibemme und das Frischkäsebrot essen konnte.

„Hol mir bitte noch ein Bier“, sagte ihr Vater. Freya musste sich aus der Ecke herausquetschen, um Ian und den Küchentisch herumlaufen. Sie ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür vorsichtig. Ihr Vater hatte sich herumgedreht. Sie merkte seine Blicke. Er beobachtete sie kritisch. Jeder Kubikzentimeter des mittleren Faches, war mit Bier zugestellt. Die Flasche fand sie schwer. Sie hatte Angst, dass sie ihr aus den Händen gleiten würde. Freya stellte das Bier auf den Tisch. Dann holte sie aus der Besteckschublade den Bieröffner. Sie zitterte, da sie wusste: „Diese Flasche werde ich nicht aufbekommen.“ Ihr Vater bestand aber darauf, dass Freya sie öffnete.

Mit zeithinauszögernden Schritten ging sie auf ihren Vater zu, doch als sie die Tischkante spürte, beugte sich Ian nach der Flasche und löste den Öffner aus Freyas glitschiger Hand. Es ploppte. Ian räumte den Flaschenöffner wieder in die Schublade. Jetzt sah sein Vater endgültig wie ein kochender Krebs aus.

Die Kinder waren fertig und warteten bis die Eltern aufgegessen hatten. Beim Abräumen fiel Freya ein Messer hinunter.

„Das kostet alles Geld. Ist das dein Geld? Freya? Nein, oder? Wer bezahlt das?“, meinte Frau Teutschwitz enttäuscht.

„Sie hat das doch nicht mit Absicht gemacht.“

„DU REDEST NICHT MIT MIR IN DIESEM TON!“

„Was denn für´n Ton?“

Pflatsch! machte es. Obwohl das nicht ganz stimmte, es machte viel mehr Pflaaaaaatttsssccchh?!

Denn, obwohl der Ballon unter Herr Teutschwitz Kurzarmhemd nicht mit der Menge an heißer Luft aus den kommenden Jahren gefüllt war, hatte Ian es hier nicht mit einem athletischen Schläger zu tun. Das Blöde für den Siebtklässler war nur, dass der lange Mittelfingernagel an seinem Auge kratzte. Während ihm die Tränen kamen, wollte Freya türmen, doch ihr Gewissen hielt sie an der Tür zurück.

„Ach, jetzt heult der Große wohl? Was sind wir? Ne dreckige Zigeunerin, die keine Rose verkaufen konnte? Jetzt kommt nichts mehr, du ...“

Ian hörte sich die Tirade an. Eigentlich wollte er seine Eltern nach einem Handy fragen. Das konnte er sich jetzt wohl abschminken.

Freya lag schon im Bett als Ian in das Zimmer kam. Auf ihre schüchterne Nachfrage hin, holte er liniertes Papier aus seinem Deutschhefter und legte es Freya in den Ranzen. Ian setzte sich an seine Hausaufgaben. Er machte alle, von denen er wusste. Freya spürte, wie das Bett wackelte, als er sich hineinlegte. Nach fünf Minuten flüsterte sie: „Ian?“

Doch er schlief schon. Freya hatte die ganze Zeit Angst wieder ins Bett zu machen. Bis zum Weckerklingen, verlor sie sie nicht.

Dementsprechend lange rieb sie sich am Dienstag den Schlaf aus den Augen. Während Frau Rhemberg die Sachkundedeckblätter kontrollierte, kämpfte Freya gegen ein Gähnen an. Sie dachte mit Mitleid an die Kinder mit viel weiteren Schulweg. Von den Civelekzwillingen, Dilan und Ridvan, die im August schon Neun geworden waren, wusste sie, dass sie einen ewig langen Schulweg hatten. Freya kannte den Stadtteil, den sie einmal erwähnten, gar nicht. Nach dem Klingeln war das Hausaufgabenheft schon wieder gut gefüllt. Auf dem Pausenhof entdeckten die Schüler zum Schreck aller, dass das Klettergerüst abgesperrt war. Freya verabredete sich deshalb zum Ausgleich mit Patrick. Am Nachmittag wollten sie Verstecken spielen. Doch bis dahin würde es noch seine Zeit dauern, selbst wenn man die Hausaufgaben nicht mitrechnete. Denn am Dienstag hatte Freyas 3a sechs Stunden, Unterricht bis 13:25 Uhr. Freya wollte sich gar nicht ausmalen, wann die Civelekzwillinge da zuhause sein würde.

Um 12:15 Uhr, fünf Minuten vor Ende der Kunststunde, wollte sie Ridvan danach fragen. Sie brachten gerade ihre Graphiken vor an den Lehrertisch. Dort standen sie in einer Reihe, mussten sie, sollten sie. Es war eine bananige Reihe. Freya tippte Ridvan auf die Schulter, als Frau Kolter laut rief: „Was ist denn das?“

Sie zeigte mit ihrem verhüllten Finger, Frau Kolter bestand, bis auf den Kopf, quasi nur aus Tüchern unterschiedlicher Farbe und Größe, man konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass etwas davon eine Hose war, auf das Blatt von Amalie.

Freya fand, dass Amalie den schönsten Namen der ganzen Klasse hatte. Amalie La Pureté. Amalie konnte Französisch und Deutsch. Ihre Eltern kamen aus Frankreich, genauer Strasbourg. Ian hatte ihr das in dem alten Atlas gezeigt, den er aus dem Bücherraum geholt hatte. Ian kannte sehr viele Städte. Freya hatte sich dann auch den Atlas durchgelesen. Sie hatte nicht so viele Bücher Zuhause, da nahm sie einfach, was sie in die Hand bekam. Ian kannte die Städte vom Fußball. Letztes Jahr hatten sie die europäischen Hauptstädte durchgenommen. Das war für ihn am einfachsten gewesen. Schließlich hatte, mit Ausnahme von Deutschland, jedes Land ein großes Hauptstadtteam. In der siebten Klasse standen die Länder Süd- und Nordamerikas auf dem Lehrplan. Südamerika würde ganz leicht für Ian werden. Aber Frau Kolter schimpfte mit Amalie nicht wegen mangelnder Geographiekenntnisse, sondern weil sie auf ihrer Graphik einen Kugelschreiber verwendet hatte.

Frau Kolter meinte: „Dass ich dir dafür eigentlich eine Sechs geben muss.“

Eine Sechs; für so viele Jahre würden die kleinen Schüler Angst vor dieser Zahl haben. Eine Sechs reihte sich neben dem schwarzen Mann, Spinnen und Stromschläge durch das Drachensteigenlassen ein.

Amalie wollte keine Sechs, sie weinte, stotterte, die Kinder hinter ihr wussten nicht so recht, was sie machen sollten. Marat meldete sich.

„Ich bin der Meinung, dass ich das auch ganz klar gesagt habe. Klipp und klar. Bei einer Graphik benutzt man nur Bleistifte. Ich weiß nicht, wie ich das hier bewerten soll.“

Marat meldete sich immer noch. Leider konnte Amalies Banknachbar nicht schnipsen.

„Amalie, sagst du mir, wie ich das bewerten soll? Du hast ja offensichtlich die Aufgabe nicht erfüllt. Was meinst du dazu, Amalie?“

Freya kannte das von ihrer Mutter. Sie fragte auch immer nach, obwohl man gar keine Antwort hatte. Weil die Fragen auch wie Perlen einer Kette aneinandergereiht wurden (eine ziemlich lange Kette), wusste man nie, was man antworten sollte, man hatte noch nicht einmal Zeit zum Nachdenken.

Marat trat vor zum Lehrertisch.

„Frau Kolter, das waren sie. Sie haben mit dem Kuli drauf gemalt.“

,,Also erstes Marat, man meldet sich, wenn man etwas sagen möchte, zweitens malen wir hier nicht, wir zeichnen und drittens, ist eine der Klassenregeln wie? Marat, wie ist eine der Klassenregeln? Kannst du das lesen? Schau mal zu den Regeln. Dort an der Pinnwand. Marat, was steht da? Genau, wir werden nicht lügen!“

Dann drehte sich die Kunstlehrerin wieder zu Amalie, die mittlerweile die kleinen Tränen wegwischte. Sie sagte: „Ich nehme das mal mit und schaue, ob ich dir nicht doch noch irgendwie helfen kann.“

Danach endete der Kunstunterricht. Doch bevor die Schüler ihre Ethiksachen aus den Ranzen holen konnten, mussten sie ihre Stifte wieder einsammeln. Frau Kolter ging nämlich von Tisch zu Tisch, nahm einen Bleistift von einem Kind und brachte ihn zu einem anderen. „Ist das deiner?“, fragte Neslihan. Freya war gerade zu ihrem Platz zurückgekommen. Neslihan hielt ihr einen gelben Kugelschreiber mit Drehkappe vor die Nase. Neslihan wusste von Freya, dass sie nicht immer die passenden Stifte hatte. Nicht immer die Stifte, die sie benutzen sollten. Sie durften keine Kugelschreiber verwenden, aber Freya hatte manchmal keine Patronen für ihren Füller. Dann blieb ihr nichts anderes übrig. Außerdem zerkratzte ihr Füller das Papier. Egal ob es kariert oder liniert war. Eine Feder war kaputt.

Doch Freya schüttelte den Kopf, sie hatte einen Bleistift benutzt. Doch jetzt im Ethikunterricht bräuchte sie eigentlich einen Kugelschreiber. Obwohl er nicht ihr gehörte, war sie versucht ihn trotzdem zu nehmen. Doch ihr schlechtes Gewissen meldete sich, schließlich vermisste ein Schüler der 3a diesen Stift. Sie konnte ihn nicht einfach nehmen. Hoffentlich war er noch im Raum. Frau Kolter und ein paar andere hatten das Zimmer 205 schon verlassen. Manche gingen in den Religionsraum und andere auf den Hof. Alle mussten auf den Hof, doch manche hatten es eiliger als andere. Neslihan fragte laut, wessen Kuli das sei. Doch niemand rief: „Meiner!“ Deshalb legt Neslihan ihn in das Gummifach des Tisches. Dann gingen sie auf den Hof. Nur ein paar Jungs blieben drin.

Freya, Neslihan und John liefen auf dem Pausenhof herum. Niemand von ihnen war Essenskind. Das hieß, alle drei nahmen Brotbüchsen mit und hatten keine Essensmarken für die Mensa. Patrick hingegen schon. Die Pause war sehr langweilig, schließlich war das Klettergerüst abgesperrt. Es gab einen Plastikball, aber den musste man sich beim Schulleiter abholen. Das traute sich niemand. Außerdem musste man dafür geradestehen, wenn der Ball weg war. Das wollte niemand. So ein Plastikball flog gerne mal weit und unkontrolliert weg, auch über den Zaun. Über den Zaun durfte niemand. Also verging die Hofpause ohne bemerkenswerte Ereignisse. Als es läutete schaute Freya durch die Gitter, sie versuchte Ian auf dem anderen Schulhof zu erspähen, doch da waren zu viele Schüler.

Freya und Neslihan gingen wieder in das Klassenzimmer 205. John musste in einen anderen Raum. Er hatte Religion statt Ethik. Freya wusste nicht genau, wie das funktionierte. Sie hatte Ethik seit der ersten Klasse. Sie wusste noch nicht einmal, dass man sich das aussuchen durfte und wenn, dann hätte das auch nicht viel geändert. Ihre Eltern trafen die Entscheidungen. Es schien allerdings keine Entscheidung zu sein, die in einer Steintafel gemeißelt war, zumindest bei anderen Eltern nicht. Denn die Besetzung der Religionsklasse änderte sich wöchentlich.

Freya sah, dass die anderen Jungs im Raum geblieben waren. Wie hatten sie das angestellt? Es wurde doch immer kontrolliert?

Der Raum 205 war voller Wasser. Sie hatten gerade Kunst gehabt, demnach passte das eigentlich gut zusammen. Doch sie hatten nur Bleistifte und Kugelschreiber benutzt, also keine Wassermalfarben. Auch war Sefa nicht ausgerastet und Lottes Becher war nicht umgefallen. Für das Wasser gab es also zunächst keine Erklärung. Bis Frau Willhelma-Hauff in die Klasse kam. Sie entdeckte schnell, dass die Jungs Bibeln in das Waschbecken gelegt hatten. Eine Seite fungierte als Stöpsel. Es gab einen riesigen Aufschrei. Sogar der Schulleiter wurde gerufen. Bis Freitag hatte Freya Angst, dass auch bei ihr zuhause angerufen werden würde, dabei hatte sie ja gar nichts gemacht. Doch wenn man nah am Feuer war, wurde man meistens mit angezündet. Am Freitag konnte sie durchatmen. Freitage bildeten eine magische Linie, eine Grenze, die keinen Ärger durchließ.

Freitags hatte Freya Sportunterricht, genau wie Ian. Sie machten wieder draußen Unterricht. Die Grundschule hatte keine eigene Sporthalle. Und für eine Stunde Sport lohnte es sich nicht, in die Stadt zu fahren. Die Turnhalle neben der Mycathie-Akihi-Realschule wurde am Freitag von der 7a genutzt. Ians Klasse. Es gab noch zwei weitere siebte Klassen, die hatten zusammen Sport. Im Gegensatz zu Freyas Klasse, wurden die Jungen und Mädchen drüben getrennt. Während sich Ian umzog, fragte er sich, worin der Sinn von Mädchensportunterricht bestand. Die Turnhalle der Akihi-Realschule hatte nur eine nutzbare Umkleide, in die andere regnete es hinein. Die Mädchen mussten sich in einem Klassenraum umziehen. Das taten sie aber selten. Meisten saßen sie da und hörten Frau Gumny zu. Sie war auch die Bio- und Physiklehrerin der Klasse. Vivien und Lena hatten Ian mal den Ablauf so einer Sportstunde erklärt.

Ian war sehr froh, dass Herr Titschner nicht viel von Worten hielt. Herr Titschner war nicht besonders groß, aber auch nicht klein. Seine Haare hatte er abgeschoren. Er trug eine Halbglatze. Wie es für einen Sportlehrer üblich war, schlüpfte er früh am Morgen in einen Jogginganzug und an seinem Hals baumelte eine Trillerpfeife. Die Pfeife musste er allerdings selten benutzen, so gut wie nie eigentlich. Die Jungs hörten auch so auf ihn. Deshalb beeilten sie sich auch so beim Umziehen. Obwohl die Klasse sonst sehr laut war, redete in der Umkleide niemand.

Schlagmann brauchte am längsten, er war total unsicher und wollte sich nicht ausziehen. Dabei war, bis auf ihn und Leroy, jeder mit sich selbst beschäftigt. Schlagmann saß neben Ian. Ian sah im Vergleich zu ihm furchtbar dürr aus. Man merkte, dass ihm etwas mehr Essen guttun würde. Ian hatte noch keinen Bart, das beruhigte Schlagmann. Denn, obwohl er ein Jahr älter war als die meisten, hatte er nicht einen Fussel am Kinn. Deniz, Yusuf und Erol trugen schon einen Bart.

Matthias Schlagmann trödelte weiter herum, als er seine Hose anzog, hatte Ian schon sein T-Shirt drübergezogen. Jetzt konnte man die blauen Flecke auf seinem Rücken nicht mehr sehen. Schlagmann und Leroy Irion waren die letzten, die durch die Tür in die Halle gingen. Nur noch ein paar Jungs standen gebückt vor einem Hefter. Herr Titschner hatte den Hefter mit den Leistungskontrollen auf einen Hocker gelegt. So hielt er den Sportunterricht ab. An einem Tag wurden alle Leistungskontrollen erledigt und die restliche Zeit konnte zum Spielen genutzt werden. Es wurde fast immer Fußball gespielt. Alibimäßig wurde zwar gewählt, aber die Teams standen ohnehin schon fest. Ian Teutschwitz, Adem Aslan und Karim Mansour wählten.

In Ians Team waren er, SS-Sveni, der lange Franz, Alex Okowenko und Schlagmann.

Für Adem spielten Yusuf Dursun, Alparen Erkan, der nette Erol, Mert und Caglar.

Und Karim wählte seinen Landsmann Ahmet, dessen besten Kumpel und Riccardaverehrer Deniz, den anderen Alex, sowie Leroy.

Es waren immer die gleichen Mannschaften.

An eine schwarze, kleine Kreidetafel malte Herr Titschner den Turnierverlauf an. Eigentlich war es eine Liga. Jeder spielte zweimal gegen Jeden.

Zuerst Team Ian gegen Team Adem. Herr Titschner übergab den Ball, einer dieser gelben, mit Stoffummantelung. Caglar saß als Auswechselspieler neben Karim. Am Anfang der Doppelsportstunde konnte man noch von einem relativ gesitteten Spiel reden. Adems Team führte nach zwei Minuten mit drei Toren. Kleine Tore, letzter Mann hält. Letzter Mann bei Ian war natürlich Schlagmann. Darüber war dieser auch ganz froh, er orientierte sich immer an Ians Befehlen. An Ians Seiten standen Alex und Franz, vorne spielte Sveni. Technisch und körperlich waren Adems Jungs teilweise weit überlegen. Aber Ian versuchte das wettzumachen. Er organisierte seine Mannschaft. Adem, Yusuf, Alparen und Mert standen sich häufig regelrecht auf den Füßen. Bis auf Erol spielte auch niemand ab. Sie dribbelten sich fest.

Ian rief, je nach Seite, die Mitte gehörte ihm, zu Franz oder Alex: „Stellen! Stellen!“

Er wollte nicht, dass sie ran gingen. Er wusste, dass sie ausgedribbelt werden würden. Bei Franz war es leichter, ihn zu tunneln, als an ihm vorbeizuspielen. Der Typ konnte noch überhaupt nichts mit seinem Körper anfangen, wenn er rannte, schwangen die langen Arme wie Windmühlen an seinen Schultern. Alex war da besser, aber konditionell eine Niete. Das kam von den ganzen Kippen.

Ian wollte einfach nur, dass die beiden vor Yusuf oder Adem stehen blieben, den Weg sollten sie abschneiden. Dann rannte Ian von links nach rechts und gab sein Bestes, um den Ball zu erobern. Wenn er ihn hatte, spielte er ihn immer auf die gegenüberliegende Seite, rannte in den Raum in der Mitte, hoffte einen halbwegs geraden Pass zu bekommen. Ian nahm den Ball an und spielte zu Sveni, der ab und zu das Tor traf. Allerdings waren die anderen einfach zu gut. Zumal Schlagmann auch wirklich nur zufällig Bälle hielt. Irgendwie schaffte er es, bei Bällen, die direkt auf ihn zu kamen, noch auszuweichen. Er lief schon wieder rot an, teilweise aus Scham, aber auch wegen körperlicher Anstrengung. Als er mal einen Ball abprallen ließ, festhalten konnte er ihn nicht, kam Ian zu ihm, klatschte ihn auf den Rücken und lobte ihn. Das baute Matthias auf. Sie verloren trotzdem.

Das zweite Spiel, Ian gegen Karim verlief ähnlich dem ersten. Karim und Co waren individuell wieder besser als Ians Truppe, aber lang nicht so gut wie Adems Jungs. Doch dafür waren sie genauso ein Hühnerhaufen. Sie dribbelten sich andauernd fest, drehten ab, wenn es nicht weiter ging, niemand kam zur Unterstützung. Wenn sie mal den Ball eroberten, wusste niemand wo der andere war und deshalb liefen sie einfach los. Sie zogen einen Schnickser dem Pass und einen Hackentrick dem Schuss vor. Erol schien von den anderen der einzige zu sein, der verstand, dass man beim Fußball abspielen musste.

Wenn er Deutscher gewesen wäre, hätte Ian ihn gerne in seinem Team gehabt.

Karims Mannschaft hatte keinen Erol, deshalb verloren sie. Sie langen schon hoch zurück, als die Nicklichkeiten begannen. Und ab diesem Punkt hatte auch Sven Spaß.

Man musste aufpassen, denn Herr Titschner ließ zwar vieles laufen, aber nicht alles. Beleidigungen waren verboten, Spucken tabu und bei Fouls, musste der gelbe Ball zumindest in der Nähe sein. Aber alles andere war erlaubt. Ian und Sven liebten es, einen Mann zu doppeln und dann beide in ihn hineinzurennen. Wenn sie ausgedribbelt wurden, ließen sie das Bein stehen. Bei Zweikämpfen ging man mit angelegtem Arm rein und drückte den Gegner dann weg. Man versuchte, so oft wie es ging, auf den Spann zu treten. Nach jedem Schuss, nach jedem Pass musste trotzdem noch in den Mann gegangen werden und Pressschläge mussten um jeden Preis provoziert werden. Wer zurückzog verlor.

In den Liedern, die SS-Sveni und Ian hörten, wurde ihnen weiß gemacht, dass sie hart wie Stahl und zäh wie Leder wären. Dem versuchten sie gerecht zu werden. Im vorletzten Spiel bekam Ian dazu die Chance. Er lief nach einem Pass von Sveni auf das Tor zu. Es war einer seiner seltenen Ausflüge an die Front. Er schoss und in dem Moment knallte Adem ihn von hinten in die Beine. Herr Titschner pfiff zum ersten Mal. Die Schüler wurden ermahnt, doch es dauerte keine zwei Minuten bis zum nächsten Zusammenprall.

Erol versprang an der Seitenlinie der Ball, weit weg vom Tor. Trotzdem gingen Adem und Ian mit Schaum vor dem Mund rein. Und nun hatten sich die Provokationen ausgezahlt; Pressschlag vom Feinsten. Adem kullerte schreiend auf dem Boden. Herr Titschner pfiff und Ian grinste.

Erol packte ihn an der Schulter und riss ihn herum.

„Ian, du bist wahnsinnig.“

Erol war mit jedem in der Klasse cool. Erol war nett und schien sich einfach mit allen zu verstehen. Bis auf Ian. Für ihn war Ian nur ein dummer Rassist.

Sicherlich sagten Adem und die anderen auch viele rassistische Sachen. Aber Ian war absolut wahnsinnig. Adem stand wieder auf und flüsterte Ian zu, dass er das zurückbekommen würde. „Wallah, ich schwör!“

Erol sah dann, wie Caglar für Adem reinkam, aber da war das Spiel dann auch fast vorbei. Sie spielten noch gegen Karims Team und gewannen dieses Spiel. Sie belegten den ersten Platz. In der Umkleide beeilte sich Erol. Er war sich nicht sicher, ob es Ärger geben würde und wenn, dann wollte er damit nichts zu tun haben. Adem redete zwar laut, aber er ging nicht zu Ian rüber. Erol wusste gar nicht mehr, weshalb die beiden sich so sehr hassten. Es war nicht so, dass es sich um einen Machtkampf handelte. Bei Ian konnte man schon von einem Klassenking reden. Das lag auch daran, dass er bei den Mädchen sehr beliebt war. So etwas brachte immer Pluspunkte. Außerdem machten Alex, Schlagmann, Franz und Sveni alles was er sagte. Aber Adem? Der hatte nun wirklich nicht den großen Rückhalt. Wenn Erol Adems Stellung mit seinem Fußballmanagerspiel vergleichen sollte, würde er sagen, dass Adem ein einflussreicher Schüler war. Ian war ein Anführer. Nicht direkt für ihn, nicht für die Nichtdeutschen, wie Ian selbst sagen würde. Doch die Mädchen mochten ihn wirklich sehr, Erol wusste, dass das allein schon Ansehen bedeutete. Adem und Ian konnten sich also wirklich nicht um einen imaginären Thron streiten. Vielleicht lag es an Lena. Erol wusste, dass Adem Lena hübsch fand. Aber wer tat das nicht? Trotzdem dachte Erol nicht, dass das ein Grund wäre. Für Jungs wie Erol und Adem war Lena unerreichbar. Lena war eines der Mädchen, die ein eigenes Zimmer hatten, sogar mit eigenem Schlüssel. Wenn ihr Vater erfahren würde, dass Lena etwas mit einem Ausländer anfangen würde, dann wäre er auf hundertachtzig. Selbst für Erol, der bis auf die schwarzen Haare und dem Bart, nichts mit dem stereotypischen „Kanak“ zu tun hatte, war klar, dass sich Lena in einer ganz anderen Liga befand. Wenn er seinen Fußballmanager als Maßstab nahm, würde er sagen Europapokalfinale und Vorausscheid Toto-Cup. Das waren einfach zwei Welten, die nur im Klassenraum aneinander kratzten. Als Erol sah, wie Adem wartete, dass Ian aus der Umkleide ging, musste er sich ein Grinsen verkneifen. Denn erst danach beleidigte er ihn. Adem war vor Kurzem aus dem „Schneiders MMA-Gym“ geflogen. Dass war ein Paulmanderer Kampfsportverein, der ein sehr hohes Ansehen genoss, da er sich für die Flüchtlingshilfe, für Obdachlose und andere soziale Projekte einsetzte. Dem Besitzer war ein soziales Miteinander extrem wichtig. Lange vor Erols Zeit, da gehörte Paulmander noch gar nicht zu Schaldstätten, war der Besitzer ein überregional bekannter Boxer gewesen. Seine verstorbene Frau hatte mit ihm das Gym aufgemacht. Adem behauptete er sei freiwillig gegangen, da das alles Nieten seien. Erol wusste allerdings, dass Adem rausgeflogen war, weil er immer nur auf Kopfjagd ging und das, obwohl Dreizehnjährige natürlich nur mit Schutzausrüstung sparren, wenn sie überhaupt Sparring machten. Außerdem hatte er sich an keinerlei Regeln gehalten. In dem Dorf, in dem Erol wohnte, arbeitete jemand in dem Gym, daher wusste er das.

Und obwohl Adem dieses Aggressionspotenzial besaß, legte er sich nicht mit Ian an. Zwar hatte in dieser Umkleide beinahe jeder mindestens zehn Cousins und Brüder, doch von Ian wusste man, dass er ein paar ominöse Gestalten kannte. In dem albernen Mikrokosmos eines Siebtklässlers, war Ian jemand, mit dem man sich nicht anlegen sollte. Zumal Paulmander auch einer der Stadtteile war, in denen Deutsche in der Mehrheit waren. Erol wollte damit wirklich nichts zu tun haben.

Vor der Tür der Turnhalle wartete Elen Civelek auf Erol. Die beiden Zwillinge standen neben ihr. Sie waren Nachbarn. Ridvan und Dilan hatten zwar schon vor einer Stunde Schluss gehabt, doch der Zug fuhr nur aller zwei Stunden. Zu viert gingen sie runter in die U-Bahnstation „Paulmander Ring“.

„Frau Gumny hat heute schon wieder die Balkongeschichte erzählt“, berichtete Elen, als sie die lange Rolltreppe runterfuhren. Obwohl Paulmander so weit draußen lag, war die U-Bahnlinie so weit unten, dass einem beim Hinabschauen fast schwindelig wurde.

Die Zwillinge fragten nach der Geschichte und Elen erzählte sie erneut, genauso, wie Frau Gumny Geschichten mehrere Male erzählte. Frau Gumnys Art Sport zu Lehren war Elen ganz recht. So wie den meisten anderen Mädchen auch. Elen mochte keinen Sport und viele Mädchen ersparten sich so die Diskussionen mit ihren Eltern, da sie keinen Sport machen durften.

In der U-Bahn saßen die Zwillinge nebeneinander. Elen saß neben Erol. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie kontrolliert wurden. Es war nicht so, dass sie mittlerweile daran gewöhnt waren. Es war schon immer so gewesen. Sie kannten es nicht anders.

Du bist Ausländer? Na, dann zeig mal deine Fahrkarte. Keine Bitte. Ist die Karte gefälscht? Bist du das wirklich auf dem Bild? Ihr seht doch alle gleich aus. Hier Manfred, komm mal her. Zügig, zack, zack.

Mit Deutsch, Englisch und Geschichte hatten Elen und Erol wenig Schulzeug in ihren Ranzen. Elen nahm ihn an ihre Brust, verdeckte damit ein bisschen den Bauch. In letzter Zeit war sie unsicherer geworden. Erol fand nicht, dass sie dick war. Sie war nett, das war das Problem. Es gab in der Klasse dickere Mädchen, doch die waren nicht so nett, sie hatten Selbstvertrauen und stachen lieber zu als auszuweichen. Erol war auch nett, aber schlank. Er wurde nicht geärgert. Es gab nur einen Nachteil für ihn; die Mädchen mochten keine netten Kerle.

Erol mochte Lena und die mochte Ian, welcher bekanntermaßen ein Arschloch aller erster Güte war. Bei Ian nervte ihn am meisten die Tatsache, dass er trotz seiner beschissenen Art so gute Noten schrieb. Erol lernte viel, deshalb fand er es im Moment auch nicht so schlimm, dass er für die meisten Mädchen nur ein sehr guter Freund war, denn er hätte gar keine Zeit für eine Beziehung gehabt. Seine Worte. Und obwohl Erol viel lernte, waren seine Noten nur marginal besser als Ians. Zum Kotzen war das alles.

Daran dachte er, während er für eine ältere Dame Platz machte, die gerade einstieg. Am „Bokettoberg“ stiegen viele Menschen aus und ein. Aber nicht um diese Uhrzeit. Es war auch noch genug Platz in der Bahn. Aber Erol hatte gelernt, dass deutsche Omas nur darauf warteten kleine Ausländer anzuschnauzen. Er wollte ihr keine Gelegenheit dazu geben. Die Oma bedankte sich nur mit einem ganz kurzen Nicken. Wahrscheinlich wähnte sie sich im Recht und hielt es für eine generöse Geste ihrerseits.

Erol regte sich nicht darüber auf. Nicht mehr. Nett sein ersparte viel Ärger. Er stand an der Tür und schaute raus. Die Haltestelle löste sich auf. Die Bahn fuhr in den Tunnel. Die Fliesen, Bänke, Informationstafeln und der Kiosk verschwanden. „Bokettoberg“ war eine Baustelle. Die silberne Isolierfolie ließ den Bahnsteig spacig und futuristisch aussehen. Erol fand es toll, sah gut aus, hätte man so lassen können. Doch er wusste, dass eine Künstlerin den Bahnhof umgestaltete. Seiner Meinung nach würden es nur grüne Striche werden. Er kannte den Entwurf. An den kleinen Bildschirmen in der U-Bahn wurde er schon oft gezeigt. Die grünen Striche bildeten ein Kunstwerk, das hier in Schaldstätten ausgezeichnet wurde. Der Bürgermeister hatte es von der Künstlerin ersteigert. Der weibliche Künstler hatte den Erlös einem gemeinnützigen Verein gespendet, der Fixerräume am Hauptbahnhof organisierte. Das fand Erol nett von der Künstlerin.

Die U6 hielt gerade in „Paulmander Nord“, Endstation, lag nicht so tief wie der „Paulmander Ring“. Die Sonne schien durch die Treppenschächte auf den Bahnsteig. Beim Hochlaufen rutschte Ridvan der Ranzen von der linken Schulter. Erol zog die Schlaufe wieder fest. Sie mussten nun noch fünf Minuten bis zum Nordbahnhof laufen. Dort fuhr ihr Zug.

Was Erol blöd fand, war, dass der Bürgermeister Sahin für 300.000 € ein Gemälde ersteigert hatte, um es in seinem Büro aufzuhängen. Weil die Künstlerin in Schaldstätten unbeliebt war, hatten ihm das viele Wähler übelgenommen. Westlich des großen Flusses, noch hinter Weselsheim und dem Stadtzentrum, irgendwo an einer Haltestelle der U1 In Kleinsbeck, hatte die Künstlerin schon einmal eine U-Bahnstation designt. Zusammen mit dem örtlichen Fußballverein, der nur in der Regionalliga spielte, was für eine Millionenstadt wie Schaldstätten eine Blamage sondergleichen war, gab es eine große Eröffnungszeremonie. Der Verein veröffentlichte sein neues Trikot, welches er zur nächsten Saison tragen wollte. Über die Brust zog sich jenes Muster, welches die Künstlerin entworfen hatte und auch an den Wänden der U1-Station zu sehen war. Allerdings hatte sie nur bedingt die Nutzung erlaubt. Es gab einen Rechtsstreit, den die Künstlerin gewann. Der Verein musste ihr 300.000 € zahlen. Deshalb waren sie gezwungen ihren Rechtsverteidiger zu verkaufen. Damals 21 Jahre alt, beidfüßig und kam aus der eigenen Jugend. Er spielte später in der 2. Liga. Sehr variabel einsetzbar. Klassisch in der Viererkette oder als Schienenspieler in einem 3-5-2-System. Bei einer Dreierkette konnte er zur Not auch den rechten Innenverteidiger mimen. Der Verkauf des letzten echten Schaldstätteners hatte ziemlich weh getan.

Seit dem Verkauf des Stadions spielt der Verein noch nicht einmal mehr im Stadtgebiet, sondern an der südwestlichen Grenze. Ob er eine Lizenz für die nächste Saison bekommen würde, war jetzt schon fraglich, sie mussten unbedingt aufsteigen. Während Erol, Elen und die Zwillinge in den Zug einstiegen und aus der nördlichsten Grenze fuhren, dachten sie daran, dass es bis dorthin eine halbe Weltreise sein müsste.

Vier Stationen mussten die Schüler mit dem Zug fahren. Zunächst fuhr dieser wieder nach Süden und hielt am Bahnhof „Bokettoberg“, nicht zu verwechseln, mit der gleichnamigen U-Bahnstation, dann fuhren sie durch die Kleingartenanlage „Vogelshausen“, Haltestation: „Naherholung Vogelshausen“. Jetzt verließen sie endgültig das Stadtgebiet. Die Schienen lagen in einem grünen Graben und teilten ein Feld. „Nordbahnhof“, „Bokettoberg“ und „Naherholung Vogelshausen“ waren in fünf Minuten abgefahren. Nach weiteren fünf Minuten hielt der Zug in „Gabelum“. Die Gleise lagen genau in der Mitte des Dorfes. Die nächste Station war ein Bedarfshalt. Erol drückte die rote Taste. Der Zug hielt in „Tuhlmskirch“. Alle vier steigen aus. Der Zug fuhr wieder los und sie waren allein. Gefühlt mitten im Nirgendwo. Eine Straße führte über die Gleise. Die Halbschranken öffneten sich und die Kinder gingen zu den Häusern. Hinter ihnen führte die Straße ewig lang geradeaus. Pappeln standen links, Apfelbäume rechts. Sonst war da nur Feld. Es gab keinen Mittelspursteifen, keine Seitenmarkierungen und keinen Fuß- oder Radweg. Nur vom Raps umgefärbte Pinguine machten einen offiziellen Eindruck. Hinter der Apfelbaumseite lag ein Graben, das Wasser floss durch ein Rohr unter den Schienen durch. Die Kinder liefen auf der Straße, gingen in das Dorf hinein. Zunächst standen nur ein paar Häuser an der Seite. Dort, wo der Graben lag, war immer noch nur Feld. Die Straße kreuzte sich mit der Hauptstraße des Dorfes. Diese führte kurvenreich zur Kirche, welche das Zentrum des Dorfes bildete. Vor der Kirche gab es einen kleinen Ententeich, um den Holzbänke standen. In der Mitte schwamm, wenn man vom Schwimmen sprechen konnte, schließlich hielt ein Stein das Gebilde an Ort und Stelle, ein Entenhaus. So waren sie vor Füchsen geschützt. Die Meyers hatten einen Hund, der lief stets ohne Leine durch das Dorf. Vor ihm brauchten die Enten keine Angst haben, obwohl er die Wasserdistanz ohne Schwierigkeiten überbrücken könnte.

Der Friedhof und das Kirchhaus waren von einer kleinen Steinmauer umgeben. Neben dem Eingangstor stand eine Skulptur des Tuhlmspatzen auf einem Sockel.

Tuhlmskirch gehörte zu einer Gemeinde, deren Bürgermeister sich für die Wiederbelebung der Dörfer einsetzte. Umso größer Schaldstätten wurde, umso beliebter wurden auch die umliegenden Ortschaften, der Donuteffekt hatte aber zunächst nur Auswirkungen auf die Dörfer im Westen und im Süden von Schaldstätten. Mit Paulmander war im Nordosten schon die nächstgrößere Stadt eingemeindet worden, niemand glaubte, dass Schaldstätten in diese Richtung weiterwachsen würde. Zumindest nicht in den nächsten drei Jahrzehnten.

Im Süden gab es noch eine schöne Kleinstadt, sie profitierte von den Laubwäldern und den Baggerseen. Die Neuen zogen dorthin, die Reichen zogen dorthin. Die Leute in den nördlichen Dörfern schauten, ob sie sich eine der freiwerdenden Wohnungen im Stadtgebiet leisten konnten. Doch mit jedem Auszug wurden sie nur teurer. Um die Dörfler hier zu behalten, hatte der Bürgermeister ein paar Projekte gestartet. In jedem Dorf gab es eine Post und, was noch viel besser war, einen Dorfladen. Es war kein Tante-Emma-Laden. Man arbeitete mit einer großen Firma zusammen.

Aber irgendwie war es schön dort einkaufen gehen zu können, wo man wohnte. Nicht nur für die Älteren. Zugleich gab es auch so etwas, wie einen Treffpunkt mitten im Dorf. Und da Tuhlmskirch einen Bahnhof hatte, benötigte man noch nicht einmal ein Auto. Erol wollte hier trotzdem weg. Der lange Schulweg schlauchte ziemlich. Elen gefiel es hier, sie könnte sich vorstellen zu bleiben.

Am Sonnabendfrüh waren Elen und Erol schon um 8:00 Uhr wach. Dabei ging es gestern lang. Sicherlich bis nachts um zwei. Vierzig wurde man schließlich nicht aller Tage. Elen und ihre Geschwister hatten ihrer Tante Steffi ein Badeset geschenkt, mit Schwämmen, Schaumbädern und Badekugeln. Ihre Mutter Gabi hatte das vorgeschlagen, schließlich kannte sie ihre Schwester am besten und am längsten. Sie saßen im Garten des Dreiseitenhofes. Ursprünglich gehörte er Horst Silmer, den Opa von Elen, und seiner Frau Anke. Dann hatte er ihn allerdings an Nuri Civelek, Elens Vater verkauft und für sich und seine Frau lebenslanges Wohnrecht im Grundbuch eintragen lassen. Die beiden Rentner brauchten den vielen Platz nicht für sich allein und pflegen konnten sie das Haus ohnehin nicht mehr. Sie waren froh ihre Tochter Gabi und die Enkel wieder bei sich zu haben. Es gab auch mit Nuri keine Probleme. Auch nicht, als Nuris Arbeitskollege Alper Yilmaz mit seiner Familie in den leerstehenden Flügel einzog. Alper und Nuris Väter waren in der Türkei und in Deutschland Arbeitskollegen gewesen. Dort, wo jetzt Leute in Baggerseen badeten. Der Hof war also wieder voll. Und bei so einem Geburtstag noch mehr als sonst. Steffi Silmar hatte ihren Freund und das neugeborene Kind mitgebracht. Außerdem hatte Gülsah, die Mutter von Erol und Frau von Alper, die Kinder ihrer zweitältesten Schwester eingeladen.

Erol brachte seinen Cousins gerade Brötchen, als Horst und Anke zum Tisch kamen. Für Erol waren diese beiden, wie eigene Großeltern. Dementsprechend war Elen für ihn, wie eine Schwester, das zählte auch für die Zwillinge. Elen hatte auch noch einen Bruder, der war aber viel älter und als die Familie Yilmaz aus Schaldstätten raus und nach Tuhlmskirch reingezogen war, machte Marius schon sein Abitur. Da war Erol vier Jahre alt gewesen. Bis weit in den Mittag rein frühstückten sie. Das Mittagessen an sich viel aus. Es stand noch ein Ausflug auf dem Programm. Die ganze Bande, nur Steffis Freund blieb mit den ganz jungen Kindern zuhause, fuhr in die Stadt. Es war ein heißer Frühherbsttag. Die Familien nutzten die gute Anbindung und fuhren mit dem Zug zum „Bokettoberg“. Von der Haltestelle zum See, war es nur ein kurzer Fußweg. Es dauerte trotzdem lange, da Anke nicht mehr so gut zu Fuß war und Ridvan und Dilan viel herumtollten. Der See war brechend voll. An den Wochenenden kamen die Studenten aus dem Stadtzentrum hier her. Die Familien aus den Dörfern spazierten unter den gepflegten Schwarzerlen.

Um den See und um den Berg herum, sah Paulmander am schönsten aus. Die Einkaufpassagen und die Einkaufscenter luden zum Flanieren ein. Vom See konnte man über den Tuhlm mit einem Boot, bis zum Hafen kommen. Es roch nach gegrilltem Fleisch, es roch nach Eis und es roch nach griechischen Joghurt. Auf der Tuhlmspatzbrücke, die, wie sollte es auch anders sein, über den Tuhlm führte, stand ein Straßenmusiker. Ridvan sah, wie Patrick Schmidt Münzen in den Becher schmiss. Ridvan kannte den Jungen aus seiner Klasse. Er winkte ihn zu, aber erst nachdem Patricks Mutter ihn darauf aufmerksam machte, winkte er zurück.

„Wer war denn das?“, fragte Gabi ihren Sohn.

„Patrick, der geht in meine Klasse.“

„ ,Der´ sagt man nicht. Und ist er nett?“

„Ja schon. Er redet nicht viel. Wenn wir mit Amber Zettel schreiben, und der zu weit fliegt, dann hebt er ihn immer auf.“

„Ihr sollt doch im Unterricht keine Zettel schreiben“, regte sich Gabi auf.

Opa Horst dreht sich um, mit ihm Anke, die bei ihm eingehakt war. „Ach, lass sie“, sagte er, „solange sie der Pauker nicht erwischt, ist doch alles gut.“ dann zwinkerte er, wie nur ein Opa zwinkern konnte.

Elen und Erol grinsten vielsagend. Gabi fiel das auf, sie fragte nach dem Grund.

Elen erzählte: „Letztes Jahr hatten wir einen Geolehrer, den haben wir jetzt nicht mehr. Aber der war immer darauf aus, die Zettel zu erwischen. Da mussten wir immer ganz genau aufpassen, dass wir nicht geschnappt werden und das heimlich machen.“

Sie überschritten die Brücke und gingen durch das Tor eines Altersheimes. Der Weg war asphaltiert, Spatzen badeten in kleinen Springbrunnen. Vor dem Seiteneingang stand ein Bushalteschild. Opa Horst ging hinein. Elen erzählte weiter: „Aber der Lehrer hat sich nicht damit begnügt, die Briefchen nur einzusammeln. Und einmal, da hat er von Tania … doch Mama, die kennst du, das Mädchen, das wie Schneewittchen aussieht, die ist mit Dilan in der Buch-AG, von der hat er einen Zettel genommen. Das war ein Gespräch zwischen ihr und Adem, da saß der noch hinten in der letzten Reihe. Und Adem hat ihr geschrieben, dass er sie hübsch findet und in sie verliebt ist. Was total komisch war, da er sie nach ihrem ,Nein´, welches der Lehrer auch laut vorgelesen hatte, richtig oft geärgert hat, dass sie hässlich sei und so. Das macht er noch heute.“

Elen stoppte, als sie alle Hiltraut begrüßten. Elens Uroma saß in einem Rollstuhl. Sie wurde von Steffi zum See geschoben. Erol sah, wie ihnen Lena und Ian entgegenkamen. Ihm war es peinlich mit der Familie gesehen zu werden, doch er konnte sich nicht verstecken. Lena bemerkte ihn, aber ihr Blick verriet nicht, ob sie ihm wahrgenommen hatte. Sie hatte so eine Art. So eine kalte Art über Menschen hinwegzuschauen, als wären sie Luft.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Lehrer eure Briefe nicht lesen darf“, sagte Nuri.

„Ja, und genau das ist der Punkt. In der nächsten Geostunde hat sich ein Klassenkamerad, Ian, von ihm mit Absicht erwischen lassen. Ian hatte gebeten, den Brief nicht laut vorzulesen, doch der Lehrer hörte nicht auf ihn.“

„Hätte er es mal lieber gemacht“, schob Erol lachend ein.

„Wieso?“, fragte Gabi.

„Ian hat auf den Zettel geschrieben, dass das was der Lehrer macht, gegen das Briefgeheimnis verstößt und gegen Persönlichkeitsrechte. Mit Paragrafen und dem ganzen Quatsch.“

„Das ist ja ein starkes Stück“, Opa Horst lachte.

Gabi nahm ihre Tochter und ließ sich etwas fallen, sie fragte: „Wie heißt´n dieser Ian mit Nachnamen?“

„Teutschwitz. Wieso?“

„Ich möchte bitte, dass du dich ab sofort von diesem Jungen fernhältst. Ich kenne seinen Vater. Weißt du noch, was ich dir von dem Flüchtlingsheim und den Feuerwochen erzählt habe?“

Was für eine Frage, jeder Nichtbiodeutscher in Paulmander wusste von den Feuerwochen.

„Ja Mama, das habe ich natürlich nicht vergessen. Ich habe auch gar nichts mit ihm zu tun. Der geht nur in meine Klasse. Der kann ja aber auch nichts für seinen Vater.“

Alex gab Ian das Feuer zurück. Er pustete den Qualm seiner Zigarette in die Gesichter der Kinder, die gerade in den U-Bahntunnel hineingingen. Lena rauchte auch. Ian nahm das Feuerzeug und steckte es vorsichtig in seine Hosentasche. Man merkte, dass er sich bedacht bewegte, als würde ihm etwas weh tun oder als rechnete er damit, dass eine falsche Bewegung ihm Schmerzen zufügen könnte. Am Sportunterricht konnte es nicht liegen. Heute hatten sie nicht Fußball gespielt.

Lena hatte die Kippe von Alex bekommen. Alex hatte die Schachtel in einem Supermarkt geklaut. Damals waren noch nicht alle Schachtel hinter den runden Gittern. Das, was Lena und Alex da rauchten, hatte keine Filter. Ein Feuerzeug hatte Alex nicht erbeutet, seine Mutter hatte auch keins zuhause. Nur eine Streichholzschachtel für die Kerzen und es würde ihr auffallen, wenn diese fehlen würde. Ian rauchte zwar nicht, doch er hatte immer ein Feuerzeug dabei.

„Telefonieren wir heute wieder?“, fragte Lena zwischen zwei Backenzügen.

„Wann?“, fragte Ian. Er hatte das Angebot von Alex doch angenommen. Dessen altes Handy lag nun in seiner Hosentasche. Es war Ians erstes Handy. Frau Okowenko, Kalina, hatte für Ian eine Prepaidkarte gekauft und ihm gezeigt, wie man das Guthaben auflädt. Ian hatte versprochen das Geld zurückzuzahlen, aber Kalina hatte das abgewunken. Es sollte nur ein Geheimnis bleiben. Ians Eltern mussten es nicht erfahren.

Lena rief Ian an, so musste er nichts bezahlen, Lena hatte ja eine Flatrate. So richtig wusste Ian immer noch nicht, was das bedeutete. Aber es war auch nur gerecht, dass es Lena war, die bezahlte. Schließlich bestanden Telefonate zwischen den beiden Siebtklässlern zu neunzig Prozent aus Lenas Geschichten und zu zehn Prozent aus Ians zustimmenden, knappen Worten.

Anscheinend waren sie jetzt zusammen. Ausgesprochen hatte es niemand. Die Sommerferien waren wohl nur eine überlange Pause gewesen. Es war Freitag. Zwei Wochen, zehn Schultage und achtundfünfzig Unterrichtsstunden waren vergangen. Der Zauber eines neuen Schuljahres war komplett verflogen. Ian genoss die Telefonate mit Lena, auch wenn sie von dem Wind und dem Straßenlärm auf seiner Seite der Leitung genervt war. Lena nervte ihn nicht. Sie fragte nicht, wie es ihm ging oder was er erlebte. Sie erzählte, wie ihr es ging und was sie erlebte. Dazu wollte sie Ians Meinung hören. Sie erzählte, was ihre Eltern ihr gekauft hatten, sie erzählte, wie langweilig Tanias neues Oberteil war und wie toll sie den Kuss fand. In dieser so kleinen Welt eines Siebtklässlers waren sie ineinander verknallt. Am Mittwoch hatten sie sich das zweite Mal geküsst. Am Spielplatz neben dem Schwanenteich. Das war der Tag, an dem Ian zu spät nachhause kam.

Er wusste nie genau, wann er zuhause sein sollte. Vor seinem Vater, das war klar. Aber der kam manchmal um sieben und manchmal um acht. Da sollte das Essen auf dem Tisch stehen und Ian und Freya in ihrem Zimmer sein.

Herr Teutschwitz war ziemlich sauer, als Ian die Haustür aufschloss. Da es schon spät war und Herr Teutschwitz keine Zeit mehr verplempern wollte, schlug er Ian gleich im Flur zusammen. Ian merkte, dass er noch kein Bier getrunken hatte. Nüchtern war sein Vater aktiver. Die Schläge waren okay, klar er hätte auch darauf verzichten können, aber er war daran gewöhnt. Außerdem schlug sein Vater nur mit den Fäusten zu. Die Mutter nahm den Schuhanzieher oder die nassen Wischtücher zu Hilfe. Und danach redete sie immer mit ihm.

„Warum machst du es denn so schwer? Möchtest du dich nicht deiner Schwester zuliebe besser benehmen?“

Die Worte taten meist mehr weh. Dazu kam noch, dass er stärker war als seine Mutter. Der Stärke verprügelt den Schwachen, die Regel konnte Ian akzeptieren. Aber wenn ihn seine Mutter schlug, war das anders. Die Schläge seines Vaters hielt Ian ganz gut aus. Doch an diesem Tag war es sehr schlimm. Ians Vater schlug ihn eigentlich immer gegen den Körper, manchmal gab es zwar Ohrfeigen, aber meist ging es gegen den Körper. Brust, Bauch, Rücken, Schulter. Herr Teutschwitz hielt sich an das, was der Papst gesagt hatte. An diesem Tag traf Herr Teutschwitz Ian an der Leber. Erst merkte Ian nichts. Zwei Sekunden später klappte er wie ein Campingstuhl zusammen, er rutschte an der Haustür runter. So etwas hatte er noch nie gespürt. Da war kein Kampfgeist, keine Widerstandskraft. Sein Körper hatte einfach gesagt „Nup“ und das war´s.

„17:00 Uhr?“, fragte Lena.

Ian überlegte, er wollte heute noch etwas mit Freya machen, dann sagte er: „17:00 Uhr ist okay. Ich kann aber nur eine Viertelstunde.“

Lena merkte zu spät, dass die Gruppe hinter ihnen sich auflöste und ein paar der Leute zu Ian gingen.

„Na, Russe“, sagte Kralle. Alex wurde gleich einen ganzen Kopf kleiner. Auch Lena fühlte sich unwohl. Das lag auch daran, dass Riccardas Schwester Sarah neben Kralle stand. Lena lästerte immer über diese großen Brüste, aber irgendwie machten sie ihr ... ja ... sogar ein bisschen Angst. Sie kratzen an ihrem Selbstbewusstsein und das machte ihr Angst, Sorge wohl eher. Dass sie selbst kleine Brüste hatte, hinderte Kralle nicht daran, voll drauf zu starren. Lena schaute zu Ian. Sie erwartetet alles von ihm. Er sollte machen, dass die Blicke aufhören, er sollte selbst nicht auf Sarahs Brüste schauen und er sollte mit ihnen jetzt gehen. Kralle und Sarah machten ihr Angst. Die beiden waren böse, da war sich Lena sicher. Schlechte Menschen. Jetzt stellte sich auch noch Carlo Schikowski dazu. Doch, bevor der etwas sagen konnte, meinte Ian, dass Alex dazu gehörte und einer von „uns“ sei. Carlo grinste, als Ian das sagte. Kralles Augen blitzen. Ian gab meist einen Fick darauf, ob jemand größer oder älter war. Er hatte ein gutes Gespür, er wusste, wem er widersprechen konnte und wann er sein Maul halten sollte. SS-Sveni war da ganz anders, er war sehr impulsiv. Das handelte ihm eine Menge Ärger mit den Lehrern ein. Das fand Ian nicht so schlimm, Ärger mit Lehren nahm er auch gerne mal mit, das nahm er in Kauf. Aber nur, wenn er im Recht war. Nur wenn das, was der Lehrer machte diesen diffusen deutschen Ehrenkodex mit den überschriebenen Wörtern „Treue, Ehre und Stolz“ widersprach. Nicht um jeden Preis zankte er sich mit den Lehrern. Auch, weil sie meistens zuhause anriefen und seine Eltern das so semigut fanden. Aber SS-Sveni war da anders, er regte sich wegen jedem Scheiß auf, auch wenn er absolut im Unrecht war. Auch deshalb lag er sich mit Kralle oft in den Haaren. Und Kralle war niemand, mit dem man Streit haben wollte.

Was Erol über Ian dachte, traf auf Kralle zu hundert Prozent zu. Aber Ian konnte Alex nicht beleidigen lassen. Alex war einer seiner Freunde. Seine Freunde ließ er nie im Stich.

Deutsch sein, heißt treu sein.

Lena und Alex verabschiedeten sich so schnell wie es ging. Kralle wollte dem „Russen“ noch einen Spruch drücken, doch Ian fiel ihm ins Wort. Das tat er nicht leichtfertig. Kralle könnte ihn ziemlich zu Klump hauen. Dazu war sein großer Bruder auch noch in der Partei. Kralle war in allem extremer. Wenn es nach ihm ging, sollte man nur reindeutsche Freunde haben.

Freya freute sich sehr. Sie hatte nur vier Stunden gehabt. Keine Hausaufgaben. Sie schaute auf die Uhr. Sie wusste, wann Ian freitags sonst nach nachhause kam. Freya war erkältet. Die Zeit verging langsam.

„Na, wo ist mein kleines Nießmonster?“, rief Ian, als er die Haustür aufschloss.

„Ey, du steckst mich ja noch an“, scherzte er, als Freya ihn umarmte.

Er ging schnell in Bad und aß danach mit Freya Toast. Getoastetes Toast. Das war ihr Geheimnis, das mussten die Eltern nicht erfahren.

Es war ein besonderer Tag und der Toaster blieb intakt. Alhamdulillah

Freya protestierte, doch Ian bestand darauf. Sie sollte sich eine Strickjacke anziehen und ein Halstuch. „Wenn es zu warm wird, kannst du das ja immer noch ausziehen.“

Vom Kleinhauerweg, bis zum Schwanenteich, bis zur Teutebergstraße, war es nicht weit. Die Teutschwitzkinder waren es gewohnt zu laufen. Aber ähnlich wie Ridvan und Dilan, verzögerte auch Freya das Vorankommen. Sie war sehr neugierig, sehr aufgeweckt. Sie ließ ihre Augen von einem Haus zum anderen, von einem Auto zu einem Passanten rasen. Sie stellte Ian viele Fragen. Nicht auf alle hatte er eine Antwort. Er hielt Freya für sehr schlau, schlauer als sich selbst. Sie hatte ihre Schulbücher, die Schulbücher von Ian und den Atlas zweimal gelesen. Sie las sehr gerne, das wusste Ian. Deshalb gingen sie auch in die Teutebergstraße. Dort hatte er nämlich etwas entdeckt.

In ein paar Wochen konnte Ian für Freya Bücher aus dem Bücherraum klauen. Er verstand nicht so ganz, weshalb es ihr Freude machte Goethe, Schiller und Willhelm-Hauff zu lesen, aber das war ja nicht sein Bier, nicht sein Brot, nicht sein Toast. Ihr sollte es Spaß machen. Wenn sie sich freute, freute er sich mit. Aber es würde eben noch ein paar Wochen dauern. Nach den Ferien wurde der Raum noch zu oft benutzt. Es wurden noch Bücher ausgetauscht, denn viele Eltern waren nicht damit einverstanden, dass ihr Kind Schimmel auf dem Mathebuch hatte. Außerdem wurden die ersten Pflichtlektüren verteilt. Ian würde in diesem Jahr nur ein Buch lesen. Lessings Nathan der Weise. Ansonsten würden sie nur Grammatik behandeln. Frau Lärmer-Nilmarch war in den Genitiv und in Partizippronomen verliebt.

Freya hatte Lessing schon gelesen. Sie erzählte Ian, um was es ging.

Als sie in der Teutebergstraße ankamen, zeigte Ian ihr, was er entdeckt hatte. Die Telefonzelle war umgestaltet worden. Holzbretter waren angeschraubt. Auf dem Boden standen Pappkisten. Die Tür zierte ein Schild mit der Aufschrift „Nimm ein Buch, gib ein Buch“.

Freya strahlte, bis sie realisierte, dass sie gar kein Buch dabeihatten. Aus einem der Fenster der Mehrfamilienhäuser schaute wieder die Oma. Ian zog ein Fußballheft aus seiner Hosentasche hervor. Es hatte nur A5-Format und lag mal irgendwo bei. 300.000 € hatte der Rechtsverteidiger gekostet. Wie viele Bücher man davon hätte kaufen können. Locker genug, um Freya für ein Jahr zu beschäftigen.

Ian hatte kein Gefühl für so viel Geld. 300.000 € waren für ihn so viel wie eine Million. Unerreichbar. Er hatte schon keine Ahnung, wie er Kalina die fünfzehn Euro für die Prepaidkarte zurückzahlen sollte. Die Jungs, die auf dem Schulhof das Gras und das andere Zeug vertickten, die hatten bestimmt genug für ein ganzes Handy. Das war ihm aber zu heikel. Außerdem gehörte alles was mit Drogen zu tun hatte den Türken.

Für Ian war das klar. Das waren alles Türken, egal was auf ihren Pass stand.

Und mit den Clans wollte er nichts zu tun haben. Mit Türken wollte er nichts zu tun haben. Mit Drogen wollte er erst recht nichts zu tun haben.

Denn Deutsche nehmen keine Drogen. Kralles Worte.

„Such dir ein Buch aus“, sagte Ian und Freya zog sofort eins heraus. Es handelte sich um ein Jugendbuch.

„Theodor Tatze reist an den Nordpol“ von Lars Dietjes.

Freya war noch ein Kind. Das sah Ian wieder. Er war froh, dass es so war. Er war froh, dass sie viel zuhause saß und Bücher las. Die Eltern waren ja eh nicht da. Ian wollte nicht, dass sie wie er draußen herumturnte. Nicht, weil er dachte, dass Mädchen nicht draußen sein sollten, sondern weil er wusste, wie sie draußen behandelt wurden. Er hatte die Blicke von Kralle gesehen. Er wusste, wie er über Mädchen sprach. Er hatte auch Lenas Blicke gesehen. Doch er hatte nicht aufs Sarahs Brüste geschaut. Und selbst wenn er das getan hätte, dann hätte er sie nicht wahrgenommen. Sie wären Luft für ihn gewesen, denn er war mit Lena zusammen. Auch wenn es niemand ausgesprochen hat. Und er war verknallt in sie.

Und Deutsch sein, heißt treu sein.

… Theodor Tatze schnurrte zustimmend. Was Willibert der Wal sagte, ergab Sinn. Er bräuchte eine Jacke und er bräuchte Handschuhe für seine Pfoten. Am Nordpol würde es bitterkalt werden. Theodor Tatze fror leicht. Er war kein Streuner. Deshalb wollte er an den Nordpol. Er wollte sich selbst etwas beweisen. Und er hatte es versprochen. Und Versprechen muss man halten. Versprochen ist versprochen und wird nie gebrochen. Theodor Tatze hatte es seiner Freundin Hanna versprochen. Hanna war eine Streunerin. Sie hatte ihm gezeigt, wie man fliegen lernt …

Freya mochte es, ihrem Bruder vorzulesen. Am Anfang war sie ganz aufgeregt. Schließlich brach man nicht aller Tage in ein Haus ein. Doch nachdem Ian ihr durch das Fenster geholfen hatte und ihr Versprechen abnahm, sich immer an ihm festzuhalten, während sie auf dem Dach hockten, entspannte sie sich. Das leerstehende Haus war verlassen. Adem und seine Cousins waren nicht da. Das Haus war aus der Zeit gefallen. Es würde noch stehen, wenn Glasbüros Felder zu Häuserschluchten machen. Herberge zweier, die vom ersten bis zum letzten Namenstag vergiftet waren. Als Freya die ersten Zeilen las, war sie voll in der Welt des Theodors. Sie vergaß auch ihre Enttäuschung. Ian und sie waren zu dem Tierheim über den Hügel gegangen. Sie hatten nicht damit gerechnet, einen Hund streicheln zu dürfen. Sie wollten nur schauen, doch trotzdem wurden sie verjagt. Freya vergaß, dass sie heute noch in die Wohnung zurückmussten. Hier oben auf dem Dach, mit dem Blick auf die Felder und die Baumgruppe schien Paulmander ein schöner Ort zu sein. Ian hörte ihr zu. Er vergaß nichts. Auch nicht, dass er 16:55 Uhr sein Handy rausholen musste. Er hatte es Lena schließlich versprochen.

Und Versprechen hält man ein. Es gehört sich so.

Vierecke fallen nicht zur Seite

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