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Wenn du krank bist, komm ich dich besuchen

Liebes Dölfinchen

Weisst du eigentlich, warum du Dölfine heisst? Keine Sorge, es ist nur ein Arbeitstitel. Ich weiss, das klingt etwas respektlos: Arbeitstitel. Erwachsene sind manchmal so. Ist nicht persönlich gemeint. Entschuldige! Zum Ausgleich gibt es dann ein tolles Gelato, wenn du gross bist, versprochen. Dazu hoffe ich natürlich, der Begriff Arbeitstitel sei für deine Eltern nur eine Metapher und deine Entstehung hatte mit Arbeit nix zu tun. Das ist jetzt ironisch gemeint. Ja, ich weiss, das darf man mit Kindern nicht, ironisch sein, weil sie das verunsichert. Kinder brauchen klare Ansagen! Doch eines Tages wirst du verstehen, was ich damit meine. Vielleicht früher, als deinen Eltern lieb ist. Aber das ist jetzt eine andere Geschichte.

Erst mal Spekulationsobjekt

Jedenfalls scheint es so gewesen zu sein, dass man in den ersten Monaten deines Daseins davon ausging, du könntest ein Bub sein. Wieder mal typisch! Warum um alles in der Welt soll ein Embryo ein Bub sein? Natürlich ist es so, dass alle Buben einmal ein Embryo waren. Bei manchen Männern weiss man das ein bisschen genauer als bei anderen. Aber der Umkehrschluss ist doch irgendwie lächerlich. Nun ja, von mir hat deine Mutter das jedenfalls nicht. Doch weil sie es sagte, dachte ich, nach zwei Töchtern kommt jetzt das erste Enkelkind und das ist männlich.

Also nannten sie dich erst mal Adolf, vulgo Dölf. Es war natürlich ein Witz. Aber auch so eine Art Warnung an uns, sie könnten dir einen dieser wunderbaren Bubennamen wie Kevin, Gerome oder Gangsta verpassen. Inzwischen wissen wir, du bist ein Mädel, drum heisst du jetzt, provisorisch, Dölfine. Deine Eltern haben schon längst einen richtigen Namen für dich, aber sie verraten ihn nicht. Diese Geheimnistuerei!

Damals jedoch gefiel mir die Idee, du könntest ein Bub sein. Das könnte lustig werden, dachte ich. Da kann man, so unter Männern, eine Menge zusammen erleben. Mir fiel mein eigener Grossvater ein. Ich weiss noch genau, wie er im Sommer, als ich fünf war, mit mir im roten Schienenbus an den kleinen Weiher fuhr. Dort brachte er mir das Schwimmen bei. Also nicht gleich beim ersten Mal, trotz meines unbestrittenen Talents, aber beim dritten oder vierten Mal konnte ichs. Nach dem Schwimmen gabs ein Butterbrot und einen Apfel aus dem Rucksack. Zu trinken hat mir meine Grossmutter nichts eingepackt. Wahrscheinlich ging sie davon aus, der Bub wird schon genug Wasser schlucken beim Schwimmen. Sparsam war sie ja immer. Die Butter strich sie immer so dünn und so lange aufs Brot, bis sie in den Poren des Brotes verschwunden war.

Ich hatte dazu meine eigene Theorie: Ich dachte, sie will die Butter verstecken. Wie ich darauf kam? Keine Ahnung. Wahrscheinlich war es Ausdruck meines Lebensgefühls. Mit fünf geht es ja immer irgendwie ums Verstecken. Das ist sozusagen die erste Entwicklungsstufe der Autonomie, wenn du verstehst, was ich meine. Man versteckt sich vor den anderen und freut sich, wenn sie einen nicht finden. Nur blöd, wenn sie einen dann einfach vergessen. Aber das ist mir glücklicherweise nie passiert. Spätestens zum Abendessen riefen dann alle: Jetzt komm doch raus, es gibt gleich Essen. Jedenfalls dachte ich, meine Grossmutter wollte die Butter verstecken. Bis eines Tages mein Vater sie rügte: Nun sei doch mit der Butter nicht immer so geizig. Doch diese gütige Frau mit dem Schalk in den Augen hatte zwei Weltkriege erlebt, da wird sie schon gewusst haben, wie man mit der Butter umgeht.


Ein Stock für die Schwestern

Nach der Brotzeit sind mein Grossvater und ich dann die fünf, sechs Kilometer nach Hause gewandert. Da haben wir viel geredet, und er hat mir die ganze Welt erklärt. Jedes Mal, bevor wir losgingen, hat er einen Ast gesucht und mir mit dem Taschenmesser einen Wanderstock geschnitzt. Jedesmal einen neuen! Nach den Ferien bei den Grosseltern nahm ich dann immer meinen Lieblingsstock mit nach Hause und drohte damit meinen Schwestern, wenn sie mich ärgerten. Aber davon erzähle ich jetzt nicht auch noch.

Es geht um meine Grossväter. Es waren ja zwei, und jeder hatte immer, ausser im Bett, ein Taschenmesser dabei. Und zwar an einer Kette, und es war rot. Die Messer waren dennoch so unterschiedlich wie die Grossväter. Der eine, der Schwimmlehrer, der war ein etwas strenger protestantischer Pfarrer, Dekan genauer, drum nannten wir ihn Opakan. Er war drahtig, gläubig und sehr geradlinig. Er war auch manchmal liebenswert und ein Mensch von Ritualen. Obwohl er so streng war, fand er es völlig normal, dass er dauernd Zigarre rauchte. Ich glaube, nur beim Zähneputzen, während der Predigt und beim Sex rauchte der nicht. Wobei man natürlich nie auf die Idee kam, er hätte welchen. So streng war er. Doch das gehört jetzt überhaupt nicht hierher.

Früher gab es Menschen, die qualmten

Wo waren wir? Ach ja, beim Rauchen. Würde er noch leben und du wärst schon auf der Welt, würde ich mit dir an den Bahnhof fahren oder zum Flughafen, und wir würden zusammen vor diesen gläsernen Kästen stehen. Drinnen ist die Luft grau und dick. Die Menschen sitzen da, während grauer Rauch aus ihrem Mund strömt. Du würdest mich fragen, Nonno, was sind das für Menschen da drin? Und ich würde sagen: Das sind Raucher. Du würdest vielleicht fragen: alle? Und ich würde nicken und murmeln: Ja, alle. Sie rauchen alle. Und der da, mit der Zigarre, das ist Opakan, dein Ur-Ur-Grossvater. Er und alle anderen würden uns fürchterlich leidtun. Du würdest dir die Nase an der Scheibe platt drücken, und ich müsste dich mit süssen Versprechungen, etwa auf ein Gelato, tröstend weglocken.

Gut, musste mein Grossvater das alles nicht mehr erleben. Der hätte sich nie in einen Glaskasten sperren lassen, um zu rauchen. So war der. Ein Auto oder ein Fahrrad besass er nie. Er ging alles zu Fuss. Bis ins höchste Alter ging er jeden Tag drei Stunden spazieren. Im Sommer brachte er meiner Grossmutter immer einen grossen Strauss Wiesenblumen mit. Allerdings glaube ich, er hat auch manchmal Blumen aus Gärten mitgenommen, an denen er gerade vorbeimarschierte. Auch dafür hatte er wohl das Taschenmesser. Jedenfalls übergab er «der Mutter» den Strauss, drückte (ja, er drückte eher) ihr einen Kuss auf den Mund, und meine Grossmutter stellte die Blumen in eine Vase. Ich habe an ihr nie diesen Blick gesehen, oh, mein Held bringt mir Blumen. Es war mehr so, als würde der Jäger die Beute heimbringen, und damit war gut.

Mein anderer Grossvater war genau das Gegenteil. Schon äusserlich. Fast so breit wie hoch, also sehr, sehr dick. Den musst du dir als grosse, sehr liebenswerte Kugel mit Händen und Beinen vorstellen. Mit einem Glatzkopf drauf. Und mit sehr grossen Ohren, auf die kommen wir noch. Und schnarchen konnte der! Wenn wir mit dem Auto in die Stadt fuhren, hörten wir schon unten am Fluss, ob er einen Mittagsschlaf hielt, so laut schnarchte er. Er war Fabrikant und wohlhabend. Er wäre nie auf die Idee gekommen, zu Fuss irgendwohin zu gehen. Der fuhr alles mit dem Auto, einem Mercedes, und auch dagegen hatte ich natürlich nichts. Ich wuchs auf mit dem Glauben an Gott und die Welt, und daran, dass es etwas Besonderes sei, mit einem Mercedes zu fahren. Was es damals ja auch war. Nur fuhr mein Grossvater so langsam, dass ich mich oft sorgte, wir würden nie ankommen.

Später, als ich meinen eigenen Mercedes hatte, um deine Mutter in den Klavierunterricht zu chauffieren oder um in die Ferien an den See zu fahren, sagte mir ein BMW-Besitzer: Ihr Mercedesfahrer wollt ja nur unterwegs sein. Wir wollen ankommen. Da dachte ich an meinen Grossvater. Vielleicht wollte der wirklich nur unterwegs sein und alles geniessen. Er hätte sich gewundert, wie schnell man mit einem Mercedes ankommen konnte, hätte er mich später fahren sehen.

Alle sind die Schönste

Pa, so hiess mein Grossvater, war ein Genussmensch. Er liebte das Leben, das Essen, die Frauen, Opern und den Wein. In dieser Reihenfolge. Er hatte neben Söhnen und Enkeln vier Töchter und sieben Enkeltöchter. Sah er eine, zwickte er sie in die Wange und sagte: Du bist die Schönste! Das war besonders an Familientreffen nicht immer einfach, aber Pa schaffte es doch, dass sich jede als die Schönste fühlte. Und weil er die Menschen und die Gerechtigkeit liebte, kam er auch immer zu mir, legte mir eine seiner riesigen Hände auf die Schulter, boxte mich sanft an den Hals und sagte: Du bist schon recht.

Kein Wunder, habe ich ihn als klugen Mann in Erinnerung. Und gemütlich. Wenn er auftauchte, wurde immer alles gemütlich. Schon weil er langsamer sprach als die anderen. Weil ihn alle respektierten, sprachen sie auch langsamer. Weil er nicht mehr so gut hörte, griff er sich dann ans Ohr und stellte es quer. Ich sagte dir ja schon, er hatte riesige Ohren. Dann sagte er: aha. So begriff ich, dass man die Aufprallfläche für einen Ton nur vergrössern muss, um besser zu hören. Ich hatte schon früh, ohne es zu wissen, ein solides Grundverständnis von Physik und Akustik.

Bevor Pa antwortete, überlegte er, das war schon damals ziemlich selten. Mich hat es immer beeindruckt, doch so richtig abgefärbt hat es nicht auf mich. Man kann sich ja nicht alles aneignen, was einem vorgemacht wird. Das wirst du auch bald feststellen, liebes Dölfinchen. Immerhin überlegte ich wenigstens öfter, nachdem ich etwas gesagt hatte. Mein Grossvater nickte mir dann zu und sagte: Gut, hast du einen Kopf zum Überlegen.

Sein Taschenmesser war übrigens eines aus der Schweiz, so eines dieser ultradicken Armee-Taschenmesser. Es passte also genau zu ihm. Mit diesen Taschenmessern konnte man alles machen und, wie man an meinem Grossvater sehen konnte, in Ruhe leben. Oft bat ich ihn, es aus der Tasche zu nehmen. Meistens gab er es mir, sagte: pass auf, gell. Und dann war ich lange beschäftigt, es auf- und wieder zuzuklappen. In der Schweiz hat jeder Soldat so ein Messer, sagte mein Grossvater.

Am Anfang war das Taschenmesser

So kam es, dass dieses Armee-Taschenmesser zu meiner ersten intensiven Begegnung mit der Schweiz wurde. Ich war noch nie dort gewesen, doch dank des Messers verstand ich schon als Fünfjähriger dieses Land besser als jedes andere Kind der Welt. Diese Vielfalt und Perfektion auf engstem Raum! Auch dass sich ein Land nicht mit Gewehren und Panzern, sondern mit Taschenmessern verteidigte, fand ich grossartig. Grund genug, nach meinem Studium in die Schweiz zu ziehen und deine Grossmutter zu heiraten. Natürlich erst, nachdem ich sie kennenlernen durfte. Wir beide sorgten dann dafür, dass du jetzt im Fruchtwasser zu einem strammen Mädchen heranwächst. Deine Gene haben, liebes Dölfinchen, auch das macht dich einmalig, ihren Ursprung gewissermassen in einem Taschenmesser.

Oh, jetzt wurde es aber ausführlich. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass ich dich immer besuchen komme, wenn du krank bist. Ich finde das wichtig. Wenn man krank ist, fühlt man sich nicht gut und oft ein bisschen einsam. Da tut es gut, wenn einer kommt und dich aufheitert. Dein Kissen aufschüttelt, dir die Haare kämmt und lustige Dinge erzählt. Und vor allem, dass er dir was Schönes mitbringt. Schokolade, ein Bilderbuch oder ein Hörspiel. Irgendwas, das dich auf andere Gedanken bringt.

Als deine Mutter klein war, durfte sie, wenn sie krank war, sich immer genau das wünschen, was sonst verboten war, etwa Cola oder Gummibärchen. Also, je nach dem, womit sie krank war. Bei Magenverstimmung gibt’s natürlich keine Süssigkeiten, das wirst du verstehen. So werden wir es bei dir auch machen. Nun hoffe ich mal, das wird nicht so oft passieren. Dir ist es zur Zeit sowieso völlig egal. Das ist das Schöne an ungeborenen Enkelkindern: Sie sind so genügsam. Immerhin hast du jetzt eine Ahnung davon, wie Grossväter sein können.

Für heute liebe Grüsse, dein Nonno.


Holundersaft und Honigbrote

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