Читать книгу Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm - Johannes Mario Ballweg - Страница 3

Chapter №1 ∞ Der Blitzgedanke auf der Front Porch

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Siehst du das Bild auf dem Cover? Der Wasserfall, der Fluss des Lebens. Warst du schon einmal dort? Also ich, für meinen Teil, kann stolz behaupten, dass ich schon einmal dort oben war. Denn ja, das Bild, das du siehst, habe ich geschossen. Mit einer alten Polaroid-Kamera. Nicht ganz klassisch schwarz-weiß, nein, sondern facettenreich und farbenfroh. Mit Stil. Ich lasse meine Füße ein wenig baumeln, will die Schwerkraft erkunden. Ich könnte reinspringen, doch weiß ich nicht, was mich dort unten erwartet. Es könnte mein letzter Sprung gewesen sein, falls das Wasser zu flach ist. Aber schon komisch oder? Komisch, dass sich Fallen genauso anfühlt, wie Fliegen, für `nen kurzen Moment. Es ist schon sehr lange her, ich greife jedoch oft zu diesem Buch, welches du gerade auch in der Hand hältst und beginnst zu lesen. Ich schlage es auf und durchlebe jedes Mal aufs Neue meine eigene Lebensgeschichte darin. Es tut gut, sich daran zu erinnern. Ich war damals mit einem Menschen an diesem Ort. Es ist ein ganz besonderer Mensch, der mir bis zum heutigen Tage fehlt. Aber man ist niemals tot, denn der Geist und die Erinnerungen, die dieser Mensch geschaffen hat, leben in uns weiter, in allen, die ihn kannten. Wenn du wissen möchtest, was meine Geschichte ist, so blättere doch einfach mal um.

Alles begann an einem sommerlichen Dienstag. Wir beschreiben den 6. Juli 1999.

Man sagt, die menschliche Seele wiege 21 Gramm. Verstorbene verlieren direkt nach dem Tod 21 Gramm ihres gesamten Körpergewichts. Forscher begründen methodisch-atheistisch, dass der Verlust der 21 Gramm das restliche Lungenvolumen sei, welches ausgehaucht wird. Doch jeder Mensch besitzt ein individuelles Lungenvolumen, somit müsste rein theoretisch jeder Mensch unterschiedlich viel Gramm nach dem Eintritt des Todes verlieren – Nein! Jeder Mensch verliert 21 Gramm seines Körpergewichts, der Beweis, dass der Mensch mehr als Materie und Maschine ist. Es gibt sie wirklich, die Seele, das Abbild eines jeden Menschen, gemünzt und geprägt durch Erfahrungen, die das Leben schreibt. Das war das Credo der Thematik Seelenleben in unserem letzten Religionskurs. Dieser ist nun auch schon etwas länger her, wenn man’s genau nimmt drei Monate. Meinen High-School Abschluss habe ich im Alter von 19 Jahren an der Acer Falls High mit Bravur geschafft, Durchschnittsnote 1,8. Class of ’99, ein wundervolles Gefühl, endlich fertig zu sein. Und jetzt sitze ich hier, hier auf meiner Front Porch, meiner Veranda unseres großen, typisch amerikanisch-gebauten weißen Holzhauses und betrachte den Sonnenuntergang in all seinen schönen Facetten. Wir wohnen auf einem großen Anwesen, etwa zwei Meilen entfernt vom Zentrum von Acer Falls im Michigan-Highland. Um uns herum sind nur zwei Nachbarn und ein kleiner See, der Red-Lake, der während des Sonnen auf- und Unterganges immer rot erscheint. Neben dem kleinen See steht eine große Eiche, sie ist schon uralt und die Sonne scheint immer so schön durch ihre Blätter. Der See wird stetig durch frisches Quellwasser, welches aus einem mir nicht bekannten und unpassierbaren Creek im hinteren Wald heraus entspringt und zu uns rauscht, gefüllt. So erzählte es mir einst mein Grandpa. Bevor es in den kleinen Lake an der Ostseite unseres Hauses plätschert, durchläuft es einen kleinen Verteiler, welcher das Wasser teils filtert und teils direkt in den See weiterleitet. Dieser Verteiler ist unterhalb einer kleinen Kapelle angebracht. In der Kapelle ist vielleicht Platz für 30 Gemeindemitglieder. Wir haben nur sehr selten Andachten, aber wenn eine stattfindet, so kommt das ganze Anwesen und auch Auswertige. Das gefilterte Wasser wird in einen kleinen jedoch sehr modernen Brunnen geleitet, welcher sich unter der Kapelle befindet, wo es dann zum Herausschöpfen aufbereitet und kühl gehalten wird. Wir trinken hauptsächlich diese Quellwasser, denn es ist so besonders und einzigartig, ein Geschenk der Natur. Ich begebe mich immer wieder gerne dort an den kleinen See hin, um den Sonnenuntergang zu genießen. Ein kleiner Steinweg führt von unserem Haus hin zum See und der schimmernden Eiche. Der Steg des Lakes ist nicht gerade groß, genügt aber, um darauf zu picknicken oder sich abends an den See zu setzen, ein Bier zu trinken und dem Sonnenuntergang zuzusehen. Am Steg ist ein Geländer mit bunten Glühbirnen befestigt, eine Leuchtkette, welche mir die Abende am Red-Lake immer süßlich erhellt. Wenn man zu uns möchte, muss man entlang des 81. Highways dem Flussverlauf der fünf Acer Falls folgen und irgendwann links abbiegen, wenn es heißt „Red-Lake Manor“. Ein Schild ziert die Einfahrt unter dem Torbogen vor der Allee „Hier wohnen die Ashs, Barts und die Jeffersons“. Jeden Tag wache ich kurz vor Mittag auf, hole die Zeitung rein, les Großvater darin vor und dieser sagt wie immer: „Bubi, die Welt geht mehr und mehr vor die Hunde.“ Ich schlafe immer recht lange, bin sogar schon müde vom Schlafen. Heute bin ich um 10 AM aufgewacht. Die Tage sind ziemlich einsam und man beginnt über Dinge nachzudenken, worüber man sich nur Gedanken macht, wenn man zu viel Zeit hat. Overthinking; über Sachverhalte und Probleme nachdenken, die gar nicht vorhanden sind, welche aber daraus entstehen. Ich flacke seit Tagen in meiner blauweißen Hollywood-Schaukel herum, weiß nichts mit mir anzufangen. Ich habe es satt nur herumzusitzen, den Vögeln zu lauschen, ich will was erleben, doch das geht momentan nicht so einfach. Vor vier Wochen wurde ich an meinem Knie operiert, Patellaluxation und der Arzt meinte, ich solle mich nicht viel bewegen, ich dürfe das operierte Bein mit maximal 135 lbs belasten, ich müsse den Fuß hochlegen, er sei noch geschwollen. Ich trage eine Schiene, die maximal 60 Grad beugbar ist, sie stabilisiert mein Knie und alle Bänder. Also sitze ich eben in meiner Hollywoodschaukel und schlage die Zeit tot. „Und der heutige Nachmittagsmix im Acer Falls Rock Radio an diesem herrlichen Dienstagnachmittag, den 6. Juli 1999.“ Schichtweise laufen die gleichen Sender in meinem alten Funkradio, was ich von Großvater geschenkt bekommen habe. Nach dem mir das so auf den Nerv ging, schaltete ich es ab, holte meine Life-Miller-Gitarre aus meinem Zimmer und spielte ein paar Lieder vor mich hin. Mom und Dad sind weg, in Urlaub sagten sie, was mir gerade Recht war, denn ich hatte mit Mom mal wieder etwas Streit. Sie werden morgen Mittag wieder nach Hause kommen. Meine Grandma Beth ist nicht mehr unter uns hier unten, sie starb im Januar 1999 an einem kalten Wintertag an einem Schlaganfall. Niemand war damals zu Hause, keiner konnte ihr helfen und ich fand sie nach der Schule tot im Wintergarten auf. Die Beerdigung fand an meinem Geburtstag, dem 8. Januar statt, wann anders hatte ihr Lieblingspastor Mister Herb keine Zeit. Das war meine erste Begegnung mit dem eingetroffenen Tod einer Person, die ich kannte. Somit ist nur noch mein Großvater Alphonsus, oder wie ich ihn immer gern nannte „Alph“ da. Heute Morgen war er in der Stadt, er meinte, er hatte etwas für seine Gesundheit getan, weitere Details blieben aus. Wahrscheinlich war er wieder bei einer Sportstunde für Rentner im lokalen Fitnessstudio, denn das schwächt seine chronischen und sehr starken Kopfschmerzen, an denen er seit circa einem Jahr leidet, ab, so meint er es immer zu mir. Als er wieder zu Hause ankam, backte er Apfelkuchen für uns. Dieser war mittlerweile fertig und man konnte den Duft des leckeren Kuchens bis raus auf die Front Porch riechen. Er brachte zwei große Stücke Apfelkuchen mit raus, seine Hände zitterten, er öffnete sich ein Bier der Marke „Autumn 4.9“, schmiss sich eine Tablette der Größe eines Maikäfers ein, setzte sich neben mich auf die Hollywood-Schaukel und fragte mich, an was ich gerade denke während ich so vor mich auf der Gitarre dahinzupfe. Ich zögerte, denn wie sollte ich bitteschön einem 73 Jahre alten Mann erklären, was Overthinking ist? Ich überlegte kurz. Nüchtern antwortete ich: „Ich denke darüber nach, warum ich keine Angst vor dem Tod habe.“ Alph schaute mich auf einmal sehr fragend, teils verwirrt an, es schien für ihn nicht greifbar, dieser Gedanke. Seine Hände zitterten ein wenig. „Ich... Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, mein Bub. Aber ich für meinen Teil habe Angst vor dem Tod, vor dem Vergessen werden durch mein Wegtreten aus dem Leben. Weißt du, ich muss oft an deine Grandma denken, es ist zwar schon länger her, aber sie fehlt mir mit jedem Tag mehr. Bald werde ich sie wiedersehen.“ Ich verstand meinen Grandpa und nickte nur. Im ersten Moment war es komisch über das Thema Tod mit ihm zu reden also schwiegen wir, jedoch war die Stille auch unerträglich also redeten wir wieder über den Tod, denn dieser steht ihm ja nun mal eher bevor als mir. Aber irgendwie erlangten wir beide Gefallen an dem Gesprächsthema und Alph öffnete sich immer mehr mir gegenüber. Wir sprachen über Grandmas Tod, wie schnell und unerwartet und ungeladen damals der Tod eintraf und über die Angst, vergessen zu werden, weil man diese schöne Welt eines Tages verlassen muss. Auch bin ich der Überzeugung, dass ein jeder Mensch weiß, wann sein Ende bevorsteht. Er weiß das nicht schon sein ganzes Leben lang, nein, sondern vielleicht Stunden oder Tage vorher, das hatten wir nämlich auch in unserem Religionskurs besprochen. Als ich diese Ansicht Grandpa mitteilte, nickte dieser etwas getrotzt, wahrscheinlich beschäftigt er sich mit dem Thema sehr, vor allem jetzt, nach dem Grandma im Winter dieses Jahres von uns gegangen ist. Wir sprachen auch noch über die Geburt und die Taufe, welche ja im direkten Zusammenhang mit dem Tod stehen. Grandpa wurde immer gesprächiger und als ich fertig war, ihm davon zu erzählen, wie wichtig ich die Taufe bei Kindern empfinde, so dass diese, wenn ihnen leider etwas zustoßen sollte, in Gottes Reich kommen, so nahm er meine Hände in seine und meinte, es gäbe da etwas, was ich wissen sollte. Er konnte erst jetzt den Mut fassen, dies mir zu berichten, denn es hat mit Grandma zu tun. Ich war sehr aufgeregt, was wolle er denn mir berichten? Er holte tief Luft und begann zu erzählen: „Puh, also mein Bubi, es gibt da etwas, was du wissen solltest, da ist… ja, da gibt es ein Memories-Buch voller Erinnerungsfotos über dich. Grandma fing an, zu Beginn deines Kindesalters, Fotos von dir zu machen und diese sorgfältig mit einer kleinen Bildunterschrift, welche das Datum und eine kleine Beschreibung des Bildes beinhaltete, in ein altes kleines Din-A5 Buch einzukleben, auf dem stand: „Memories“. Seit Beths Tod wurde das Buch nicht weitergeführt und Mom verfrachtete es auf den Dachboden, wo es seitdem verstaubt. Deine Grandma bestand darauf, dass ich es erst anschauen dürfe, wenn sie nicht mehr auf dieser Welt sei.“ Er unterbrach seine Konversation über das Buch und sagte freundlich zu mir, dass er mir es zeigen müsse, ich würde dadurch besser verstehen, worum es hier geht. Es sollte nicht nur ein Buch voller alter Bilder sein, nein es erzählt ein Schicksal, eine Geschichte, die mir immer wieder hilft, Kraft zu schöpfen. Das wusste ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich bat ihn, mir meine Gehhilfen zu geben und wir liefen zusammen von der Front Porch durch das Wohnzimmer in den ersten Stock. Ich ging voraus, so dass, falls ich stolpern würde, Alph mich auffangen könne. Er war ein kräftiger, muskulöser und gläubiger Mann, ich vertraute ihm schon seit Klein auf. Er hat eine Halbglatze und mir kommt es vor, als verliere er immer mehr Haare, aber so ist das wohl im Alter. Von dort an führte eine schmale Treppe nach oben auf den Dachboden. Grandpa suchte im Sicherungskasten nach dem richtigen Schalter, so dass wir da oben uns auch zurechtfinden würden. Die Sicherung war drin, das Licht ging an und wir stiegen die staubigen Treppen auf den Dachboden nach oben. Ich wusste nicht sicher, wo das Memories-Buch zu finden war, also suchten wir beide danach. Klack! Auf einmal sprang die Sicherung heraus. „Herrschaftszeiten noch einmal“, schrie Alph „diese blöde Sicherung, jedes Mal springt sie heraus, Mo… Moment.“ „Moment?“ fragte ich. Ich konnte seinen Gedankenzügen nicht genau folgen, jedoch bemühte ich mich darum und schenkte ihm meine volle Aufmerksamkeit. Ich lief mit meinen Krücken rüber zu Grandpa, auf die Westseite des Dachbodens und er deutete mit dem Finger aus dem Fenster heraus auf die untergehende Sonne. „Die... die Sonne, siehst du es? Sie geht unter. Ist das nicht herrlich?“ Das Licht der Sonne spiegelte sich im Red-Lake an der Westseite des Hauses und beim Anblick in den See blendete es mich. Dieses Licht entfaltet jeden Abend, sei es im Winter, im Spring, im Sommer oder im Fall, alle Facetten dieses kleinen Guts. Er zog mich vom Fenster weg und zeigte ganz aufgeregt auf die alte Kiste hinter dem Schrank, auf der ein großes, staubiges Buch lag. Das Licht der untergehenden Sonne, welches durch das Fenster hineinschien, strahlte direkt auf das große staubige Buch. Wir haben es gefunden! Klick, klick, Zack! Die Sicherung war herausgesprungen, das Licht war aus, die ganze Dachbodengaube war düster und dunkel, bis auf eines, das Buch. Es wurde von den letzten Sonnenstrahlen angeschienen und das wirkte sehr mystisch mir gegenüber. Auch in Alph entfachte es ein Feuer, seine Augen funkelten vor Freude und Begeisterung, er sprang auf und rannte hastig zu dem Buch. Ich warf meine Gehhilfen zur Seite und humpelte ihm rasch hinterher. Wir setzten uns auf den Boden wie zwei kleine Kinder, die gerade etwas neues, ganz Spannendes entdeckt hatten und Grandpa entstaubte ganz schnell das Buch. Zwei Mal drüber geblasen, einmal mit der Hand den Staub von dem Bund des in etwa Din-A5 großen Buches weggewischt und man konnte in einer wunderschön verzierter Schrift die Buchstaben „ M E M O R I E S“ erkennen. Ich konnte es kaum erwarten, die erste Seite des Buches aufzuschlagen, aber Alph sagte: „Die Sonne geht bald unter, die Sicherung ist draußen, hier oben auf dem Dachboden werden wir heute nicht mehr alt, aber ich kenne da einen Ort, wo wir hingehen könnten.“ Ganz gespannt fragte ich, wo dieser Ort sei und ob ich diesen kenne. Grandpa gab Gedankenbruchteile von sich: „Palemo Forest“, „halbe Meile links“, „Camping Platz“, „Aaaaaaaaaaaacer, ja! Acer Creek, der Bachlauf.“ Er packte mich ganz fest mit seinen Händen an meinem Armen, „Der Acer Creek Bachlauf unterhalb des kleinsten der sechs Acer-Wasserfälle am ehemaligen Palemo Forrest Campingplatz links, kennst du das?” Ich antwortete ratlos: „Nein, tut mir leid, noch nie davon gehört. Ich dachte immer, es gäbe nur fünf Wasserfälle. Was ist da?“. Er stand auf einmal sehr rasch auf, wirkte sehr angespannt und er fing an, den Dachboden abzulaufen, nachdenkend, als suche er etwas. Nach kurzer Zeit begann er in der mittleren Gaube des Dachbodens die Schränke zu durchsuchen. „Es gibt sechs Wasserfälle, doch nur die wenigsten Menschen kennen den kleinsten, den wundervollsten. In allen Karten gibt es nur fünf offiziell eingetragene Wasserfälle.“, sagte er ganz aufgeregt und mit hastiger Stimme. Er zog eine Kiste hervor, auf der der Name meiner verstorbenen Grandma „Beth“ stand. Alph durchwühlte diverse Sachen, schmiss alte Kleider, wie zum Beispiel das schöne Blümchenkleid mit blauem Hintergrund, von ihr quer durch den Raum, bis er den Boden der Kiste erreichte. Grandpa griff nach einem Fetzen Papier, etwas verkohlt und angerissen. Es war eine Karte vom Acer Falls County von 1967. Auf der Rückseite stand etwas in schlecht lesbarer Schrift geschrieben. Diese entfaltete er in Windeseile und zeigte ganz nervös auf einen Fleck auf der Karte, relativ außerhalb gelegen, den er mit einem Herzen versehen hatte. „Der schönste Platz, den du dir auf der Welt nur denken kannst.“, sagte er mit sanfter Stimme. „Na dann nichts wie hin“, erwiderte ich ganz aufgeregt. Alph nahm das Memories-Buch in seine Hände, drückte es ganz fest gegen seine Brust und sagte: „In fünf Minuten geht’s los, unten vor dem Haus im Yard, mach dich fertig, zieh dir eine Jacke an, wir treffen uns dann unten.“ Schnell rannte er die Stufen herunter, ich habe meinen Grandpa noch nie so schnell rennen sehen, auch dachte ich nicht, dass er mit 73 Jahren noch so schnell auf den Beinen unterwegs ist. Ich horchte gespannt, bis er unten war, um sicher zu gehen, dass es ihn nicht in seiner Eile noch übers Kreuz gelegt hat und dann suchte ich nach meinen Krücken. Der Dachboden war dunkel, die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich im Red-Lake vor unserem Haus, die Vögel wurden immer leiser und mein Atem immer schneller. Ich war aufgeregt, in fünf Minuten ginge es los. Die Gehhilfen fand ich relativ schnell und so machte ich mich mühsam auf den Weg nach unten. Die Treppe in den zweiten Stock knirschte beängstigend, aber ich beeilte mich, um schnell mit Grandpa zum Acer Creek zu fahren. Ich war im Erdgeschoss angekommen und hörte Geräusche aus der Garage, Alph versuchte seinen langen blauen Mercedes in Gange zu bringen. Ich schnappte mir meine Jacke, denn ich war nur sehr leicht mit einem roten Polohemd begleitet, es könnte ja etwas frischer werden. Auch Grandpas rote Lieblingsjacke klemmte ich mir unter den Arm. Ich zog mir meine Jacke über und lief durch die Galerie des Hauses vor zur seitlichen Eingangstür, welche direkt in den Yard führte. Ich entdeckte das alte, mit einem weißen Tuch bedeckte, Klavier von Grandpa, seine sogenannte „Orgel“ und dachte mir dabei, dass ich es auch mal wieder aufdecken könnte und darauf ein paar Lieder und Melodien schreiben könnte, Songwriting, meine Leidenschaft. Aber da! Es klapperte und rumpelte immer mehr, es hörte sich an, als wolle Grandpas Wagen einfach nicht anspringen. Ich ging durch die Seitentür des Gangs in die Garage, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei und um Alph zu helfen. Er suchte und suchte nach irgendwelchen Fehlern, die den Start des Oldtimers verhindern, doch er fand nichts. Es war neues Benzin darin enthalten, das Öl wurde auch gewechselt und sonst pflegte Grandpa das Automobil sehr. Ich zögerte nicht lange und ging zur Fahrertüre, öffnete diese und entsicherte die Verriegelung für die Motorhaube. Gesagt, getan. Daraufhin schaute ich intuitiv nach der Zündkerze des Wagens. Diese war total verschmoren und ich berichtete Alph davon. „Bubi, da wäre ich in hundert kalten Wintern nicht drauf gekommen, die Zündkerze, natürlich die Zündkerze.“, seufzte er. „Hier habe ich eine neue, für die Versicherung, wie du immer als Kind gesagt hast.“ „Oh ja, das stimmt, ich verwechselte immer Sicherheit mit Versicherung.“, antwortete ich humorvoll. „Ach das war doch total goldig, Bubi.“, erwiderte Alph. Wir zogen die neue Zündkerze auf, ließen etwas Benzin in den Motor laufen und nach zwei, drei Zündungen sprang der blaue Mercedes an. Ich erfreute mich sehr: „Jupidu, jetzt kann’s ja losgehen!“ und lief aus der Garage heraus. Grandpa stieg in den tiefergelegten Flitzer ein, fuhr mit seinem Rentnerschlitten aus der Garage aus, hielte an, zog die Handbremse ganz fest und machte den Neutralgang rein. Auf seinem Nummernschild stand AFC-AB-26. Acer Falls County – Alphonsus Barts – geboren 1926. „Warte mal, mein Junge.“, sagte er und stieg aus dem Auto aus. Ich dachte mir, wie aufrichtig es von ihm sei, mir beim Einsteigen zu helfen, jedoch hatte Alph anderes im Sinn. Er ging schnurstracks in die Garage an seinen Kühlschrank, auf dem Bilder seiner jungen Jahre mit Magneten befestigt sind. Man erkennt die AFC-Trailblazers, welche die Lacrosse Gruppe im Acer Falls County sind und Bilder aus der Armeezeit. Er öffnete den mit Erinnerungsfotos verzierten Kühlschrank rasch und es klirrte ein wenig. „Sechs Flaschen Autumn 4.9 dürften für den kleinen Ausflug als Lunchpaket ausreichen oder?“, fragte er mich lachend. Ich erwiderte: „Logo das dürfte reichen, drei für dich drei für mich!“ In der Zwischenzeit stieg ich ganz allein in den tiefergelegten blauen Mercedes ein, es ging nur sehr mühsam, da ich mein Knie nur in etwa 60° beugen konnte, jedoch schaffte ich es dann letztendlich doch. Ich schnallte mich an, schaltete das Radio an und im Acer Falls Rock Radio lief einer meiner Lieblingssongs, „The Freshmen“ von „The Verve Pipe“, welcher während meiner High-School Jahre in den amerikanischen Charts ganz vorne dabei war. Grandpa öffnete die Türe und setzte sich ans Steuer. Er legte ein kleines Päckchen Tabletten mit der Aufschrift „Avastin 25mg“ und ein Foto mit Kameraden aus Kriegszeiten auf das Armaturenbrett und wirkte dabei etwas angespannt. Irgendwo her kannte ich diese Tabletten, doch mir fehlte der Zusammenhang und ich wollte auch nicht unhöflich sein und fragen, für was diese Dinger gut sind. „Wofür das Foto, Grandpa?“, fragte ich ganz neugierig. „Das will ich mitnehmen, ich will dir dazu was erzählen.“, antwortete Alph ganz nüchtern. Klingt spannend, dachte ich mir. Mit der Zeit schwand aber dann das Interesse an den Avastin-Tabletten und ich konzentrierte mich auf Alph. „Bereit?“, fragte er und ich sagte in unserem Akzent: „Hoooalrright, let’s give it a go!“ Er machte den ersten Gang rein und wir fuhren aus dem Yard heraus, am Red-Lake vorbei, sahen noch Ernie Jefferson beim Schwarzbrennen seines Schnaps in seinem Hinterhof und wir bogen links auf den 81. Highway in Richtung Palemo Forest ab.

Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm

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