Читать книгу Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm - Johannes Mario Ballweg - Страница 5

Chapter №3 ∞ Im Pavillon am Acer Creek

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„Schon ein bisschen kalt hier, oder nicht Bubi? Ich werde uns ein kleines Feuerchen machen, hilfst du mir dabei?“ Ich antwortete: „Soweit das mit meinem Fuß möglich ist, gerne.“ Wir gingen aus dem Pavillon heraus und Alph meinte, ich solle mich auf die Bank vor der Feuerstelle setzen und mit ein paar Streichhölzern, welche an der Zigarettenstange befestigt waren, dort ein bisschen Reißig anbrennen, sodass wir gleich eine gute Flamme haben. Aha, jetzt verstand ich, wozu er die Stange Zigaretten gekauft hatte, wegen… wegen den Streichhölzern? Nein! Das ist doch hirnrissig, da könne man sich doch direkt Streichhölzer im Pack kaufen und nicht noch extra das Tabakprodukt? Ich war mit meinen Vermutungen über die Zigarettenstange wieder am Anfang angelangt. Ich werde es schon noch herausfinden. Ich für meinen Teil verabscheue das Rauchen, in der Schule sagen sie, es sei schädlich, verstopft die Lunge und Atemwege und es nimmt einem die wertvolle Lebenszeit. Aber leben und leben lassen. Jeder soll tun und machen, was er für richtig hält, solange er mir damit nicht zu Schaden kommt ist das alles legitim. Der Zunder war etwas angefeuchtet vom Nieselregen, welcher uns ja schon auf der Brücke überraschte. Aber ich hielt ihn direkt unter die heiße Stichflamme der Maplewood-Streichhölzer und es entfachte sich nach kurzer Zeit ein Feuer. Ich blies die Flamme weiter an, in der Hoffnung, sie werde immer größer und es funktionierte. Ich legte den Reißig in die Feuerstelle und Grandpa kam einen Moment später mit ein paar Ästen und etwas Holz. Es rußte sehr, das Holz war nicht das Trockenste, aber es hielt das Feuer im Gange. Langsam wurde uns auch wärmer. Wir setzten uns wieder in den Pavillon, öffneten alle Fenster und Türen und die Wärme des Feuers gelangte schnell in das Innere, wir hatten es nun richtig gemütlich. Grandpa schnappte sich zwei „Autumn 4.9“, öffnete diese an einer Kante des Tisches und gab mir eine Flasche. „Zum Wohl Bubi, auf uns, auf diesen Abend, auf dass er uns für immer in Erinnerung bleibt.“ „Bei drei Pils per-Capita bleibt es dies sicherlich.“, antwortete ich mit lachender Stimme. Alph grinste mich an: „Ich bin mir sicher, den Humor und den Genuss…, das hast du von mir geerbt.“ „Gott sei Dank.“, erwiderte ich und nahm einen kräftigen Schluck des leckeren „Autumn 4.9“ Bieres. Grandpa stellte sein Bier ab und schaute mich fragend an: „Wollen wir es wagen?“ Ich nickte und lächelte ihn an. „Einen perfekteren Ort finden wir dafür sicherlich nicht mehr.“ Ich griff nach meinem Memories-Buch und schlug hastig die erste Seite auf.


- SEITE 1 – Der Morbus Hodgkin

„Polaroids und Erinnerungsfotos von John ab 1980“. Meinen Namen konnte man nicht richtig erkennen, ein Tintenklecks verdeckte die Schrift. Die Fotos sollten etwas ganz Besonderes sein, denn damals, also 1980 beginnend, hatte man noch keine so modernen Kameras, man hatte nur Sofortbildkameras, sogenannte Polaroid-Kameras, die das Bild Sekunden nach der Aufnahme ausdruckten. Man musste nur ein Polaroid-Papier einlegen, das Foto schießen, das Papier entnehmen und durch leichtes Herumwedeln im Wind dann das Foto entwickeln.

Ich war schon sehr gespannt und gleichzeitig so aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten, denn irgendwie wirkte allein der Gedanke an diese speziellen Polaroids und anderen Erinnerungsfotos sehr tiefgehend. Als ob man die Zeit zurückdrehen konnte, sich in einen bestimmten Lebensabschnitt wieder einnistet und diesen erneut durchlebt. Herrlich! Unter der Überschrift des Buches war ein Foto von mir und meiner Großmutter zu sehen, kurz nach meiner Geburt. Das Foto entstand im Krankenzimmer meiner Mom, Grandma saß mit mir auf dem Bett, auf dem Nachttisch standen verschiedene Tablettenverpackungen und ein Glas Wasser. Mom war nicht zu sehen. Beth hielte mich in ihrem Arm und sah sehr glücklich aus. Unter dem Bild war eine Bildunterschrift zu finden: ~ Die glücklichste Grandma aller Zeiten – 08.01.1980 ~. Alph fing an zu erzählen: „Ist...Ist sie nicht wunderhübsch?“ Ich legte meine Hand um ihn und lächelte ihn an. „Ja, in der Tat“, antwortete ich. Grandpa fuhr fort: „Es war ein kalter Wintertag damals. Am 08. Januar 1980 kamst du um 13:57 zur Welt. Aber nur, weil deine Mom eine Kämpferin war, weil sie sich für dich entschieden hatte. Wir wissen beide, was sie vor und nach deiner Geburt durchstehen musste.“ Mir wurde auf einmal sehr kalt und schaurig, es fuhr mir richtig den Rücken herunter. Meine Gedanken schweiften ab, tief in mich hinein, in eine Erinnerung, in der mir Mom etwas von meiner Geburt erzählte. In Moms Körper wurde während der Schwangerschaft mit mir ein bösartiger Lymphknotentumor diagnostiziert. Morbus Hodgkin sagten sie zu diesem abscheulichen Ding. Er streute schon enorm und die Lunge, der Blutkreislauf und viele andere überlebenswichtige Organe waren befallen. Die Ärzte gaben ihr nicht mal mehr ein halbes Jahr zu leben, ihre Überlebenschancen strebten gegen Null. Eines Tages, so erzählte mir es Mom, meinten die Ärzte, sie müsse sich zwischen ihrem Leben und dem meinem entscheiden. Dass sie weiterleben könne, müsse man mich wegmachen, abtreiben, vernichten, ungeborenes Leben töten, so wie die Frau es an der Brücke getan hätte, wenn wir nicht angehalten wären. Doch Mom sagte, lieber solle ich geboren werden und sie solle sterben, als dass sie mir den Anblick dieser schönen Welt verweigere. Die Ärzte willigten ein und somit setzten sie die Chemotherapie ab, was zur positiven Folge hatte, dass ich mich gut und gesund entwickeln konnte, jedoch zur negativen Folge hatte, dass der Krebs in meiner Mutter immer mehr streute und ihr Körper immer mehr kaputtging. Grandpa stupste mich an: „Bist du noch da? Ist alles okay bei dir? Du wirktest gerade sehr in dich gekehrt.“ Ich entfernte mich von meinen Gedanken und schüttelte nur den Kopf und sagte mit freundlicher Stimme, dass er doch bitte fortfahren möge. Er setzte seine Gedanken fort: „Es hatte geschneit, dass es gerade so krachte. Über 1,2m Neuschnee in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar. Dein Dad und ich schoben den ganzen Morgen Schnee. Die Front Porch war so zugeschneit, dass wir im 1. Stock aus dem Wintergarten herausklettern mussten, um von außen die Tür und den Weg frei machen zu können. Die Wehen von Alexa setzten morgens schon ein, also war schneller Handlungsbedarf erforderlich. Wir setzten deine Mom in Grandmas alten BMW und fuhren durch das komplett verschneite Acer Falls County. Die Nachbarskinder Donny Jefferson und Miranda Ash liefen mit ein paar Freunden aus dem Nachbarsgut Schlittschuh auf dem zugefrorenen Red-Lake und an der einen oder anderen Ecke wurde auch eine wilde Schneeballschlacht veranstaltet. Die Straßen waren so glatt, dass wir gerade mal 20 Miles per Hour schafften. Das ist nicht gerade viel, aber das Acer Falls Hospital war ja Gott sei Dank nur 3 Meilen westlich von unserem Gut. Wir kamen also dort relativ schnell an, ich glaube es waren 15 Minuten Autofahrt. Sie erwarteten Alexa bereits und schoben sie mit einem Rollstuhl in die Entbindungsstation.

Deine Mom war damals sehr schwach, sie litt sehr unter ihrer schweren Krankheit und das sah man ihr auch an. Wir setzten uns draußen in den Gang der Entbindungsstation und warteten ab. Wir waren alle vor Ort. Tante Simona war aus Wakecreek, Wisconsin angereist. Dein Onkel Marius von den Special Forces hatte seinen Auslandseinsatz unterbrochen und ist aus Afghanistan in einer Nacht- und Nebelaktion nach Acer Falls geflogen. Ich trank eine Coke, ich brauchte nach all den Anstrengungen erstmal was für meinen Kreislauf, nicht, dass der mir auch noch abhauen würde. Wir sprachen draußen sehr wenig, waren alle sehr angespannt. Nach einer mehrstündigen Operation kam eine nette Schwester aus dem Entbindungstrakt heraus, lächelte uns an und berichtete uns, du seist per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen und seist putzmunter und gesund. Wir schauten uns gegenseitig an, nahmen uns in die Arme und waren so überglücklich, dass es dir gut ging. Das Bild von dir und Grandma hatte Simona geschossen. Deine Grandma, dein Dad, Tante Simona, Onkel Marius und ich kümmerten uns alle sehr um dich. Wir zogen dich auf. Du warst was ganz Besonderes für uns, du warst neben Alexa, Simona und Marius unser viertes Kind. Wir gingen immer mit dir zusammen in die Kirche und beteten für deine Mom.“ Ich begann zu weinen, denn die Situation überkam mich. Meine Tränen liefen wie die Acer Falls herunter und platschten auf das Memories-Buch. Ein paar Tränen trafen die Worte „glücklichste Grandma“ und die Tinte verlief ein wenig. Es waren teils Tränen der Trauer aber auch Tränen der Freude. Trauer, weil Mom dem Tod so nahestand, Tränen der Freude, weil sie ihr Leben aufs Spiel setzte, um das meine zu retten und der Gedanke an meine religiöse Überzeugung, daran, dass Gott den Menschen das Leid nimmt und, dass es nach dem Tod weitergeht, das ewige Leben. Meine Mom ist eine wahre Kämpferin. Alph nahm mich in den Arm: „Alles ist gut, deiner Mom geht es wieder gut, sie ist gesund und hat alles überlebt, das weißt du doch. Krebs sollte nur ein Sternzeichen sein, ja… es sollte nur ein Sternzeichen sein!“ Grandpa drückte mich schon etwas zu fest und begann ebenfalls zu weinen. Nach kurzer Zeit fand ich mich wieder, schaute Alph an und fragte, ob wir fortsetzen könnten. Er wusch sich und mir die Tränen aus dem Gesicht, schnäuzte sich die Nase und er sagte: „Na los Bubi, weiter geht’s.“ Wir blätterten auf Seite zwei um. Meine Hände zitterten dabei sehr, ich dachte niemals, dass die Erinnerungen durch die Fotos mich so packen würden. Alph unterbracht mich: „Warte mal kurz, lass mich nur schnell…“ Ich war etwas verwundert und schaute ihn an. Was er wohl vorhabe? Er holte aus dem Rucksack die Avastin-Tabletten raus, nahm eine und spülte sie mit „Autumn 4.9“ herunter. „Also mir sagte man, Alkohol und Tabletten solle man nicht kombiniert zu sich nehmen.“, sagte ich mit kühner Stimme. Alph hustete und antwortete darauf: „Ich bin schon so alt, da macht das auch nichts mehr aus. Und wir haben ja nur Bier dabei, also musste ich ja gezwungenermaßen meine Tablette damit runterspülen.“, sagte er ironisch. Ich lachte: „Ja da hast du recht!“ und fragte im weiteren Zusammenhang, warum er die Tabletten einnehmen müsse und für was diese Dinger denn gut seien. Er hielte kurz Inne, es war mucksmäuschenstill, dann sagte er ganz nüchtern: „Altersschwäche... ja Altersschwäche Bubi. Weißt du, die Dinger halten mich da oben drin fit.“ Er deutete auf seinen Kopf und zwinkerte. Einerseits freute ich mich, nun zu wissen, warum er diese Tabletten einnahm, andererseits empfand ich jedoch seine Aussage als sehr schwammig und ich konnte mich noch nicht hundertprozentig damit zufriedengeben. Irgendwo habe ich diese Dinger schon mal gesehen. Naja... Ich wollte meine Gedanken nicht länger den Tabletten widmen, denn wir waren ja eigentlich wegen dem Memories-Buch hierher an den Acer Creek gekommen.

Die Glühbirne über uns war schon sehr alt und flimmerte ständig. Sie war wohl nicht richtig drinnen. Ich kletterte so gut ich mit meinem operierten Knie auch konnte an der Innenseite des Pavillons hoch und schraubte sie ein wenig fester, was im Endeffekt das Flimmern dann unterbrach, wir hatten jetzt ein gutes Licht. Ich setzte mich vorsichtig wieder neben Alph und dieser stupste mich an. Ich solle ihm mal den Rucksack geben, das Feuer sei nun gut genug. Ich verstand nicht so recht, warum das Feuer nun gut genug sei aber ich gab ihm den Rucksack rüber. Er durchsuchte diesen nach etwas Bestimmten. Ich war etwas verwundert, wusste nicht, was er suchte, doch im gleichen Moment zog er die Zigarettenstange heraus. „Du wirst doch nicht wieder das Rauchen anfangen?“, fragte ich entsetzt. Alph beruhigte mich: „Nein, sicherlich nicht! Ich werde diese Stange jetzt auspacken und dann jede der zehn Schachteln einzeln in das Bonfire werfen!“ Ich konnte nicht ganz seinen Gedanken folgen: „Wieso tust du so etwas? Dann hättest du sie doch gar nicht kaufen brauchen.“ Grandpa schüttelte kurz den Kopf während er die Stange auspackte. „Ich brauche das für mich, weißt du, es tut gut, zu sehen, dass dieses Teufelszeug dahin brennt und niemandem was antut, niemand kommt dabei zu Schaden. Ich rauche nun seit circa eineinhalb Jahren nicht mehr und jedes Quartal gönne ich es mir, eine Stange zu kaufen, um diese dann zu verbrennen. Dadurch besänftige ich mich selbst. “ Das war sehr komisch für mich, doch ich akzeptierte Alphs Sicht der Dinge, wenn ihm es guttut und uns beiden nicht schadet, meinetwegen, das Geld hätte er sich vielleicht auch sparen können und für schönere Dinge ausgeben können, aber gut. Wenn er das braucht, so seinen Zigarettenentzug zu kompensieren, so werte ich es einfach nicht, so ist er eben. Alph warf eine Packung nach der anderen in das Lagerfeuer. Die Zigarettenschachteln waren nun alle im Feuer und loderten vor sich hin, es stank nach Tabak, ekelhaft! Ich schaute Grandpa an, dieser machte nun auf mich einen total beruhigten Eindruck, er schnaufte ganz langsam und tief durch. Ich freute mich, dass es ihm guttut, auch wenn es etwas komisch war, naja egal. „Früher verbrannte man Bücher, heute Zigarettenschachteln.“, sagte ich aus dem Stehgreif heraus. Wir mussten beide richtig anfangen zu lachen. „Ja so ist das eben, Bubi. Hach ja, lass uns doch mal in dem kleinen Erinnerungsbüchchen weiter stöbern.“ Ich fand das eine gute Idee und lächelte meinen Grandpa an. Alph schnappte sich das Memories-Buch, schlug auf die nächste Seite um und deutete auf das Bild. Wohl möglich wollte er sich und mich von der Zigarettenverbrennung ablenken, aber ja, ich dachte dann nicht mehr viel über dieses Feuer nach, sondern konzentrierte mich auf die nächste Seite. Fakt ist, dass die Schachteln richtig gut brannten und uns somit auch echt gute Wärme spendeten, wenigstens ein Vorteil dieser schlimmen Dinger.

- SEITE 2 – Die frühe Kindheit

~ Unser kleiner Knopf mit seinem großen Traktor – 16.11.84 ~ Alph begann zu erzählen: „Du warst schon ein richtig verspieltes, liebes Kind. Das zeigt dieses Bild nun mal wirklich auf eine ganz einzigartige und besondere Weise. Ein fröhlicher, lächelnder kleiner Bub mit blonden Engelslöckchen sitzt auf einem kleinen, grünen Trettraktor mit einer Schaufel vorneweg und einem großen Jauchefass als Anhang hinten dran. Ich glaube sogar, dass das Bild an meinem 58. Geburtstag in Tante Simonas Yard in Wakecreek in Wisconsin geschossen wurde, du warst damals knapp vier Jahre alt und dein kleiner Tretbulldog war dein Ein und Alles.“ Ich unterbrach meinen Grandpa: „Tut mir leid, dass ich dich kurz abstoppen muss, doch ich finde, es ist sehr schwer für mich, Dinge über mich nachvollziehen zu können, die in der Kindheit geschehen sind, denn ich kann mich nun wirklich überhaupt nicht mehr daran erinnern.“ Alph lächelte mich an und schüttelte mit dem Kopf: „Ach mein lieber Bubi, das muss dir doch nicht unangenehm sein. Ich verstehe, dass es dir schwerfällt, in den Erinnerungen, welche längst vergessen sind, also eigentlich nur im Unbewussten dein Verhalten prägen, Fuß zu fassen. Aber das ist doch gar kein Problem, dafür bin ich ja da und ich kann dir einen kleinen Einblick in deine Kindheit geben.“ Mich erfreute es sehr, dass Grandpa so zutraulich und verständnisvoll meine Besorgnis aufgenommen hatte. „Auja, Gram’pa, das wäre echt total lieb von dir… Ich weiß nur noch ein paar wenige Dinge, wie zum Beispiel das Geschenk der Spielzeug-Polizeiwache von euch. Wir waren damals einfach so in der Großstadt und ich sah das Spielset mit kleinen Polizeifiguren, einer Verbrecherfigur, einem Polizeiwagen und einer Wache. Ich war sofort verliebt und ihr erfülltet mir diesen Wunsch. Es war so wundervoll, ich habe damit am allerliebsten gespielt, das weiß ich bis zum heutigen Tag noch, lieber Grandpa.“ Alph war voller Freude. „Das weiß ich sehr zu schätzen. Wir haben dir immer gerne deine Wünsche erfüllt, weil schenken macht mich zumindest glücklicher, als wenn ich das tollste Geschenk der Welt bekäme. Dieser gute Gedanke daran, dass du an dem Spiel-Set Gefallen hattest und, dass es dir Spaß bereitete, damit zu spielen, das macht mich zum glücklichsten Grandpa der Welt.“ Ihm entwich eine kleine, aber deutlich erkennbare Träne, ich nahm meinen Alph in den Arm und drückte ihn ganz fest. „Du bist auch der allerbeste Grandpa der Welt!“ Es freute ihn ersichtlich. „Mhm, Mhm, ich… ich… muss da aber auch an eine etwas andere, unschöne Erinnerung zurückblicken, welche das Bild in mir auslöst.“, meinte ich zu Alph. Er war sehr bemüht um mich. „An welche denn? Hey… ist alles okay bei dir?“, fragte er liebevoll. Ich nickte und klärte ihn gleich daraufhin auf: „Ich muss daran denken, als… als Mom mir einst sagte, ich soll ein sehr wilder Bub gewesen sein, ich war anscheinend oft böse und habe nie gespurt. War ich denn wirklich so schlimm?“, fragte ich etwas entsetzt aber auch mit innerlicher Höchstspannung auf die Antwort. Alph beruhigte mich und meinte behutsam, dass ich eigentlich kein böser oder garstiger kleiner Junge gewesen sei. „Du hast oft nicht auf Mom gehört, sie sagte etwas, doch du warst oft sehr in dein Spiel vertieft gewesen oder zeigtest kein Interesse. Doch zu mir und Grandma Beth warst du eben immer sehr zutraulich und hast auch immer auf uns gehört. Auch als kleines Kind weintest du immer, wenn dich deine Mom auf den Arm nahm, bei uns warst du still, du schliefst auch oft bei uns, es war als wärst du unser viertes Kind. Also ist es klar, dass du aus Alexas subjektiver Sicht ein anstrengendes Kind warst, jedoch nicht aus unserer!“ „Mo…Moment“, unterbrach ich Alph. „Aaaalso in unserer High-School besprachen wir in unserem Psychologiekurs auch das Thema Urvertrauen und Urmisstrauen. Dieses wird vor allem im ersten Lebensjahr durch die enge Bindung im Normalfall zwischen Mutter und Kind gebildet. Doch jetzt wird mir so einiges klar. Wo war denn Mom in meinen ersten Lebensjahren, especially im allerersten, noch so wichtigen Lebensjahr?“, fragte ich Alph rhetorisch. „Na… im Krankenhaus, sie war selten zu Hause, weil sie doch immer Chemotherapie Anwendungen und andere Torturen hinter sich bringen musste, um zu überleben.“ Meine Lippen zitterten: „Ja genau, Alph. Das ist der Punkt. Auch heute fällt es mir noch schwer, mit Mom über verschiedene Dinge zu reden. Es wird zwar immer besser, aber es wird jetzt alles immer transparenter für mich. Ich konnte kein Urvertrauen zu ihr bilden, weil sie leider nicht oft in meiner Nähe war. Dafür kann sie ja nichts, um Gottes Willen, aber es prägt mich eben im Unterbewussten, wie du auch schon gesagt hast. Klar, ihr wart damals dann meine Ersatzeltern und auch heute fühle ich mich bei dir auch sehr wohl, keine Frage, doch die Bildung des Urvertrauens zwischen Mom und mir lief schief. Es ist sehr schade, aber dadurch wird mir erst jetzt so wirklich klar, warum wir uns früher oft in die Haare gekriegt hatten. Auch heute kriselt es ab und zu auch noch, wir haben Meinungsverschiedenheiten und finden oft nicht den gemeinsamen Nenner, mal abgesehen davon, dass wir beide nicht die Matheprofis sind, sondern eher sprachlich begabt sind.“ Ich musste ein wenig lachen und fand es doch ganz schön anzusehen, wie viele Dinge Mom und ich gemeinsam haben. Sie ist Englisch- und Deutschlehrerin und ich möchte auch Englischlehrer werden, als Zweitfach werde ich mich für Geschichte entscheiden. Englisch, weil ich, wie Mom, ein leidenschaftlicher Sprachexperte bin, Geschichte, weil die Vergangenheit unsere Gegenwart und Zukunft immer prägen wird. Ich finde, dass man die Vergangenheit kennen, die Geschehnisse von damals, von vergangenen Zeiten reflektiert im Hinterkopf behalten muss, um eben die Gegenwart zu verstehen. Wie wir unseren heutigen Wohlstand hart erkämpft hatten und wie wir, die Vereinigten Staaten von Amerika, immer wieder versuchen, weltweit, soweit es möglich ist, für Frieden zu sorgen. Man muss das alles wissen und mir ist es wichtig, in den Schülern, den Heranwachsenden ein Geschichtsbewusstsein zu bilden, dass sie Interesse an der Geschichte unseres Landes, unseres Kontinents und unserer Welt zeigen und dadurch die Gegenwart richtig deuten können, um in der Zukunft nicht erneute Fehler zu machen, die in der Vergangenheit passierten und aus denen man lernen sollte. Grandpa stupste mich an: „Bubi, bist du noch da?“ Ich war gedanklich etwas abgeschweift, aber ich schüttelte kurz meinen Kopf und nickte. Grandpa fuhr fort: „Siehst du mein Freund, du und deine Mom, ihr habt doch sehr viel gemeinsam. Man soll nicht immer die schlechten Dinge in einem sehen, sondern sich, in dem was einander verbindet, verbünden.“ „Da hast du so was von Recht, Alph. Es ist oft so, dass ich mit einer Verteidigungshaltung mit ihr in Kontakt trete. Ich rede etwas schwammig mit Mom, schenke ihr wenig Aufmerksamkeit, was mir im Nachhinein eigentlich immer leidtut und so kommen wir kommunikativ nie auf den Punkt. Oft streiten wir uns, doch es bringt doch eigentlich nichts, dann den Schuldigen zu suchen. Jeder setzt den Punkt und die Ursache für den Streit an einer anderen Stelle, die Interpunktion der Ereignisse. Mom motzt, weil ich mich immer in mein Zimmer verkrieche und ihr somit keine Aufmerksamkeit schenke. Ich flüchte mich aber wieder rum ins Zimmer, weil Mom motzt. Ein Teufelskreis.“ Grandpa lächelte mich an. „Bubi, du hast es erfasst, du hast genau das ausgesprochen, was ich dir eigentlich noch erklären wollte, natürlich nicht mit den Fachwörtern wie diese Interpunktion, die du da nanntest, aber ja so ist es. Und jetzt spiele ich dir wieder den Ball zu. Was muss man tun, um die Situation zu klären?“ Ich überlegte geschwind, doch für mich kam nur eine Lösung in Frage: „Also ich habe das zwar nie versucht, aber man sollte eigentlich einen Strich machen, man sollte seine Verteidigungshaltung aufgeben und auch mal die Sicht des anderen berücksichtigen. Das würde die Situation schon mal etwas besänftigen und beruhigen.“ Alph machte eine Faust, doch dann hob er die Hand in eine Position für einen High-Five. „Wie macht ihr jungen Leute das heute nochmal?“, fragte er etwas beschämt. Ich musste so was von lachen. „Ach Alphi, das ist ja goldig, wir können uns auf einen High-Five einigen.“, antwortete ich. Grandpas Backen wurden rot und ich steckte ihn mit dem Lachen an. Daraufhin schlugen wir gemeinsam ein. „Was ich dir eigentlich sagen wollte, Bubi.“, fuhr Alph fort. „Du hast es kapiert, du hast verstanden, worum es geht. Vergeben, verzeihen, vielleicht auch mal einsehen, dass man nicht immer Recht hat und vor allem dem anderen eine Chance geben, seine Meinung frei darlegen zu dürfen. Vielleicht kannst du ja beim nächsten Gespräch mit Mom mehr auf sie eingehen. Aber sie ist ja noch bis morgen mit deinem Dad in Urlaub, somit hast du heute noch mal deine Ruhe vor ihr.“, sagte Grandpa mit einem zwinkernden Auge. „Haha, ja das stimmt. Aber gut, ich muss dir wirklich Recht geben, es stimmt, ich sollte ihr eine Chance geben und ich glaube, das werde ich auch tun. Denn dadurch gebe auch ich mir eine Chance, eine Chance, mich selbst mit Mom in Einklang zu bringen, so dass es uns beiden im Endeffekt gut dabei geht. Ich verbünde mich mit ihr, ich mache uns beide stark durch die Dinge, die uns verbinden. Auch die Verteidigungshaltung werde ich versuchen, aufzugeben, ich hoffe ich schaff das, es würde uns beiden wirklich guttun.“ Grandpa nickte ernst mit dem Kopf und antwortete darauf: „Ich verstehe dich mein Freund. Es wird anfangs bestimmt schwierig und komisch für dich sein, nicht gerade darauf zu warten oder davon auszugehen, dass Alexa dich wieder anmotzt, du gibst eben deine Verteidigungshaltung auf. Man beeinflusst sich im Reden und im Verhalten gegenseitig. Gehe ich davon aus, dass Streit bevorsteht, so gehe ich auf die Person anders zu, als wenn sie sehr freundlich wäre und ich niemals an Streit mit dieser Person denken würde. Es ist eine Art selbst prophezeiende Botschaft, so wie ich mich nach außen zu jemanden verhalte, so wird das auch die Beziehung beeinflussen.“ Mir wurde immer mehr klar, was bei mir und Mom bis heute an der Kommunikation falsch lief und mir tat es mit jeder weiteren Sekunde immer mehr leid. Ich nickte ein paar Male, war mir sicher, dass sich was ändern muss und beschloss mit Grandpa zusammen, dass ich mich, sobald morgen Mom und Dad aus dem Urlaub wieder zurück seien, mal mit ihr zusammensetzen werde und mit ihr reden werde.

Wir beide freuten uns über das Resümee, welches ich aus diesem Bild ziehen konnte. So verändert eben auch mal wieder die Vergangenheit das heutige Erleben. Es ist wahrhaftig, ich muss eben auch meine eigene Vergangenheit kennen, um die heutige Gegenwart, die Beziehung zu meiner Mom verstehen zu können und, um diese zukünftig zu ändern, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine angenehme Beziehung für mich und Mom zu schaffen. Als angehender Lehramtsstudent für Geschichte habe ich nun wieder einen dunklen Teil meiner Vergangenheit, welcher mir vorher nicht bewusst war, erleuchtet. Dadurch kann ich diesen bewusst wahrnehmen und positiv beeinflussen. Es war wundervoll. Wieder was gelernt! Grandpa begann zu erzählen: „Also dieses Bild hat nun wirklich seinen Dienst getan, seinen Zweck erfüllt. Ich glaube, es hat in dir aber auch in mir etwas ganz Wichtiges bewirkt.“ „Auja, das finde ich aber auch. Blättern wir diese Seite um und schauen, was uns auf der nächsten Seite so erwarten wird?“, fragte ich meine Alphi gespannt. Er lächelte mich an und nickte, daraufhin schlug ich die dritte Seite des Memories-Buches auf.

- SEITE 3 – Casper

Es waren insgesamt vier Bilder auf dieser Seite zu sehen, alle immer aus der gleichen Position geschossen. Geburtstagsbilder, auf denen ich entweder vor meinen Geschenken und den Kuchen stand oder gerade dabei war, den Kuchen auszublasen. Mein siebter, achter, neunter und mein zehnter Geburtstag wurden darauf festgehalten. Ich trug immer mein feines, blauweiß kariertes Hemdchen und lächelte gezwungenermaßen in die Kamera. Auf drei der vier Bilder war ich alleine, ich hatte damals keine Freunde, doch dann trat eine Veränderung in meinem Leben ein. Das letzte Bild der Bilderfolge von Seite zwei zeigte mich an meinem 10. Geburtstag. Ich war darauf mit einem Freund zu sehen und wir standen vor meinem Kuchen und meinen Geschenken. Unter dem Bild stand: ~ 08.01.1990 - Schon der 10. Geburtstag und Casper ist auch dabei. ~ Wenn bei uns im Hause jemand Geburtstag hatte, so reisten immer viele Verwandte an. Es gibt wie immer Kaffee und Kuchen und gegen Abend wird bei gutem Wetter ein Barbecue veranstaltet, bei schlechtem Wetter zaubern dann Grandma und Mom zusammen immer etwas Delikates. Bei uns geht also niemals jemand hungrig oder durstig nach Hause. Freunde wurden bei uns in der Gegend eigentlich klischeehaft immer zum Kindergeburtstag eingeladen, jedoch feierte ich so gut wie nie einen. Ich hatte nämlich während meiner Kindheit keine richtigen langfristigen Freundschaften, bis auf eine. Wir wohnten damals noch in einer anderen Vorstadt, ca. 15 Meilen entfernt von Acer Falls County, in der Nähe von Chicago, unserer Hauptstadt des Bundesstaates Michigan. Die Kinder aus dem damaligen Ort konnten mich nicht ausstehen, daran war aber eigentlich nicht ich schuld, sondern deren Eltern, die ihnen schlimme Dinge über mich einredeten, die nicht stimmten. Auch mein äußerliches Erscheinungsbild war nicht perfekt, ich war sehr dick und die anderen hänselten mich deswegen. Natürlich war ich auch ein Lausebengel und lebte immer voller Energie, jedoch wollte ich nie jemandem anders wehtun oder zu Schaden kommen lassen. Oft durfte ich nicht mit ihnen spielen gehen und war somit sehr oft zu Hause. Ab und zu spielte ich mit den Nachbarskindern, woraus sich aber auch keine Freundschaften entwickelten. Ich feierte also nie Kindergeburtstage, bis zu meinem 10. Geburtstag. An einem sonnigen Sommernachmittag änderten die Dinge sich und ich hatte für eine Weile, etwa zwei bis drei Jahre einen besten Freund. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, denn es war eine so tolle Erinnerung, sie bedeutet mir sehr viel, aus einem ganz bestimmten Grund heute umso mehr. Ich zeigte auf Casper und erzählte Grandpa von ihm: „Ich lernte ihn durch Zufall auf der Straße kennen. Ihm war es egal, dass ich dick war. Ich fuhr damals mit meinem Skateboard bei einem gegenüberliegenden Autohaus und er kam auch vorbei, auch mit seinem Skateboard. Wir lächelten einander an und er sagte: „Du bist doch der Neffe von Marius oder? Mein Dad ist ein Freund von ihn und finde es cool, dass er bei den Special Forces ist.“ Ich antwortete erfreut mit einem lauten „Japiduu, so ist es.“ Wir redeten kurz über das Skaten, jedoch konnte ich noch keinen Trick, ich hatte das Skateboard zum 9. Geburtstag geschenkt bekommen. Er bemühte sich um mich und lobte mich für meinen sicheren Fahrstil. Daraufhin meinte er: „Ich kann dir ein paar Tricks beibringen. Lass mich dir helfen.“ Ich freute mich total und wir skateten los. Später fragte ich ihn, ob er noch mit mir nach oben kommen möge. „Wir haben leckeren Eistee und wir könnten ein wenig mit meiner Ritterburg spielen.“ Er lächelte mich an und sagte: „Na auf geht’s. Worauf warten wir?“ Ich wusste, dass er sich immer aus den Angelegenheiten der anderen herausgehalten hatte und er spielte ebenfalls nicht mit den anderen Kindern, die so böse waren. Wir waren also zwei Kinder mit dem gleichen Schicksal. Nicht gesucht, aber gefunden! Voller Freude stürmte ich ins Haus: „Mom, Mom, stell dir vor, ich bringe einen neuen Freund mit nach Hause. Das ist Casper.“ Mom schmunzelte über beide Ohren und freute sich sehr für mich. Sie bat uns herauf. Wir spielten noch ein wenig und tranken kühlen Eistee mit Eiswürfeln und einer Zitronenscheibe darin – Moms Spezialität an heißen Sommertagen. Danach musste er heim. Ich war überglücklich, endlich einen Freund gefunden zu haben. Von dort an war er mein einziger und somit bester Freund. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander.“ Dies war meine einzige Kindheitserinnerung mit Casper, an die ich mich vollkommen detailliert erinnern kann. Jedoch kann ich nicht mehr dazu sagen, das war es schon, ich habe leider nicht mehr als diese eine Erinnerung. Alph lief eine Träne vom Gesicht. Ja allgemein fällt mir in letzter Zeit oft auf, dass er weint. Vielleicht Altersdepressionen. Ich wollte zu reden beginnen doch Grandpa begann das Gespräch zu diesem Foto: „Es bedeutet dir sehr viel, hab ich Recht?“ Eines war und ist für mich immer noch klar, Freundschaften sind sehr wichtig im Leben. Sie stärken einen von außen und machen aus dir einen besseren Menschen. Ich schaute auf den Boden und nickte, dann drehte ich meinen Kopf in seine Richtung. Alph wusste genau, was mit mir los ist. Er lächelte mich an, legte seine Hand auf meinen Schoß und gab mir das Gefühl, nicht alleine zu sein. Er wusste, wie wichtig mir diese Freundschaft war und er wusste auch, was danach passierte. Im Memories-Buch würden wir mit dem Thema früher oder später noch konfrontiert werden, nur das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Es war wohl einer deiner schönsten Geburtstage, habe ich Recht Bubi?“, fragte Alph. „Ja… Ja das war er, es war eben mein erster Geburtstag, an dem ich einen Freund einladen konnte, vorher hatte ich eben niemand.“ Grandpa wirkte etwas bedrückt. „Bei mir sind Geburtstage nichts mehr Besonderes, man feiert, dass wieder ein Jahr vorbei ist, dass man wieder ein Jahr geschafft hat, dass man im letzten Jahr nicht weggestorben ist. Es ist schwierig… manchmal. Es wäre das Beste, wenn wir jetzt weiterblättern.“, sagte Alph. Er schien sehr bedrückt, ich fand, er machte sich zu viel Gedanken. Um eben ihn nicht weiter zu kränken, nickte ich leicht und schaute meinen Grandpa an, der nickte auch. Ich blätterte auf die nächste Seite um und schnitt mich dabei leicht am Papier. Meine Hand zitterte und Grandpa wusste, dass mich dieses eine Thema noch sehr packte. Seine schlechte Stimmung schwand sofort und er war auf einmal hellwach und sehr bemüht darum, mir zu helfen. Er durchsuchte die Seitentasche meines Rucksackes nach einem Erste-Hilfe-Set, packte dieses aus, schüttete etwas Bier über die Wunde, denn Alkohol desinfiziere die Wunde ein wenig, meinte Alph. Danach klebte er mir ein Pflaster auf den Finger. Er nahm mein Bier und drückte es mir in die Hand. „Auf dich und Casper.“ Ich lachte für einen kurzen Moment. „Ja, auf mich und Capser.“ Ich nahm einen großen Schluck, dieser lief herunter wie Quellwasser. Um weitere Gedanken an meine Kindheit zu verdrängen, konzentrierte ich mich nun auf das Polaroid auf der dritten Seite.

- SEITE 4 – Balsam für die Seele

~ Weihnachten ’86 – Unser kleines Musikgenie ~ „Musik, ja Musik ist eine Möglichkeit, mit Gefühlen, Emotionen und Problemen des normalen Lebens ganz bewusst umzugehen und diese dadurch den Zuhörern, aber am meisten sich, leichter zu machen. Ohne Musik würde in meinem Leben nichts laufen! Man nehme einen erfahrenen Musiker, gebe ihm ein Klavier und eine Gitarre, sperrt ihn in einen Raum mit Unmengen an Bier ein und lässt ihn einfach ausprobieren, einfach improvisieren. Dann kommen da die besten Rocksongs oder Balladen dabei heraus. “ „Jaja, wenn das nur so einfach wäre.“, erwiderte Grandpa darauf. Er setzte fort: „Auf dem Bild hier bist du aber noch ein kleiner Musiker, der damals Marius Gitarre an Weihnachten mit sich herumtrug. Und Bier durftest du damals auch noch nicht trinken.“, ergänzte er mit einem zwinkernden Auge. „Ja das stimmt, Alph, aber ich habe mich meiner Meinung nach zu einem sehr talentierten Musiker weiterentwickelt.“ Grandpa nickte und lächelte mich ganz stolz an. Sekunden später kullerte ihm wieder eine Träne herunter, sabalott. „Ja, Bubi, das hast du, das hast du.“ Ich lachte und begann zu erzählen: „Weißt du noch damals, meine erste Stunde beim Schlagzeugunterricht?“ Alph schloss die Augen, wohlmöglich, um sich besser in die Situation hineindenken zu können. Ich fuhr fort:„ Du hast mich damals in den Nachbarort zur Musikschule gefahren. Ich entschied mich mit fünfeinhalb Jahren dafür, Schlagzeug zu lernen. Dass ihr das so unterstützt habt, ich war immer so laut und die ganze Nachbarschaft hatte mich beim Trommeln hören können, haha. Mein jetziges Schlagzeug ist immer noch das, welches ich zu Beginn bekam. Es war ein sehr teures Schlagzeug, eins von Sonor, Baujahr 1985. Durch gute Pflege und stetiges Fellwechseln konnte ich die Qualität des Schlagzeugs erhalten. Heute ist es schon 14 Jahre alt. Jedes Mal, wenn ich es sehe, muss ich an früher denken. Schöne Gedanken!“ Opa unterbrach mich: „Ja... du und ich, wir leben eben in einer Zeit, in der man kaputte Dinge noch repariert und nicht gleich wegschmeißt. Das ist wichtig!“ Ich nickte ernst, dann drückte ich seine Hand ganz feste. „Anfangs lernte ich Grundlagen des Schlagzeugspielens und dann folgten schon die rhythmischen Feinheiten und ich konnte mit zehn, elf Jahren schon richtig sicher Schlagzeug spielen. Damals kam ich in die Mini-Marching-Band und durfte dort sofort an das Set. Eines Tages kam mein Schlagzeuglehrer Martin zu mir und meinte, ich könne ein Leistungsabzeichen ablegen, das mir den Zugang zur Youth-Marching-Band ermögliche. Dafür müsse man aber auch viele Theoriekenntnisse vorweisen können und eine theoretische, sowie auch praktische Prüfung ablegen. Als Zehnjähriger war das schon eine Herausforderung für mich, jedoch lernte ich sehr viel darauf, denn ich wollte bestehen. Zu den Kenntnissen der Theorie gehörten Töne und Tonleitern, die Unterscheidung zwischen Dur und Moll und Gehörbildung, also Oktavenlehre. Bei der Praxis erweiterte sich mein Instrumentenspektrum vom ehemaligen Schlagzeug hin zum Glockenspiel, dem Xylophon, den Pauken und den Perkussionsinstrumenten. Ich übte die Tonleitern wie ein Wilder und konnte mein Xylophon-Stück auswendig. Die Prüfung bestand ich mit „sehr gutem Erfolg“, hieß es auf der Urkunde. Später bildete ich mich mit 13, 14 noch einmal weiter und erlangte das Leistungsabzeichen zweiter Art, welches viel komplizierter und schwieriger war. Durch die Theorielehre und meiner Begeisterung am Xylophon bildete sich ein enormes Interesse an dem Instrument. Im Alter von 14 Jahren hatte ich die große Ehre, ein Solo auf dem Xylophon in Begleitung der Youth-Marching-Band vorzutragen. Das Spektakel fand damals kurz vor Weihnachten statt und es schauten mir über 2000 Leute dabei zu. Man war ich aufgeregt.“ Grandpa begann stolz zu reden: „Ohja das stimmt und ich war in der ersten Reihe gesessen.“ Ihm liefen wieder zwei, drei Tränen an der Wange herunter. „Und an meinem 68. Geburtstag hast du es nur für mich noch einmal in der Acer Falls Countyhall vorgeführt. Das war das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe.“ „Genau, und durch diese Begeisterung an dem Xylophon brachte ich mir selbst das Klavierspiel bei, auf deiner kleinen Orgel, wie du sie immer nennst, die in Marius Wohnzimmer stand.“ „Aaah das gute alte Ding, ja darauf habe ich immer Kirchenlieder geübt und dazu gesungen. Das hat sich aber nie so ganz hasenrein angehört.“, ergänzte Grandpa. Ich setzte lachend meine Gedanken weiter fort: „Ja oh Grandpa, da hast du recht, das war nie ganz richtig, aber es war immer schön, wie du dich darum bemüht hattest, dass es wenigstens einigermaßen nach etwas klingt.

Bei mir war das Klavierspiel anfangs nur mit zwei Fingern möglich, also wie als würde ich Xylophon spielen. Doch irgendwann habe ich ganz intuitiv Dreiklänge mit der linken Hand gegriffen, habe mir diese Akkordmuster gut eingeprägt und mit der rechten Hand habe ich eine Melodie dazu gespielt. Wenn du mir ein Lied einmal ganz vorspielst, so kann ich es dir nach Gehör nachspielen.“ Grandpa wirkte ganz erstaunt und öffnete die Augen: „Das kannst du echt? Na das probieren wir zu Hause auf meiner Orgel morgen gleich mal aus. Mein Lieblingslied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ kennst du bestimmt.“ „Ja logo“, antwortete ich und schmunzelte. „Diesen Wunsch erfülle ich dir gerne. Und jetzt pass mal auf Grandpa. Vor allem während meiner Zeit an der Middle-School hatte ich oft die Möglichkeit, auf einem richtigen Flügel zu spielen. Wir hatten einmal die Woche Mittagsschule und zwischen dem 3. und dem Nachmittagsblock bekamen wir immer eine Stunde Mittagspause. Viele Mitschüler blieben im Klassenzimmer, zockten auf ihren Gameboys, machten schnell die Hausaufgaben für den Nachmittagsunterricht oder spielten bei passendem Wetter im Freien. Ich jedoch besorgte mir immer sehr zügig etwas zu essen und verschwand mit einem Schulfreund, der sehr gut Klavier spielen konnte, im Musikraum. Ein kleiner Kabuff im untersten Stockwerk der Schule zwischen verschiedenen Technikräumen und dem Büro des Facility Managers. Ich besorgte mir einen Schlüssel bei einer Lehrerin und setzte mich aufgeregt ans Klavier und festigte so wöchentlich meine Künste. Phoenix, mein damaliger Schulfreund, half mir oft und zeigte mir neue Griffe und Lieder. Er baute mit mir zusammen mein pianistisches Grundgerüst auf. Mit ihm spiele ich momentan auch in der Band zusammen, in der wir die eigenen Lieder spielen und diese bald aufnehmen wollen. Diesen Sommer wollen wir in unserem Proberaum ein paar Demo-Aufnahmen ausprobieren. Nach und nach wurden meine Mitschüler darauf aufmerksam und hörten mir oft heimlich zu. Auf der Grundlage des Klavierspielens und der Logik der Tasten- und Tonlagen erlernte ich später dann auch noch das Gitarre- und Bassgitarrespielen.“ Alph verzog das Gesicht: „Hä? Also Bubi, das musst du mir jetzt mal erklären, wie man von der Logik und dem Aufbau des Klavierspiels auf die Technik des Gitarrenspiels kommt.“ „Naja, es ist eigentlich ganz einfach. Auf dem Klavier sind die Töne in Halb- und Ganztonschritte aufgeteilt. Ganztonschritte liegen zwischen H und C und zwischen E und F. Sonst sind alles Halbtonschritte. Auf der Gitarre gibt es fünf Saiten, E, A, D, G, H und ein hohes, oktaviertes E und ganz viele Bünde. Jeder Bund entspricht einem Halbtonschritt auf dem Klavier, beziehungsweise bei H und C und E und F ein Ganztonschritt. Drückst du also auf der E-Saite den erste Bund ab so hast du ein F. Drückst du auf der A-Saite dann den dritten Bund ab, so erklingt ein C. Eine Quinte ist entstanden. Ergänzt du diese durch ein hohes F, das durch Abdrücken der D-Saite im dritten Bund entsteht, so ergibt das einen Dreiklang.“ „Und ich versuchte mich Jahrelang am erlernen kompliziertester Akkorde und komme nicht auf diese Logik. Oh Mann!“, seufzte Alph und lachte mich an. „Du bist halt eine Kapazität, ein wahres Naturtalent, Bubi.“ „Danke Grandpa!“, sagte ich ganz bescheiden. „Ja Grandpa, bei der Musik ist eben immer eine gewisse Spontaneität gefragt.“ Alph erwiderte: „Ohja, wie recht du hast! Ich für meinen Teil bin sehr spontan und die tollsten Dinge sind die, die aus einer ungeplanten Situation heraus entstehen.“ Ich nickte.

Grandpa richtete sich auf. „Hey… Bubi, hast du Lust, dass wir jetzt etwas spontan sind?“ Ich freute mich innerlich sehr und war sehr gespannt was er vorhatte. Ich lächelte Grandpa zustimmend an. „Alles klar, Bubi, du siehst da vorne den kleinen See, aus dem der Acer Creek Bachlauf entspringt? Um ihn herum geht ein kleiner Rindenmulch-Pfad, vorbei an den fünf Holzpfählen, die die Lichterkette stützen. Der Weg verläuft unter dem Wasserfall und man kann hinter den Wasserfall laufen und sich dort auf einen großen Stein setzen. Man befindet sich dann in dem Wasserfall. Wir müssten uns lediglich den Weg freischneiden, aber das wird für uns wohl kein Problem sein.“ Ich schaute Grandpa mit weitgeöffneten Augen an, war total begeistert von seiner spontanen Idee und lächelte ihn zustimmend an. „Wir laufen gemeinsam, so schnell es geht ab hier, vom Pavillon aus los, okay? Bei drei geht’s ab. Bereit?“ Ich schrie ganz aufgeregt: „Ja, Ja los geht’s.“ und griff nach meinen Gehilfen. Alph schnappte sich das Memories-Buch, zwei neue „Autumn 4.9“, setzte mir den vollgepackten Rucksack auf und schob mir seine riesengroße Taschenlampe in die Hosentasche. Grandma sagte immer, man könne mit dieser Taschenlampe jemanden erschlagen. In dem Gedanken an sie musste ich richtig schmunzeln. Grandpa zählte leise bis drei, er begann leise und wurde bei drei ganz laut; und wir liefen voller Freude los. Am Pavillon sprang Alph die drei Stufen, welche in das Innere des Pavillons führten, ganz locker herunter. Ich folgte ihm mit meinen Krücken. Ein paar nasse Meter auf dem Acer Creek führten uns zum See, aus dem er entsprang. Das Wasser war sehr kühl und spritzte uns hoch an die Hosenbeine. Wir gingen eine kleine Treppe hoch, welche uns zum ersten Pfahl führte. Dort angekommen waren es noch drei Pfähle, bis wir hinter den Wasserfall gelangten. Noch zwei Meter bis zum Wasserfall. Ich schaute Grandpa an, der wiederrum mich und wir lächelten uns an. Wir standen vor einer unpassierbaren Enge, lauter Gras, Äste und Moos hing herunter. Er schnitt ein paar Äste und Gestrüpp weg, so dass ein kleiner Spalt zwischen dem Wasserfall und dem Berg, an dem dieser herunterprasselte, entstand. Grandpa bat um die Taschenlampe und stieg als erster hinein. Ich legte die Gehhilfen ab, fragte, ob alles ok sei, Grandpa rief, ich könne kommen, es sei wundervoll. Ich krabbelte mühsam hinter her. Sah zu Beginn sehr wenig, doch dann leuchtete Alph mir den Weg zu sich. Wir befanden uns nun im Wasserfall. Das Wasser prasselte leicht und sanft vom Berg herunter, man hörte kaum ein Rauschen. Es war richtig romantisch und gleichzeitig auch so sehr beruhigend.

Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm

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