Читать книгу Bücklers Vermächtnis - Johannes Michels - Страница 4
1
ОглавлениеSie vollführte den Bogenschritt sicher und langsam. Dabei teilten ihre Hände die Mähne des wilden Pferdes bevor sie dann zur nächsten Figur des Tai Chi Chuan überging. Sophie Haller genoss diese ruhigen und harmonischen Bewegungen in mitten von gleichgesinnten Studenten der Heidelberger Universität. Sie dienten ihr als Ausgleich zum stundenlangen Verweilen in den überfüllten Hörsälen.
Die Gruppe befand sich draußen im Park, am nahegelegenen Neckar. Die Julisonne brannte unerbittlich auf sie herab. Seit nun schon fast zwei Monaten war kein Tropfen Regen mehr gefallen und es schien so, dass dieser noch junge Sommer durchaus im Stande war alle Hitzerekorde zu brechen. Die Eisdielen und Schwimmbäder waren voller Menschen, ebenso die Biergärten und die Parkanlagen, in denen jedes schattige Plätzchen heiß begehrt war, um Sonne und Schweiß zu entkommen.
»Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus«, sagte Lehrmeister Xiao Yi zu ihnen. Die Schüler nahmen seine Bewegungen auf und ahmten sie nach. Die Gruppe strahlte in ihrer synchronisierten Bewegung eine große Ruhe und Gelassenheit aus. Schaulustige sahen teilweise mit Bewunderung, oder aber mit Unverständnis auf die Gruppe, die wie in Zeitlupe ihre Bewegungen ausführte. Sophie störten die Beobachtungen durch Außenstehende schon lange nicht mehr. Sie betrieb das Tai Chi Chuan seit über fünf Jahren und war in der Form so tief versunken, dass sie die Beobachter nur am Rande war nahm. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren hatte sie bereits eine Stufe des Tai Chi Chuan erreicht, dass sie deutlich von einem Anfänger unterschied. Tai Chi bedeutete für sie mehr als nur körperliche Ertüchtigung. Sie konnte den Geist des höchsten Prinzips, so wie man Tai Chi übersetzte, förmlich spüren.
Xiao Yi gab weitere Anweisungen, die die Gruppe sicher und ruhig umsetzte. Sophies Lehrer war Chinese und vor den Kommunisten während der Kulturrevolution geflohen. 1969 war er dann nach Deutschland gekommen und hatte sich zuerst mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Er entdeckte, dass die asiatische Kampfkünste und Bewegungstherapien auch in Deutschland immer beliebter wurden. In seiner Heimat hatte er von klein auf diese Künste gelernt und so gründete er eine der ersten Schulen fürs Tai Chi Chuan in Deutschland. Anfänglich war die Nachfrage schleppend und er musste mehr als einmal mit knurrendem Magen ins Bett. Aber Mitte der Siebziger Jahre boomte das Geschäft plötzlich und er konnte seinen Lebensunterhalt davon sehr gut bestreiten.
Xiao Yi schloss seine letzte Bewegung ab. Sein Blick lag prüfend auf der Gruppe, die nun ebenfalls in Ruhe verweilte.
Er legte die linke Hand über die Rechte die er zu einer Faust gebildete hatte und grüßte mit einer leichten Verbeugung in Richtung der Gruppe. Diese tat es ihm nach.
»Tui Shou«, forderte er dann.
Sophie sah wie sich ihre Gruppe lichtete. Von anfänglich zwölf Schülern blieben nur noch vier, einschließlich ihr, stehen. Tui Shou war eine Übung für Fortgeschrittene, besser bekannt unter dem Begriff Push Hands, die schiebenden Hände. Hierzu stellten sich die Schüler als Paare gegenüber. Sophie sah sich einem Mitstudenten aus ihrem Semester gegenüber. Sein Name war Dennis, zweiundzwanzig Jahre alt, der in seiner Freizeit die meiste Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Sophie und er nahmen über ihre Arme Kontakt zu einander auf. Sie spürte deutlich die durchtrainierte Unterarmmuskulatur ihres Gegenübers. Aber sie wusste, dass es hier weniger auf Kraft ankam, sondern auf die Umlenkung dieser. Xiao Yi gab das Zeichen um anzufangen. Dennis schob mit seiner Rechten Sophies Linke von sich fort. Sophie nutze dessen Schwung aus und lenkte seinen Arm von sich weg, um ihrerseits mit der Rechten seine Linke nach vorn schieben. Nun war es an ihm diese umzulenken, um dann erneut wieder seine Rechte nach vorne zu bewegen. So ergab sich eine fließende, wiederkehrende Bewegung, die aus Schieben und Nachgeben bestand. Sophie war hochkonzentriert. Sie achtete auf jede Regung ihres Gegenübers, um rechtzeitig die Angriffe von Dennis umzulenken. Dies ging ein ganze Weile so, bis schließlich Xiao Yi das Zeichen zur freien Gestaltung der Push Hands gab. Sophie und Dennis lösten den Kontakt und traten je zwei Schritte zurück. Von nun an waren es keine vorgegebenen Bewegungen mehr. Sondern jeder versuchte auf seine Weise den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sophie atmete tief durch und nahm eine Verteidigungsposition ein. Dennis, von seinem Können überzeugt, stürzte nach vorne. Sophie wich dem Angriff geschickt aus, erwischte das Handgelenk ihres Gegners und beförderte ihn mit einer geschickten Drehung auf den von der Sonne ausgebleichten Rasen. Etwas irritiert rappelte Dennis sich wieder hoch, um dann abermals einen Angriff zu starten. Auch diesmal schaffte es Sophie Dennis auszuweichen. Abermals versuchte sie Dennis´ Arm zu erwischen. Aber diesmal war ihr Gegner darauf vorbereitet, vereitelte ihre halbherzige Verteidigung und setzte seinerseits einen Gegenangriff der sie zu Boden beförderte. Sophie spürte wie ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde, als sie hart auf den Rücken aufschlug.
Es war immer wieder das Gleiche dachte, sie. Sie musste einfach schneller reagieren, sonst hatte sie gegen so jemanden kräftigen wie Dennis keine Chance.
Tief durchatmend stand sie wieder auf.
»Weißt du was dein Fehler war?« Xiao Yi stand vor ihr.
»Ja, ich bin zu langsam.«
Xiao Yi tippte ihr mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Nicht denken, handeln!«
Er hatte recht, überlegte sie. Ihr flogen während des Kampfes noch zu viele Gedanken durch den Kopf und das raubte ihr einfach Zeit zum Reagieren. Daran würde sie arbeiten müssen.
Dann beendete Xiao Yi die Übungsstunde.
Sophie war wieder auf ihrem Zimmer im Studentenwohnheim. Sie duschte ausgiebig und wollte dann ihren Rucksack packen. Die Semesterferien hatten begonnen und sie würde zu ihrer Familie nach Wetzlar fahren. Sophie war froh eine Pause von ihrem Studium zu bekommen. Sie studierte romanische Philologie im achten Semester. Als sie das Studium begonnen hatte, ahnte sie nicht auf was sie sich da eingelassen hatte. Ihre Begeisterung für Italienisch und Französisch hatte sie zu diesem Entschluss bewogen. Doch schon im ersten Semester musste sie erkennen, dass dieses Studium wesentlich umfangreicher sein würde, als sie erwartet hatte und deutlich über das bloße Erlernen von Fremdsprachen hinausging. Es war vielmehr eine wissenschaftliche Ausbildung in Sprach- und Literaturwissenschaft, Landeskunde und Fachdidaktik. So tat sie sich am Anfang auch sehr schwer, aber mit der Zeit begeisterte sie die Materie immer mehr, bis sie sich schließlich kein anderes Studium mehr vorstellen konnte. Das Erlernen der Sprachen an sich fiel ihr eher leicht. Manchmal war es so, dass sie neue Vokabeln nur einmal lesen und eine Nacht darüber schlafen musste und sie waren in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie dankte dem Schicksal mehr als einmal dafür, dass sie diese Gabe besaß. Wenn sie sah, wie manche ihrer Kommilitonen mit den Sprachen zu kämpfen hatten, war sie froh, dass ihr das erspart blieb.
In ihrer Freizeit widmete sie sich gerne dem Tai Chi Chuan. Noch zu Hause in Wetzlar hatte sie damit begonnen und war froh es in Heidelberg fortführen zu können. Außerdem ging sie regelmäßig Joggen, was sie ebenfalls als einen guten Ausgleich zu dem stundenlangen Büffeln über den Büchern empfand.
Sophie trat aus der Dusche, griff nach ihrem Handtuch und begann sich abzutrocknen. Sie betrachtete sich im Spiegel und sah eine junge attraktive Frau vor sich. Ihr Studium lief gut und sie fühlte sich selbstbewusst. Eigentlich hätte sie glücklich sein müssen. Eigentlich! Aber sie war es nicht. Und wenn diese Gedanken, die sich um das Eigentlich drehten, sich in sie hineinschleichen wollten, dann suchte sie Ablenkung in anderen Dingen, häufig in ihren Büchern.
Die Sonne stand am blauen Himmel und warf ihr Licht auf die Erde. Kurz über dem Asphalt, in den Straßen von Wetzlar, flimmerte die erhitzte Luft. Sophie war gerade mit dem Zug am Bahnhof angekommen und bahnte sich einen Weg durch ihre Heimatstadt. Der Schweiß perlte ihr von der Stirn und ihre Kleidung klebte ihr am Leib. Der schwere Rucksack, den sie mit sich trug, tat sein übriges dazu.
Sie bog um die Ecke in die Brückenstraße. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Haus ihrer Eltern.
Die Sonne brannte erbarmungslos auf Sophie herab und ihr dunkles, langes Haar schien die Strahlen förmlich aufzusaugen. Sie hätte glauben können in einen Backofen geraten zu sein.
Schweiß perlte ihr von der Stirn und brannte in ihren smaragdgrünen Augen. Mit einer Handbewegung verschaffte sie sich Abhilfe.
Als sie vor der Haustür stand, kramte Sophie nach dem Schlüssel. Sie öffnete die Tür, trat ein und nahm zuerst einmal den Rucksack ab. Sie stand einen Moment so da und genoss die angenehme Kühle des Flurs, bevor sie in die Küche ging, die Kühlschranktür aufriss und sich eine Flasche Mineralwasser nahm, die sie sogleich auf den Mund stülpte. Das kalte Wasser tat ihrer ausgetrockneten Kehle gut. Zufrieden wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund nachdem sie fertig war. Sie war froh angekommen zu sein. Auch wenn sie in Heidelberg ihr eigenes Reich hatte, so bestand ihr Domizil dort doch nur aus einem kleinen Zimmer mit Toilette und Dusche. Da war das Haus ihrer Eltern doch etwas anderes. Ihr Vater war Unternehmer in der Elektrobranche und hatte seiner Familie ein sehr ansehnliches Heim geschaffen. Auf einem zwölfhundert Quadratmeter großen Grundstück baute er ein geräumiges Haus mit sehr vielen verwinkelten Zimmern.
Als Kind hatte Sophie mit ihrer Schwester Jana hier oft Verstecken gespielt.
Sophie spürte wie es ihr schwerer wurde zu atmen. Jana, dachte sie bedrückt. Sophie fingerte an dem Verschluss der Flasche, um sie wieder zu öffnen. Sie brauchte noch einen Schluck Wasser, denn sie wollte den Klos hinunterspülen, der sich in ihrem Hals zu manifestieren begann. Doch ihre Hände zitterten und der Plastikverschluss fiel auf den Boden. Hastig hob sie ihn wieder auf.
»Du bist ja schon da!«
Sophie sah zur Tür, wo ihre Mutter Klara stand. Erleichtert, nicht mehr allein zu sein mit ihren wehmütigen Gedanken, ging sie auf ihre Mutter zu und umarmte sie. Klara drückte sie herzlich an sich.
»Ja, ich habe einen früheren Zug genommen.« Sophie löste sich aus der Umarmung und stellte die Flasche ab.
Klara strich ihr durchs Haar. »Es ist schön, dass du da bist.«
Sophie lächelte etwas verlegen. Ihre Mutter war alt geworden, dachte sie. Sie schien die letzten Monate um zehn Jahre gealtert zu sein. Aber das war kein Wunder, es schien vielmehr die Trauer widerzuspiegeln, die ihre Mutter empfand. Sophie spürte wie der Klos in ihrem Hals noch stärker zu werden drohte. Sie zwang sich nochmals zu einem Lächeln, um ihre Sorge zu verdecken.
»Ich bin auch froh wieder hier zu sein, ist Papa noch in der Firma?«
»Nein, er ist oben in seinem Büro.«
Sophie wusste, dass es hier nicht leicht werden würde. Zu viele schmerzliche Erinnerungen an Jana gingen mit diesem Haus einher. Aber sie konnte auch nicht immer fern bleiben. Es war an der Zeit sich den Tatsachen zu stellen.
Sophie nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinauf stieg. Von weitem schon hörte sie die Stimme ihres Vaters.
»...und was heißt das jetzt?... Also mit anderen Worten, sie sind nicht bereit den Kredit aufzustocken... Ersparen sie mir ihre rhetorischen Ausschweifungen und sagen sie mir klipp und klar wie es weiter gehen soll!... Das ist doch wohl nicht ihr Ernst?... und das ist ihr letztes Wort?... Na, dann vielen Dank für gar nichts.«
Der Hörer flog scheppernd auf die Gabel.
Sophie sah ihren Vater gedankenversunken auf das Telefon starren, wohl noch geistig verbunden mit dem eben geführten Gespräch. Sie sah deutlich die Sorge die sich in dem Gesicht ihres Vaters widerspiegelte.
»Hallo, Papa.«, brachte sie etwas verlegen hervor.
Thomas Haller, aus den Gedanken gerissen, sah etwas erschrocken auf. »Was machst du denn hier?«
»Hast du das schon vergessen. Es sind Semesterferien.«
Er rieb sich nachdenklich die Stirn, bevor er sich wieder fasste und ein zögerliches Lächeln aufsetzte. »Ja, natürlich.«
»Ist was passiert?« Sophies Blick deutete auf das Telefon.
»Nein, alles in Ordnung.«
Sophie glaubte ihm nicht. Sie kannte ihren Vater nur allzu gut. Aber sie wusste auch, dass es jetzt keinen Sinn machte hier nachzuhaken.
»Aber erzähl, was macht das Studium. Platzt dir noch nicht der Kopf von all dem Lernstoff.«
Sophie setzte sich auf den mit grünem Samt bezogenen Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Nein, es läuft alles sehr gut.«
Sie erzählte ihm nicht, dass sie seit Janas Tod in einem tiefen emotionalen Loch steckte aus dem sie jetzt verzweifelt versuchte hinauszuklettern. Nach der furchtbaren Tragödie hätte sie das Studium fast geschmissen. Aber irgendwann wurde ihr bewusst, dass Aufgeben keinem genutzt hätte.
Mittlerweile hatte sie sich zumindest soweit im Griff, dass das Studium wieder seinen gewohnten Gang nahm. Warum also noch darüber reden?
»Wenn alles so weiter läuft, werde ich, wie geplant, nächstes Jahr abschließen.«
»Das freut mich sehr, Sophie.« Der Stolz in Thomas´ Stimme war nicht zu überhören.
Sie war ihrem Vater mehr als dankbar. Er hatte ihr nie Druck gemacht, oder Vorschriften darüber, was sie studieren solle. Romanische Philologie war nicht gerade der Renner auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Da gab es lukrativere Studienfächer. Dennoch gab es deshalb keine Diskussionen. Natürlich hatten sie sich darüber unterhalten, welches Studium in Frage kam, wie die wirtschaftliche Lage aussah, was ihre Vorlieben waren. Aber in irgendeine Studienrichtung hatte sie ihr Vater nie gedrängt. Davon abgesehen hatte sie auch konkrete Vorstellungen wie es nach dem Studium weitergehen sollte. Sie wollte in einem ausländischen Verlagshaus als Lektorin arbeiten und hatte bereits erste Kontakte geknüpft. In drei Tagen würde sie ein zweiwöchiges Praktikum beim Reno-Verlag in Straßburg absolvieren.
»Ja,« sagte Sophie, »es läuft alles wie geschmiert.« Dann stemmte sie sich aus dem Stuhl und ließ ihren Vater in Ruhe weiterarbeiten.
Auf dem Weg nach unten kam sie an Janas früherem Zimmer vorbei. Sophie blieb abrupt stehen. Ein leises Gefühl von Sehnsucht beschlich sie. Jana fehlte ihr sehr. Sie spürte wie dieses Gefühl immer mehr zunahm und sie setzte sich wie von selbst in Bewegung, öffnete die Zimmertür und trat ein in Janas früheres Reich. Ihr kam es merkwürdig vor so das Zimmer von Jana zu betreten. Es schien ihr eine Verletzung der Privatsphäre ihrer Schwester zu sein. Aber gleichzeitig spürte sie auch eine Art Vertrautheit die ihre Sehnsucht nach der Schwester noch stärker werden ließ. Sophie streifte durch das Zimmer und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Sie sah auf die Bücher in den Regalen, auf all die kleinen Dinge, die mit so vielen gemeinsamen Erinnerungen erfüllt waren. Sie nahm ein altes, verschlissenes Stoffpony vom Regal und lächelte wehmütig. Die Berührung des Stoffs verstärkte die Erinnerungen. Behutsam stellte sie es wieder beiseite und ging zum Kleiderschrank ihrer Schwester. Als sie ihn öffnete und ein Kleidungsstück hervorzog, zeugte dies noch deutlich vom Duft ihrer Schwester, und Sophie glaubte fast, dass Jana nicht tot sein konnte, sondern jeden Moment im Türrahmen stehen müsste.
Ein eisernes Band legte sich um ihren Brustkorb und zog sich langsam zu. Sophie atmete tief ein, um dem entgegenzuwirken, dann legte sie das Kleidungsstück zurück und schloss die Schranktür.
Es war schmerzlich hier zu stehen, zwischen all den Erinnerungen. Aber irgendetwas in ihr zwang sie dazu, dies zu durchleben. Dann sah sie das zwei Jahre alte Foto auf Janas Schreibtisch. Es zeigte die zwei Schwestern wie sie Arm in Arm glücklich in die Kamera lächelten. Sophie nahm es in die Hand, setzte sich auf Janas Bett und betrachtete es mit einem traurigen Lächeln. Dann sah sie wie Tropfen auf das Glas fielen. Erst dadurch wurde ihr bewusst, dass sie weinte. Jana, dachte sie. Es schien nicht möglich, dass sie tot war. Jana war immer so stark gewesen, voller Hoffnung und spürbarer Lebensfreude. Sie war stets das große Vorbild ihrer kleinen Schwester gewesen. Jana hatte immer das erreicht was sie wollte, sie hatte nie aufgegeben, bis sie an ihrem Ziel angelangt war. Und plötzlich musste Sophie lächeln. Sie erinnerte sich an ein Ereignis, dass vierzehn Jahre zurück lag. Es war nichts spektakuläres, aber es zeugte einfach von dem Willen und der Beharrlichkeit ihrer großen Schwester. Ihr Nachbar war ein passionierter Jäger, der einen Rauhaardackel namens Wotan besaß. Sophie musste schmunzeln als sie nun an den Namen des Hundes dachte. So ein großer Name für so einen kleinen Hund. Aber mit diesem Hund gingen Jana und Sophie öfter spazieren. Es war ein kleines quietschfideles Kerlchen, was neugierig jeden Stein beschnuppern musste und ungeheuer an der Leine zerren konnte.
Als sie wieder einmal bei dem Nachbarn vorbei sahen, um mit Wotan spazieren zu gehen, empfing sie ein verzweifelter Jäger, der ihnen erzählte, dass der Dackel seit letzter Nacht verschwunden sei. Er hatte ihn noch Abends auf sein umzäuntes Grundstück gelassen, damit der Dackel seinem Bedürfnis nachkommen konnte, aber als er später nach ihm sah war er verschwunden. Es stellte sich heraus, dass sich ein Loch im Zaun befand, durch das er wohl geschlüpft war. Der Nachbar hatte bereits überall nach dem Hund gesucht, aber leider ohne Erfolg. Auch Jana und Sophie gingen ihrerseits auf die Suche nach Wotan. Sie streiften den ganzen Tag durch das Wohngebiet und durch den angrenzenden Wald, aber auch ihre Suche blieb ohne Erfolg. Müde und enttäuscht kamen sie nach Hause. Sophie konnte nicht mehr, aber Jana wollte nicht aufgeben. Sie ignorierte das Verbot der Eltern, nach dem Abendessen das Haus zu verlassen, schlich sich raus und suchte den Dackel auf eigene Faust. Sie fand ihn schließlich in einem verlassenen Fuchsbau in der Nähe des Bismarckturmes. Sein Winseln war ihr aufgefallen und sie begann ihn mit bloßen Händen auszugraben.
Sophie erinnerte sich wie Jana mit Wotan auf dem Arm total verdreckt im Flur stand und die Eltern schockiert von der Expedition ihrer älteren Tochter zuerst einmal sprachlos waren. Trotz der deutlichen Rüge die dann folgte, sah man dass Jana glücklich war den kleinen erschöpften Dackel gerettet zu haben.
Sophie sah auch heute noch diesen zufriedenen Gesichtsausdruck ihrer Schwester von damals vor sich. Jana war schon immer ein Mensch gewesen der eine Sache zu Ende führte und Sophie bewunderte sie für diese Leistung. Jana war eine Mädchen, dass eine schier unstillbare Neugier in sich hatte. Sie musste alles ganz genau ergründen und ruhte erst dann, wenn etwas lückenlos aufgeklärt war. Diese Eigenschaft war wohl mit ein Grund warum sie sich später für eine Karriere beim BKA entschloss. Die großen Anforderungen die das BKA an seine Mitarbeiter stellte, meisterte sie mit Bravour.
Doch dann war plötzlich alles vorbei. Eine Gerölllawine löschte Janas Leben aus. Im September letzten Jahres war sie im Urlaub zum Bergsteigen in den Dolomiten unterwegs. Dabei löste sich eine Lawine vom Fels und riss sie und einen ihrer Freunde mit in den Tod. Tonnen von Gestein begruben sie und durch die unzugängliche Lage für schweres Bergungsgerät war es unmöglich sie zu bergen. Dieser Umstand machten die Trauer und das Entsetzen nur noch größer. Man konnte keinen Abschied nehmen. Es schien fast so, als wäre Jana immer noch auf einer Reise, auf einer Reise ohne Wiederkehr. Man wartete und wartete auf ihre Heimkehr und wusste dennoch genau, dass es nie dazu kommen würde. Sophie stellte das Bild zitternd zur Seite. Ihr Innerstes war aufgewühlt. Sie hatte ihre Schwester sehr geliebt. Sie hatten regelmäßig Kontakt gehalten und Jana war ihr oft eine Stütze und gute Ratgeberin. Jana hatte noch so viele Pläne. Solch einen frühen Tod hatte sie einfach nicht verdient. Sophie wischte sich die Tränen aus den Augen. Vielleicht war ja etwas daran, dachte sie, dass die Guten immer zuerst sterben.
Dann sah sie nochmals zu dem Foto das Jana und sie zeigte. Wiederum spürte sie die Liebe zu ihrer Schwester und das Loch, dass dieser Unfall in ihr Herz gerissen hatte.
»Du fehlst mir,« sagte sie leise und Tränen stiegen wieder in ihr auf.
Jana sah sie lächelnd vom Foto her an. Aufgeweckte, kraftvolle Augen, die von unbändigem Willen zeugten. Ein Wille der über den Tod hinaus zu gehen schien. Dann änderte sich die Atmosphäre im Zimmer. Sie bekam etwas seltsames, etwas mystisches. Und urplötzlich war es Sophie so, als wenn ihre Schwester anwesend sei. Nicht wirklich visuell, sondern viel mehr mit dem Gefühl der Verbundenheit. Ein Band welches zwischen den beiden vorhanden war, dass keiner Worte bedurfte und über den Tod hinaus bestand.
Sie nahmen das Abendessen gemeinsam ein. Es gab einen Rindfleisch-Pfifferlingstopf in Rosmarinjus. Dazu selbstgemachte Spätzle. Thomas hatte eine Flasche Merlot aufgezogen, dessen trockenes Bouquet sich vorzüglich an den Geschmack des Fleisches anpasste.
Die Unterhaltung am Tisch war eher belangloser Natur. Klara fragte Sophie wie es ihr denn in Heidelberg erging und Sophie erzählte auskunftswillig von ihrem Studium, ihren Mitstudenten und ihren Freizeitaktivitäten.
Thomas Haller beteiligte sich kaum an dem Gespräch. Er schien mit seinen Gedanken ganz wo anders zu sein. Tiefe Falten zeichneten sich auf seiner Stirn ab, die auch den beiden Frauen nicht verborgen blieben. Aber sie sagten nichts. Als sie mit dem Essen dann fertig waren räumten sie den Tisch ab, schenkten sich noch Rotwein nach und begaben sich ins Wohnzimmer. Man spürte deutlich, dass etwas in der Luft lag. Klara und Sophie sahen schweigend hinüber zu Thomas, der gedankenversunken in sein Glas starrte. Dann, endlich brach er das Schweigen.
»Ich muss euch etwas sagen«, begann er zögerlich.
Sophie spürte wie sie sich innerlich anspannte. Sie hatte ihren Vater selten so ernst und voller Sorge gesehen.
»Die Auftragslage in der Firma hat sich drastisch verschlechtert.«
Klara stellte ihr Glas bei Seite. »Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich Leute entlassen muss.«
Sophie konnte sich vorstellen, wie schwer das ihrem Vater fallen musste. Soweit sie wusste, war er ein sehr fürsorglicher Chef, dem seine Mitarbeiter am Herzen lagen. Er hatte noch letztes Jahr zwei neue Ausbildungsplätze geschaffen.
»Wie viele wirst du entlassen müssen«, wollte ihr Mutter genau wissen.
»Alle!«
Thomas´ Antwort schlug wie ein Bombe ein. Sophie stockte der Atem. Klaras Gesicht wurde plötzlich aschfahl. Sie waren sprachlos.
»Ich muss die Firma schließen«, fügte Thomas hinzu.
Erst jetzt löste sich Klara aus der Starre. »Wie konnte es so plötzlich dazu kommen?«
»Die Banken gewähren mir keinen neuen Kredit mehr.«
»Von heute auf morgen?«
»Nein. Schon seit längerem.«
»Warum erfahre ich das erst jetzt?« Der Tonfall in Klaras Stimme hatte sich verschärft.
»Ich wollte dich nicht damit belasten. Ich dachte ich bekomme das auch so in den Griff.«
Sophie hörte Scham heraus. Dieses Geständnis fiel ihrem Vater nicht leicht. Aber sie konnte auch den Ärger ihrer Mutter sehr gut verstehen.
Klara konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben, stand auf und ging unruhig durchs Zimmer. »Gibt es keine Möglichkeit die Firma zu retten?«
»Nein, ich habe bereits alles versucht.«
Klara stemmte ihre Hände in die Hüften. »Zwölf Menschen arbeiten in deiner Firma.«
»Ich weiß, ich kündige ihnen bestimmt nicht gerne, aber es geht nicht mehr. Die Banken haben den Geldhahn zugedreht. Die Auftragslage ist miserabel. Es gibt keine Zukunft.«
Klara sah zu ihrem Mann hinüber. Diese Endgültigkeit schien sie sprachlos zu machen.
»Da gibt es noch etwas, was ich euch sagen muss.« Thomas´ Stimme hörte sich heiser an. »Um die Firma zu retten habe ich eine Hypothek auf unser Haus aufgenommen.«
»Sag, dass das nicht wahr ist.«
»Es ist leider so. Wir werden das Haus verlieren.«
Sophie spürte wie das Blut plötzlich siedend heiß durch ihren Körper strömte.
Ihre Mutter schlug die Hand vor den Mund und ließ sich zurück in den Sessel fallen. »Was hast du getan?«
»Es tut mir leid. Was soll ich sagen. Es tut mir so unendlich leid.«
Sophie sah wie sich die Augen ihres Vaters mit Tränen füllten.
»Warum hast du nicht eher mit mir darüber gesprochen?«
»Was hätte sich daran geändert, außer dass auch du dir noch Sorgen machst.«
»Ich bin deine Frau, habe ich nicht das Recht so etwas zu erfahren?«
»Ja, es war ein Fehler es dir solange vorzuenthalten.«
»Nein Thomas, es war ein Fehler mich erst gar nicht in die Entscheidung mit einzubeziehen, was unser Haus betrifft.«
Sophies Vater senkte den Kopf vor Scham. »Du hast Recht. Ich habe Mist gebaut.«
»Das ist noch milde untertrieben. Ich erkenne dich nicht wieder, das ist doch nicht deine Art.«
Dann setzte Schweigen ein. Jeder versuchte Ordnung in das Chaos seiner sich überschlagenen Gedanken zu bringen.
»Ich werde mein Praktikum in Straßburg absagen«, stellte Sophie fest. Ihr Vater blickte sie fragend an.
»Der Aufenthalt kostet nur unnötig Geld.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, entgegnete ihr Vater. »Du machst dein Praktikum und bringst dein Studium zu Ende. Das Geld dafür ist da, ich habe es nicht angerührt.«
»Aber ich könnte statt dem Praktikum in meinen Semesterferien eine Stelle annehmen und Geld verdienen. So wie es andere auch machen. Das würde euch auch entlasten.«
»Sophie du sollst nicht für die Fehler, die ich gemacht habe bezahlen.«
»Aber das macht mir nichts aus.«
»Nichts da, es bleibt so wie es ist, basta!«
Die Schärfe in der Stimme ihres Vaters duldete kein weiteres Wort in dieser Angelegenheit und Sophie schwieg. Sie hatte ihren Vater nur selten so wütend erlebt.
Sophies Mutter stand schweigend auf, durchschritt den Raum in Richtung Tür, wo sie sich nochmals umdrehte. »Wann müssen wir die Koffer packen?«, sagte sie teils resignierend, teils zynisch.
»Wir haben noch drei Monate. Vielleicht geschieht ja noch ein Wunder.«
»Ja, vielleicht«, sagte sie knapp und zog sich zurück ins Schlafzimmer.
Auch Thomas stand auf um ihr zu folgen. Er schenkte seiner Tochter ein bitteres Lächeln. »Keine Angst, alles wird gut.«
Sophie glaubte das nicht.
Sophies Großmutter Mechthild wohnte in einer achtzig Quadratmeter großen Eigentumswohnung in der Altstadt von Wetzlar. Nachdem ihr Mann vor fünfzehn Jahren verstorben war, hatte sie ihr Haus am Rande der Stadt verkauft und sich etwas Übersichtlicheres gesucht. Sie hätte auch bei ihrem Sohn leben können. Das Angebot bestand, aber sie wollte es aus mehreren Gründen nicht annehmen. Zum einen war sie der Meinung, dass ihr Sohn und seine Familie eine Recht auf Eigenständigkeit hatten und nicht das Gefühl haben sollten auf eine alte Frau aufzupassen. Und zum anderen, ja sie musste es sich eingestehen, trieb sie auch ein wenig der Stolz, nicht zum alten Eisen gehören zu wollen und so lange wie möglich selbstständig das Leben zu bewältigen.
Mechthild brühte frischen Kaffee auf und schnitt den Bienenstich an. Sie freute sich auf ihre Enkelin, die sich zum Kaffee angemeldet hatte. Nach dem plötzlichen Tod von Jana waren alle in ein tiefes Loch gefallen. Mechthild hatte genug vom Tod. Sie erinnerte sich schmerzlich an das Ableben ihrer Eltern und ihres Mannes. Aber ein Kind zu verlieren, sei es nun die Tochter, oder auch Enkelin, war noch einmal ganz etwas anderes. Es war nicht der natürliche Lauf der Dinge. Gerne hätte sie ihr fast verbrauchtes Leben für Jana gegeben, aber der Herrgott ließ sich auf solch einen Handel nicht ein. Mechthild war ein sehr gläubiger Mensch. Ohne zu Murren nahm sie die Dinge hin, wie sie auch kamen. Aber an dieser letzten Prüfung hatte sie schwer zu tragen und so ging sie fast täglich in den Dom und betete für das Seelenheil ihrer verunglückten Enkelin.
Das Schrillen der Haustür ließ sie in ihren Vorbereitungen innehalten. Sie verließ die Küche, durchschritt den schmalen Flur und öffnete Sophie die Tür. Ein herzliches Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht und noch im Türrahmen stehend umarmte sie ihre Enkelin.
»Sophie, das ist schön, dass du da bist.«
»Ja, es tut gut hier zu sein.«
Mechthild ließ Sophie eintreten. »Setz dich doch schon mal ins Wohnzimmer ich komme gleich mit dem Kaffee.«
»Aber ich kann dir doch helfen.« Sophie folgte ihrer Großmutter in die Küche und so trugen beide Kaffee und Kuchen auf. Dann machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich. Sophie genoss die seltenen Zusammenkünfte mit ihrer Großmutter sehr. Sie waren für sie wie der Fels in der Brandung. Ein Bollwerk von Beständigkeit in einer Zeit in der jegliches auf der Flucht zu sein schien. Hier konnte sich Sophie erholen und wenn sie wollte auch immer noch Kind sein.
»Wie geht es dir, was macht das Studium?«
»Dem Studium geht es gut und mir auch. Wenn alles so läuft wie ich es mir vorstelle, werde ich nächstes Jahr fertig.«
»Das ist doch toll.«
»Ja.«
Mechthild sah ihre Enkelin an. Sie spürte dass Sophie etwas bedrückte. »Was ist los?«
»Was meinst du?«
»Mach mir nichts vor.«
Sophie musste unwillkürlich lächeln, auch wenn es von Bitterkeit zeugte. »Wie konnte ich nur glauben irgendetwas vor dir zu verheimlichen?«
»Das frage ich mich auch gerade«, sagte ihre Großmutter in gespielt vorwurfsvollem Ton.
»Weißt du«, begann Sophie etwas zögerlich. »Irgendwie läuft alles aus dem Ruder. Erst der unbegreifliche Tod von Jana...« Sophie stiegen Tränen in die Augen. »...und nun erzählt uns mein Vater, dass er höchstwahrscheinlich die Firma verliert und wir eventuell unser Heim.«
Mechthild stockte der Atem. Die Geldnöte der Firma waren für sie nicht ganz neu, doch dass es so ernst war wusste sie nicht. Sie legte ihre Hand auf Sophies Arm, um sie zu beruhigen. »Es gibt wichtigeres als Geld«, sagte sie sanft.
Sophie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah sie erstaunt an. »Das Geld ist mir doch so was von egal. Aber diese Firma bedeutet meinem Vater so immens viel und auch unser Haus, dass er selbst gebaut hat. Dazu kommt dass Mutter sich hintergangen fühlt und deshalb leidet, was man ihr nicht verdenken kann. Und so geht alles den Bach runter. Wie müssen sie sich nur dabei fühlen? Gerade jetzt.«
»Ja«, sagte ihre Großmutter knapp. Sie wusste dass ihr Sohn ein sehr verantwortungsbewusster Mensch war. Und wie es aussah stand er nun vor einem Scherbenhaufen und musste seiner Familie und seinen Mitarbeitern erklären, dass es nicht so weiter ging wie bisher. Dazu kam, dass er den Tod von Jana noch nicht verkraftet hatte, wie keiner von ihnen. »Es tut mir so leid«, fügte sie hinzu und sie spürte wie ihr die Sorge die in ihr aufstieg die Kehle zuschnürte.
»Warum nur?«, fragte Sophie. »Kannst du mir sagen warum? Was hat unsere Familie verbrochen?«
»Nichts, Sophie. Allerdings hilft uns Selbstmitleid hier nicht weiter.« Mechthild versuchte den Druck in der Kehle los zu werden. All zu oft in ihrem Leben hatte sie Schicksalsschläge hinnehmen müssen, immer wieder war sie aufgestanden und hatte gekämpft. Dieses mal würde es nicht anders sein.
Sophie sah ihre Großmutter an. »Du hast recht. Aber es ist verdammt schwer.«
»Keiner sagt, dass es einfach ist nicht aufzugeben. Aber haben wir eine Wahl, wenn wir nicht untergehen wollen?«
»Nein.«
Schweigen.
Mechthild dachte nach, stand plötzlich auf und ging zu ihrer Kommode aus der sie ein altes Fotoalbum nahm.
»Tut mir leid Oma, aber mir ist jetzt nicht nach irgendwelchen Erinnerungen aus der guten alten Zeit zumute.« Sophie unterstrich ihre Ablehnung mit einer abwehrenden Handbewegung.
Mechthild ignorierte das Gesagte, nahm direkt neben Sophie platz und begann in dem Album zu blättern. »Seit einem knappen Jahr geht es der Firma deines Vater schon sehr schlecht, sodass wir damals schon dachten, dass früher oder später die Insolvenz unvermeidlich sei.«
Sophie sah sie erstaunt an. »Das höre ich zum ersten mal.«
»Dein Vater wollte nicht, dass ihr Kinder was davon erfahrt. Ihr solltet euch keine Sorgen machen. Auch ich erfuhr nur durch Zufall davon.«
»Was war passiert?«
»Nun ich schätze, das Gleiche wie heute auch. Eine schlechte Auftragslage? Auf jeden Fall war die Sache ernst. Dein Vater brauchte unbedingt Liquidität. Sprich viel Geld, um die Firma zu retten.« Mechthild hörte mit dem Blättern in dem Fotoalbum auf und sah Sophie an. »Da kam mir eine Idee, wie ich ihm vielleicht helfen könnte, doch ich brauchte Jana dazu.«
Sophie sah ihre Großmutter überrascht an. Bis zu dem Geständnis ihres Vaters hatte sie geglaubt über die Vorgänge, die die Familie betrafen, bestens informiert zu sein. Aber jetzt musste sie feststellen, dass dem ganz und gar nicht so war. »Was meinst du damit?«
Sophies Großmutter nahm ein altes Foto aus dem Album heraus. »Dies hier«, sagte sie fast ehrfürchtig«, ist eine Fotografie von meinem Vater Anton Abel, als Soldat im ersten Weltkrieg.
Das Foto zeigte einen stolzen Mann in Soldatenuniform, abgebildet vor einem inszenierten Hintergrund in einem Fotoatelier. Die Szenerie wirkte irgendwie grotesk. Schräg hinter Sophies Urgroßvater war eine kleine Schultafel aufgestellt auf der das Wort Oberstein mit Kreide geschrieben war. Ihr Urgroßvater hatte in der einen Hand ein Kirchenmodell und in der anderen einen faustgroßen Stein. Diese Gegenstände präsentierte er bewusst der Kamera.
In all den Jahren die sie als Kind bei ihrer Familie verbracht hatte, wo kein Schrank, kein Gegenstand vor ihr sicher war, hatte sie dieses Foto dennoch nie gesehen.
»Was hat das mit Jana und unserem Vater zu tun?«
Ihre Großmutter legte das Foto zurück ins Album. Dann sprach sie leise: »Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam war er ein sehr schweigsamer Mann geworden. Das Leid, der Hunger und der Tod, den er dort kennen gelernt hatte, hatten ihn verändert. So hat es mir zumindest meine Mutter erzählt.«
Mechthild sah auf ein anderes Foto der aufgeschlagenen Seite des Albums, das ihre Mutter zeigte. Dann blickte sie wieder auf das Soldatenfoto. »Ich hatte zu meinem Vater nicht das beste Verhältnis. Allzu sehr hatte er sich einen Erben gewünscht. Aber das blieb ihm verwehrt. Ich war sein einziges Kind. Nach meiner Geburt konnte meine Mutter keine Kinder mehr bekommen. Diesen Umstand ließ er sie und mich spüren. Mein Vater war ein verbitterter, alternder Mann geworden und die Große Depression und später die Nazis trugen ihres dazu bei.«
Mechthilds Augen füllten sich mit Tränen. »Weißt du«, sagte sie zu ihrer Enkelin, »er war kein schlechter Mensch, aber dieser Krieg hatte ihn nun mal verändert und er wusste das auch. Letztendlich hat ihn wohl diese Verbitterung gegenüber dem Schlechten in der Welt auch sterben lassen.«
Sophie sah ihre Großmutter verlegen an. So hatte sie sie noch nie erlebt.
Mechthild wischte sich eine herablaufende Träne von der Wange. Dann atmete sie tief durch, bevor sie weiter sprach.
»Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ging es uns finanziell sehr schlecht wir hatten fast alles verloren. Zu allem Übel erkrankte mein Vater dann schwer. Auf seinem Sterbebett gab er mir dann diese Fotografie.« Sie zeigte auf das Soldatenfoto im Album.
»Er sagte zu mir, dass dieses Foto sehr viel wert sei. Ich verstand zuerst nicht was er damit meinte. Dann griff er nach meiner Hand, drückte sie ganz fest, soweit es sein geschwächter Körper denn zu ließ, und sagte mir es hätte mit sehr viel Gold zu tun und ich solle auf die Suche danach gehen, damit meine Mutter und ich gut versorgt seien.«
Sophie griff nach dem Foto. Es war auf dunkelgrünem Pappkarton geklebt, was zur Verstärkung des Bildes diente.
Dann sah sie sich die Rückseite an. Der Karton war bedruckt mit der Adresse des Fotoateliers, wo das Bild entstanden war.
Atelier für moderne
Photographie und Malerei
Heinrich Schmid
Strassburg i/Els.
Schwarzwaldstraße 174
Sie drehte das Bild wieder um und betrachtete es weiter von vorne. Ihre Neugierde war geweckt.
»Hast du irgendetwas in Erfahrung bringen können?« Sie löste den Blick von dem Foto und sah zu ihrer Großmutter.
»Nicht, viel.« Mechthild griff nochmals zum Album und zog ein gefaltetes Stück Papier hervor und reichte es Sophie. »Neben der Fotografie gab mir mein Vater noch diesen Zettel.«
Vorsichtig nahm Sophie diesen in Empfang und entfaltete ihn. Auf ihm standen Namen und Adressen dreier Männer. Die Wörter waren in Kurrentschrift gehalten. Aber das stellte für Sophie kein Hindernis dar, da ihre Großmutter Jana und ihr diese alte Schreibweise schon früh beigebracht hatte. Trotz der mittlerweile schon sehr verblassten Tusche waren die Buchstaben noch sehr gut zu entziffern und sie spürte wie Interesse und Neugier in ihr aufstiegen. Ohne Mühe konnte sie die Handschrift lesen:
Oswald Rasche (Klosterstraße, Hagenau)
Jakob Leffler (Weizengasse, Freising)
Heinrich Schmid (Schwarzwaldstraße, Strassburg)
»Hat Urgroßvater dir gesagt was die Namen zu bedeuten haben?«
»Nein, wie schon erwähnt war er sehr geschwächt. Er konnte mir nichts weiter sagen, bevor er starb.«
Für einen Moment kehrte Stille ein. Dann brach Sophie das Schweigen. »Hast du versucht diese Männer ausfindig zu machen?«
Ein bitteres Lächeln zeigte sich bei Mechthild »Nach dem Tod meines Vaters ging alles drunter und drüber. Meine Mutter und ich versuchten uns mit Gelegenheitsarbeiten am Leben zu halten. Da war keine Zeit und auch kein Geld für großartige Nachforschungen. Erst Jahre später, als sich unsere Situation ein klein wenig verbessert hatte, fiel mir die Fotografie und der Zettel mit den Adressen wieder ein. Ich schrieb an den Mann in Freising einen Brief, aber ich erhielt nie eine Antwort.«
»Und was war mit den beiden anderen Adressen?«
»Nun, seit dem Krieg gehören sie zu Frankreich. Zur damaligen Zeit, so kurz nach dem Krieg, war das deutsch-französisch Verhältnis immer noch sehr feindselig. Ich erwartete von dort keine Kooperation, deshalb versuchte ich es erst gar nicht. Später, als es uns wieder besser ging, war es für uns einfach nicht mehr so wichtig und es geriet in Vergessenheit.«
Mechthild bot ihrer Enkelin an, nochmals Kaffee nachzuschenken. Aber Sophie verneinte. Ihre Gedanken drehten sich weiterhin um diese mysteriöse Geschichte. »Du hast vorhin Jana und Papa in dem Zusammenhang erwähnt.«
Mechthild nickte zustimmend. »Wie gesagt als ich von den Geldnöten deines Vaters erfuhr, fiel mir plötzlich unsere Situation kurz nach Kriegsende ein und ich erinnerte mich wieder an die Fotografie und die Adressen. Ich wusste, dass ich deinen Vater nicht mit der Geschichte zu behelligen brauchte. Er würde es als Hirngespinst abtun. So erzählte ich Jana davon und da sie doch beim BKA war, dachte ich sie könnte etwas über dieses Foto und die Adressen herausfinden.«
»Sie war bestimmt Feuer und Flamme.«
»Das kann man so sagen. Du kennst ja deine Schwester. Geheimnisse und Rätsel waren für sie das Größte. Sie versprach mir gleich nach ihrem Italienurlaub mit den Recherchen zu beginnen. Dann geschah dieser schreckliche Unfall.«
Sophie spürte erneut diesen bohrenden Schmerz in sich, als sie wieder an Janas Tod erinnert wurde. Sie versuchte so gut es ging den Gedanken zu verdrängen.
»Aber da gibt es noch einige Fragen auf die ich mir noch keinen Reim machen kann.«
»Dann raus damit«, forderte ihre Großmutter sie auf.
»Warum hat mein Urgroßvater nicht schon vorher Kontakt mit den Personen auf dem Zettel aufgenommen?«
»Das kann ich dir nicht beantworten. Aber ich denke dass er aufgrund seiner schrecklichen Kriegserlebnisse nichts mehr mit alten Geschichten zu tun haben wollte, die ihn unnötig wieder daran erinnert hätten.«
»Wie hat Urgroßvater dass wohl gemeint. Die Fotografie sei viel wert?«
»Auch hier kann ich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht schuldeten ihm die Personen auf dem Zettel noch Geld?«
»Aber warum ließ er sich dann auf so ungewöhnliche Weise ablichten. Mit einem Stein und einem Kirchenmodell in der Hand? Und wenn ich dich richtig verstanden habe, sprach er von viel Gold.«
Mechthild stellte die benutzten Kuchenteller aufeinander und legte die Gabeln sorgfältig obendrauf. »Weißt du ich glaube dein Urgroßvater und die anderen drei Männer haben Gold versteckt und zwar Gold was nicht ihnen gehörte.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Na diese ganze Geheimniskrämerei. Warum ein solch merkwürdiges Foto machen lassen, wenn ich nichts zu verbergen habe? Warum rede ich mein ganzes Leben nicht darüber, sondern erst wenn ich im Sterben liege?«
»Aber du sagtest eben noch, er wollte nicht mehr an den Krieg erinnert werden?«
»Vielleicht ist das der Grund. Vielleicht ist er es aber auch nicht.«
Sophie bemerkte plötzlich den inneren Kampf der in ihrer Großmutter tobte. Noch war der Urgroßvater ohne Makel. Wühlte man aber in dieser Geschichte weiter herum, konnten durchaus Dinge ans Tageslicht geraten, die Anton Abel nicht gut da stehen ließen. Andererseits wollte ihre Großmutter aber dieses Risiko auf sich nehmen, um ihrem Sohn in der finanziellen Not zu helfen.
»Und wie soll es jetzt weiter gehen?«
»Finde heraus was damals geschehen ist. Finde das Gold, in der Hoffnung, dass wir deinem Vater damit helfen können.«
Sophies erster Gedanke war, dass ihre Großmutter der Geschichte eine zu große Bedeutung beimaß. Es gab tausend Gründe warum die Suche Zeitverschwendung war.
»Nehmen wir mal an, wir finden tatsächlich Gold. Könntest du damit leben, dass wir dieses Gold, das uns nicht gehört, dazu verwenden, um Vaters Firma zu retten?« Sophie sah wie sich die Geschichtszüge ihrer Großmutter verhärteten.
»So viel Zeit liegt zwischen damals und heute. Wem nützt das Gold wenn es nur irgendwo herum liegt?«
Sophie griff nochmals nach der Fotografie. Dann drehte sie sie um und sah erneut auf die Adresse des Fotoateliers. Ihr Blick wanderte zu dem Zettel mit den drei Adressen.
»Die Adressen hier stimmen überein,« sie sagte dies fast beiläufig.
Mechthild sah auf die Rückseite des Fotos:
Heinrich Schmid
Schwarzwaldstraße 174
Strassburg
Dann auf den Zettel:
Heinrich Schmid (Schwarzwaldstraße, Strassburg)
»Ja, dass sagte deine Schwester auch«, antwortete Mechthild knapp.
Sophie sah von den Adressen auf. Sie zweifelte stark daran, dass sie etwas über diese mysteriöse Geschichte herausfinden konnte. Aber zwei Gründe gab es, die sie dazu bewegten, sich für die Suche zu entscheiden. Zum einen zumindest den Versuch zu unternehmen ihrem Vater zu helfen. Und zum anderen war da noch ihre tote Schwester. Die ihr Versprechen gegenüber der Großmutter nicht mehr einlösen konnte. Jetzt lag es an Sophie an ihre Stelle zu treten und die Suche, die noch gar nicht richtig begonnen hatte fortzusetzen.
Es war ein glücklicher Umstand, dass sie in Kürze, aufgrund des Praktikums, sowieso in Straßburg war. So konnte sie die angegebene Adresse aufsuchen und sehen ob sie dort weiter Hinweise erhielt.
»Ist in Ordnung, Oma. Ich werde sehen was ich herausbekommen kann.«
Mechthild streichelte ihrer Enkelin übers Haar. »Ich danke dir.«
»Dafür musst du mir nicht danken. Ich platze schon fast vor Neugier was es mit dieser Fotografie auf sich hat.«
Der Reiz des Abenteuers hatte Sophie ergriffen und voller Vorfreude erwartete sie die Recherchen und die Lösung des Geheimnisses um dieses Foto.
Sie ahnte noch nicht, wie gefährlich dieses Abenteuer werden würde.