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Zeitenwende

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Wind von Hügeln über Meere

Wind aus höchster Atmosphäre

Wind von Ebenen und Feldern

Wind aus Höhlen und aus Wäldern

Wind von Bächen und von Wegen

Wind aus Wolken und aus Regen

Wind von Dächern und von Türmen

Wind aus Wüsten und aus Stürmen

Wind vom Mond und von Gestirnen

Wind aus Eis von Gletscherfirnen

Alle Winde strömen hin

Zu dem, der ich gewesen bin

Jeder Wind streift meine Hände

Zeit zu wenden – Zeitenwende

Zwölf Jahre später und fünfhundert Strassenkilometer weiter südlich

Nein, ich atme noch. Entgegen aller Zuversicht und wider alle Hoffnung schlägt mein Herz noch immer. Trotz allem. Heute bin ich ein anderer als damals vor zwölf Jahren. Und auch morgen werde ich vermutlich ein anderer sein als derjenige, der ich heute noch bin. Immer noch und mehr denn je bin ich ein leidenschaftlicher Zweifler. Immer noch bin ich ein sehnsüchtig Suchender. Ich bin auf der Reise meines Lebens noch nicht sehr weit gekommen und stecken geblieben im Strudel des Erlebten. Vor vielen Jahren hatte ich aufgehört an etwas zu glauben und ich habe seither auch nicht wieder angefangen es zu tun. Wie könnte ich auch? Woran hätte ich denn glauben können? Sollte ich trotz allem was mir widerfahren ist, was Menschen mir angetan haben wieder wie ein Kind an das Gute im Kern eines jeden menschlichen Wesens glauben? Sollte ich tatsächlich auf etwas Besseres hoffen oder etwa dafür beten, dass alles wieder gut werden möge? Wie soll ich nach den Stürmen meines Lebens jemals wieder an einen Gott, an einen Allah oder das Universum glauben? Wo war er der Barmherzige, mein Erlöser, mein Heiland? Wo war er in meinen dunkelsten Stunden? Damals hatte er meine verzweifelten Gebete und mein sehnlichstes Flehen nicht gehört. Er hatte geschwiegen und tatenlos zugesehen. All mein Rufen und Schreien zu ihm war ungehört geblieben. Meine beharrliche Suche nach göttlichem Beistand und spiritueller Hilfe war vergebens gewesen und nichts hatte mir meine Hoffnung wiedergeben können, bis heute nicht. Weder bewusstseinserweiternde Drogen noch Alkohol, weder Religion noch Esoterik oder gar meine eigene Lebenswirklichkeit hatten neue Antworten auf alte Fragen für mich bereitgehalten. Erst recht hatte mir in den letzten Jahren niemand diese eine mich umtreibende Frage beantworten können. Wer und warum ? Nun war es nicht so, dass ich jemanden danach gefragt hätte. Ich hatte mittlerweile gelernt, dass es nicht für alles, was auf Erden geschieht eine Antwort gibt. Es gibt vielleicht auch nie eine Antwort auf das, was mir widerfahren ist. Genauso wie es keine Antworten gibt auf Ebola, Krebs, 9/11, Glaubenskriege, Erdbeben oder Tsunamis. In all den Jahren habe ich voller Inbrunst so viele Gebete gebetet, so viele Hoffnungen gehofft und so viele Träume geträumt. Ich habe zu meinem Schöpfer gefleht und mein Karma angebettelt. Ich habe nach Antworten und Wahrheiten gesucht, aber es blieb stumm in mir und um mich herum. Keine innere oder transzendentale Stimme hat mir etwas offenbart. Gefunden habe ich nichts, ausser der Gewissheit, dass es keine Gewissheiten für uns in dieser Welt gibt. Das Leben ist wie Sand in unseren Händen. Und doch hat mich das Leid und alles Übel nicht gesucht. Nein, ich habe es angelockt. Ich habe ihm die Türe ganz weit aufgehalten und es ist zu mir gekommen und hat mich heimgesucht. Schlüssige Antworten finde ich kaum auf meine Schicksalsfrage, aber ein paar Erkenntnisse haben sich dann doch herauskristallisiert. Mit ein paar Lebensweisheiten hatten meine Eltern sicher Recht. Tatsächlich ist eines Menschen Gutheit eine Dummheit. Vielleicht hatte ich aufgrund meiner christlichen Erziehung in der Tat den Blick immer nur auf das Gute gerichtet. Meine Gutheit hat mein Leben und meinen Glauben zerstört. Was der Mensch dem Menschen sein kann habe ich selbst durchlitten und hätte es doch viel früher wissen müssen. Trotz aller Verzweiflung hatte ich mich an jenem Märztag vor zwölf Jahren nicht an einem Bahngleis im Rheinland umgebracht. Ich hatte es seither auch nicht wieder versucht.

So lebte ich vor mich hin, orientierungslos wie Treibgut im Fluss eines willkürlich dahinplätschernden Lebens, auf einer Reise ohne Ziel. Meine eigene kleine Welt aber auch die Welt draussen vor der Tür hat sich in ihrem Lauf seit jenem Tag vor zwölf Jahren fühlbar verändert. Für die Menschen hat Materialismus anscheinend noch mehr an Bedeutung gewonnen, noch mehr Priorität bekommen und gewiss ist unsere Zeit noch relativer geworden. Reiche wurden reicher, Arme wurden ärmer im neoliberalen Glauben an den Kapitalismus und den ich-zentrierten Geist der Gegenwart. Die Verwirtschaftung der gesamten menschlichen Existenz hat beängstigende Ausmaße angenommen und das Gefühl der Entmenschlichung unserer Gesellschaft treibt mich um. Doch viel gravierender als all diese fühlbaren Veränderungen in unserm Leben ist für mich persönlich etwas ganz anderes. Es ist neben dem Ballast der Vergangenheit, die Gewissheit, dass ich mit der Gegenwart nicht mehr mitkomme, dem Fortschritt nicht mehr folgen kann. Mit jedem Jahr spüre ich es regelrecht körperlich, dass eine weitere exponentielle Beschleunigung sämtlicher Betriebsamkeiten mich immer schneller vor sich her treiben will. Ich halte diesem rastlosen Vorwärtsstreben nicht mehr Stand. Mein Intellekt schafft es nicht mehr, sich allen Neuerungen und Trends in einer viel zu schnellen Welt zu stellen und ihren Hypes zu folgen. Natürlich habe ich ein Smartphone, ein Tablet und ein Notebook. Ich bin kein Neandertaler des Informationszeitalters. Aber die Verdigitalisierung meiner eigenen Existenz bereichert mich nicht, sie bedroht mich und macht mir Angst. Ich habe Angst zu ertrinken in algorithmischen Sintfluten der Moderne. Es ist mir alles zu viel geworden. Zu hektisch, zu verfügbar, zu abstrakt und viel zu kalt. Mit dieser immensen Beschleunigung erlebe ich subjektiv aber auch eine wachsende Entsolidarisierung unserer Gemeinwesen und ein Absterben von Mitmenschlichkeit und Warmherzigkeit. Nicht eine Utopie ist Wirklichkeit geworden nicht einmal meine eigenen; mir ist es nicht gelungen meinen Frieden zu finden mit der Vergangenheit und auch die Welt hat ihren Frieden mit sich noch nicht gefunden; weder ist es den Menschen gelungen Krebs zu heilen, noch den Hunger zu besiegen oder Kriege und Terror zu beenden. Auch die unstillbare Gier des Turbokapitalismus wurde nicht in seine Schranken gewiesen und noch immer gibt es menschen-gemachte Not und unerträgliches Leid auf unserem Planeten, trotz unserer weltumspannenden Vernetzung. Es scheint inzwischen noch sachlicher, noch ungerechter und noch unmenschlicher zuzugehen auf Mutter Erde. Und Gott? Nein, ich habe keinen Anlass mehr zu glauben, auch nicht an den lieben Gott, der mir einst so sehr am Herzen lag. Und doch bete ich jeden Tag zu irgendetwas, schließlich kann es ja nicht schaden. Ich bete, weil es trotz allen Zweifels meiner Seele gut tut, mich jemandem anzuvertrauen und mit jemandem zu reden, selbst wenn es nur ein imaginäres Pendant ist, das mir zuhört. Ich glaube nicht mehr an allzu viel Gutes auf diesem Planeten und doch rufe ich ihm zu. Und trotz allem was mir widerfahren ist, trotz dessen, dass ich an nichts mehr glauben kann, obwohl ich so gerne glauben würde…. trotz alledem schlägt mein Herz. Es schlägt zu meiner eigenen Verwunderung immer noch kraftvoll und rhythmisch in meiner achtundvierzig Jahre alten Brust.

Und auch zwölf lange Jahre danach schlägt es jeden Tag, ohne zu wissen, wozu es das tut.

Mund der Wahrheit

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