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Auftakt in Wilna
Оглавление„Messieurs, mir scheint, wir sind in Jerusalem!“, soll Napoleon Bonaparte gesagt haben, als er 1812 auf dem Weg nach Moskau seinen Einzug in der Stadt hielt. Der schlagfertige Korse und seine Entourage waren überrascht von dem Bild, das sich ihnen in den Gassen bot: Orthodoxe Juden prägen das Leben in der Stadt, die von ihnen Vilne genannt wird und seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Mittelpunkt jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit geworden ist. Hier, im „Jerusalem des Nordens“, blüht die Haskala, die osteuropäisch-jüdische Aufklärung, die Bildung und Wissenschaft hochhält und eine Erneuerung des Judentums anstrebt.
1847, unter Zar Nikolaus I., wird eine russischsprachige Rabbinerschule mit einem angeschlossenen Gymnasium gegründet, die russische Assimilationspolitik zielt auf eine Anpassung der jüdischen Bevölkerung an die russische Gesellschaft, die Repressionen reichen von der Zwangstaufe bis zur Aberkennung von Grundbesitzrechten und Militärpflicht für Juden. Gleichzeitig wächst der Antisemitismus – nicht nur bei den Russen, sondern auch bei den Polen. Von Pogromen bleibt Wilna jedoch verschont, die jüdische Gemeinschaft floriert und setzt auch politische Zeichen: 1897 wird in Wilna der „Bund“ gegründet, die bedeutendste jüdisch-sozialistische Partei Osteuropas.
1939, am Vorabend der Besetzung durch die Rote Armee im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts, hat Wilna, zu diesem Zeitpunkt noch Hauptstadt der polnischen Wojewodschaft Wilno (województwo wileńskie), rund 200.000 Einwohner, der Anteil der jüdischen Bevölkerung beträgt knapp 40 Prozent, also etwa 75.000 Menschen.
Wilna, das „Jerusalem des Nordens“, ist eine Stadt der Kirchen und Türme. Blick über die Altstadt, Ansichtskarte, um 1920.
Es ist Anfang Juli 1941. Seit wenigen Tagen läuft „Unternehmen Barbarossa“, Hitlers gigantischer Feldzug gegen die Sowjetunion. Ordensjunker Franz Murer, der mit seiner Truppe noch immer in Nordfrankreich stationiert ist, wird am 2. Juli zur „A. u. E.-Stelle“ des Luftgaukommandos III versetzt, soll also für „Ausbildung und Ersatz“ tätig sein. Die neue Dienststelle ist jedoch nach wenigen Tagen bereits wieder Vergangenheit: Ein Telegramm aus Berlin trifft für den Gefreiten ein. Lakonisch heißt es da: „Auf Befehl des Führers haben Sie sich in Berlin beim Sonderstab R. zu melden …“ Sonderstab R.? Murer hat keine Ahnung, was sich dahinter verbergen mag, offenbar hat man aber in der Hauptstadt eine besondere Aufgabe für ihn vorgesehen. Die Adresse, an der er sich melden soll, klingt ziemlich kryptisch: „Institut für kontinental-europäische Forschung“ in der Rauchstraße 17/18. Geht es um Russland, um einen Einsatz im Osten? Was er nicht weiß: Telegramme wie dieses haben auch zahlreiche andere „Ordensburger“ erhalten. Pflichtbewusst meldet sich Murer am 8. Juli 1941 bei seiner Einheit ab und reist am nächsten Tag nach Berlin, wo sich das Dunkel etwas lichtet: Der „Sonderstab R.“ entpuppt sich als „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), offenbar verbindet sich damit tatsächlich eine Funktion in den eben von der Wehrmacht eroberten Gebieten. Murer muss für das geheimnisvolle Institut für kontinental-europäische Forschung eine „Notdienstverpflichtung“ unterschreiben und gleichzeitig seinen Dienst als Soldat quittieren: Aufgrund der „Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938“, so der Text dieser wortkargen „Polizeilichen Verfügung“, werde er nun zu einem „langfristigen Notdienst“ herangezogen. Was Murer zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht weiß: Er ist jetzt Mitarbeiter von Alfred Rosenbergs „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“, das sich unter dem genannten Tarnnamen im beschlagnahmten Gebäude der ehemaligen jugoslawischen Botschaft in der Rauchstraße angesiedelt hat. Erst am 18. November 1941 wird die Existenz dieses Ministeriums von der NS-Presse offiziell verlautbart werden, sein vorrangiges Ziel erläutert Rosenberg am Tag zuvor in einer geheimen Rede, die bereits unverblümt den Massenmord an den Juden ankündigt: Der Osten sei „berufen, eine Frage zu lösen, die den Völkern Europas gestellt ist: das ist die Judenfrage. Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa.“
Murer erhält Befehl, sich auf der Ordensburg in Krössinsee zu melden, wo die für den „Osteinsatz“ vorgesehenen Absolventen unter dem Titel Führerkorps Ost zusammengezogen werden. In Schulungsvorträgen bereitet man hier die hoffnungsvollen „Nachwuchsführer“ auf ihre Aufgabe vor, Robert Ley und Rosenberg selbst, inzwischen von Hitler als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ inthronisiert, geben sich die Ehre, um die „weltanschaulich festen Männer“ (Burggemeinschaft 5/6, 1943) auf den „entscheidenden Anfangsaufbau“ einzuschwören. Das unverhüllte langfristige Ziel: Durch „Eindeutschung rassisch möglicher Elemente, durch Kolonisierung germanischer Völker und durch Aussiedlung nicht erwünschter Elemente“ soll das gesamte Gebiet des „Reichskommissariats Ostland“ zu einem Teil des Großdeutschen Reiches werden. („Instruktion für einen Reichskommissar Ostland“, zitiert nach Franz Albert Heinen, Gottlos, schamlos, gewissenlos.) Ein Erlass Hitlers vom 17. Juli 1941 schafft die noch improvisiert klingende juristische Grundlage für Rosenbergs Männer: „Um die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben in den neu besetzten Ostgebieten wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, ordne ich an: § 1 Sobald und soweit die militärischen Kampfhandlungen in den neu besetzten Ostgebieten beendet sind, geht die Verwaltung dieser Gebiete von den militärischen Dienststellen auf die Dienststellen der Zivilverwaltung über. Die Gebiete, die hiernach in die Zivilverwaltung zu überführen sind, und den Zeitpunkt, in dem dies zu geschehen hat, werde ich jeweils durch besonderen Erlass bestimmen.“
Die ausgewählten „Ost-Kämpfer“ (Franz Albert Heinen) werden gesundheitlich untersucht, eingekleidet und mit Ausrüstung und Papieren versehen, dann geht es an die Einteilung der Stäbe und die Zuweisung der zukünftigen Aufgabenfelder. Murer wird dem aus Schleswig-Holstein stammenden SA-Führer Hans Christian Hingst (1895–1955) zugeteilt, der als Gebietskommissar von Wilna-Stadt vorgesehen ist. Murers Funktion als „Stabsleiter“: Als „ständiger Vertreter des Gebietskommissars“ wird er nach seinem Chef der wichtigste Beamte der neu geschaffenen Dienststelle und als Leiter der „Abteilung Politik“ auch für „Judenfragen“ zuständig sein.
Zum „Reichskommissar für das Ostland“ mit Sitz in Riga wird Hinrich (auch Heinrich) Lohse (1896–1964), der Gauleiter von Schleswig-Holstein, ernannt. Lohse, ehemals Bankangestellter in Altona, ist ein alter Bekannter Rosenbergs aus der „Kampfzeit“, der ihn bereits im April 1941 bei Hitler für dieses Amt vorgeschlagen und durchgesetzt hat. Nun sorgt Lohse dafür, dass seine Gesinnungsfreunde aus Schleswig-Holstein mit Posten im „Ostland“ versorgt werden – zu ihnen zählt auch Murers neuer Chef Hans Christian Hingst, bislang Kreisleiter in Neumünster. Generalkommissar im „Generalbezirk Litauen“ und damit unmittelbarer Vorgesetzter von Hingst und Murer wird Reichshauptamtsleiter Dr. Theodor Adrian von Renteln (1897–1946) aus München, ehemals Reichsführer der Hitlerjugend und seit 1940 „Hauptamtsleiter Handel und Handwerk in der Reichsleitung der NSDAP“. (1946 soll von Renteln, der baltendeutscher Herkunft ist, in der Sowjetunion hingerichtet worden sein, wie jedoch Christoph Dieckmann vermutet, könnte ihm möglicherweise auch die Flucht nach Südamerika geglückt sein.)
Für die Angehörigen der Zivilverwaltung in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine hat man eigene Uniformen aus goldbraunem Stoff geschaffen, die ihren Trägern von Seiten der Wehrmacht den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Goldfasane“ einbringen werden, häufig verbunden mit dem Vorurteil, dass es sich um „Schieber“ und „Drückeberger“ handle. Rosenberg hat ursprünglich für seine Mannen feldgraue Uniformen verlangt, da sie ja „zivilen Frontdienst“ leisten würden – ein Überschuss an goldbraunem Stoff gibt jedoch den Ausschlag für eine Einkleidung mit diesem Material.
Ergänzt wird die goldbraune Montur durch eine rote Hakenkreuzschleife am rechten Arm, die die Aufschrift „Krössinsee“ trägt. Dieser Uniform wird später noch große Bedeutung zukommen: Sie unterscheidet ihre Träger eindeutig von Angehörigen der SS und des SD, Zeugen, die später ein Auftreten Murers in dieser goldbraunen Uniform bezeugen können, gewinnen an Glaubwürdigkeit. Wie Murer in seiner autobiografischen Skizze schreibt, bekommt er in Krössinsee auch eine Pistole ausgehändigt, verbunden „mit der ausdrücklichen Belehrung, davon nur zum Zwecke der Selbstverteidigung Gebrauch machen zu dürfen“. Daran habe er sich auch gehalten: „Ich habe auch nie von der Schußwaffe Gebrauch gemacht, ich kam weder durch einen Befehl oder durch Notwehr oder sonst einen Grund in eine solche Lage. Es war ja niemals so, daß jeder nach Belieben herumschießen konnte, da hätte er sich genau so straffällig gemacht wie heute.“ Was Murer allerdings verschweigt: Er erhält in Krössinsee auch eine Schießausbildung an dieser Waffe, der Umgang mit ihr ist ihm durchaus vertraut.
Franz Murer ist im Übrigen nicht der einzige „Ostmärker“, der in Krössinsee auf den „Osteinsatz“ vorbereitet wird: Da ist etwa der SA-Sturmbannführer Leopold Windisch, geboren am 15. April 1913 im niederösterreichischen Senftenberg, auch er ein Absolvent der pommerschen NS-Ordensburg. Windisch, 1928 bis 1931 stellvertretender „Gauführer“ der Hitlerjugend in Niederösterreich und später „Verbindungsführer“ der österreichischen SA-Landesleitung, wird Stabsleiter beim Gebietskommissariat in der weißrussischen Stadt Lida, 40 km von der litauischen Grenze entfernt. Geleitet wird die Dienststelle vom „alten Kämpfer“ Hermann Hanweg (1907–1944), einem „Kameradschaftsführer“ aus Krössinsee. Vom 8. bis zum 12. Mai 1942 ermorden die Nazis und ihre litauischen und lettischen Helfer im Distrikt Lida mindestens 12.874 Juden, Windisch, für den die Opfer nur „Abschaum“ und „syphilitisches Pack“ sind, ist an den Massentötungen wesentlich beteiligt. Unter den Ermordeten sind auch Juden aus Wilna, die hier Zuflucht suchten. Unter dem Vorwurf, die Wilnaer Juden mit Papieren ausgestattet zu haben, lässt Windisch im Frühjahr 1942 sieben Mitglieder des Judenrates von Wilna schwer misshandeln und hinrichten. Nach umfangreichen Ermittlungen – die Akten und Dokumente zu seinem Fall im Bundesarchiv Ludwigsburg umfassen 46 Bände – wird er 1969 in einem Prozess vor dem Landgericht Mainz wegen „gemeinschaftlichen Mordes“ zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. Leopold Windisch, der bis an sein Lebensende überzeugter Nationalsozialist und Judenhasser bleibt, stirbt 1985.
Erste Station für Hingst und Murer auf ihrem Weg in das „Ostland“ ist Kaunas (Kowno), wohin Hinrich Lohse am 27. Juli 1941 die neuen Gebietskommissare und ihre Mitarbeiter zu einem Auftaktmeeting geladen hat. Noch gibt es keine klaren Anweisungen oder Verordnungsblätter, es bleibt vorerst beim Appell an „höchste Einsatzbereitschaft und nationalsozialistische Haltung“, wie es der Burgbrief, die Zeitschrift der Ordensburg Sonthofen, im August 1941 formuliert. Eine Ausnahme macht da, wie könnte es anders sein, nur das Thema Juden. Dazu kann Lohse bereits „vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Reichskommissariat Ostland“ präsentieren, die offen und jedes Menschenrechts spottend auf die völlige Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung zielen: Festgeschrieben sind hier das Tragen des gelben sechszackigen „Judensterns“ und zahlreiche Verbote wie jenes der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder Kraftfahrzeuge. Ohne Erlaubnis des Gebietskommissars ist kein Wechseln des Wohnortes oder der Wohnung mehr möglich, die „endgültige Lösung der Judenfrage“ behalte man sich aber noch vor – blanker Zynismus angesichts der Tatsache, dass inzwischen die Männer der Einsatzkommandos 9 und 3 in den litauischen Dörfern und Städten beinahe täglich Massaker mit Hunderten und Tausenden Ermordeten veranstalten.
Das alte „polnische“ Wilna: Die „Pohulanka“ wurde zur Jono-Basanavičiaus-Straße. Ansichtskarte, um 1916.
Einen oder zwei Tage später treffen Hingst und Murer in Wilna ein, begleitet werden sie von sechs oder sieben Mitarbeitern – Murer nennt sie in seiner autobiografischen Skizze abschätzig „Hilfskräfte“. Erste Unterkunft ist ein Hotel, da das vorgesehene „Dienstgebäude“ in der Wilnastraße noch nicht fertig eingerichtet ist. Murer wird später eine Wohnung in der Steinstraße 2 – bis 1987 Kamienna, heute Kalinausko gatve – zugewiesen, die er sich allerdings mit einem Kameraden aus Krössinsee, dem Ordensjunker Heinrich Lackner, teilen muss. Lackner, ehemals als Gastwirt und Kaufmann tätig, ist 1912 in Himmelberg, Kärnten, geboren und für seine Teilnahme am Juliputsch 1934 mit dem Blutorden der Partei ausgezeichnet worden. Im Gebietskommissariat leitet er die AbteilungenVerwaltung und Politik. Die beiden Ordensjunker haben eigene Schlafzimmer, teilen sich aber den Wohnraum. Auch ihr Chef, Hans Christian Hingst, hat seine Wohnung in diesem Haus. Die Verteidigung wird im Prozess 1963 als Entlastungszeugen auch Lackner vorladen, der Kärntner Blutordensträger lässt seinen alten Kumpel auch nicht im Stich: In der Schilderung Lackners ist Murer ein harmloser Zivilbeamter, das Gebietskommissariat habe sogar als „judenfreundlich“ gegolten. In den Geheimberichten, die er von einer Jüdin aus dem Ghetto erhalten habe, sei der Name Murer nie vorgekommen.
Tatsächlich übernimmt der Steirer die „Kernzuständigkeiten“ (Christoph Dieckmann) des Gebietskommissariats: Judentum, Polizei, Volkstums- und Siedlungsfragen, Preisbindung und -überwachung sowie das Verkehrswesen. Sein für das jüdische Vermögen zuständiger Mitarbeiter ist der Litauendeutsche August Kühn, ein ehemaliger Volksschullehrer, der nun in Iserlohe, Westfalen, lebt. Auch er wird 1963 zum Prozesss nach Graz vorgeladen und auch er bestätigt, wie korrekt und fürsorglich Murer gewesen sei: „Murer war Adjutant des Gebietskommissars und Referent für Landwirtschaft, Preisüberwachung und Fahrbereitschaft. Mit Juden hat er nur in wirtschaftlichen Sachen zu tun gehabt. Bei der Errichtung des Ghettos war er Vertreter des Gebietskommissars. Murer war oft im Ghetto und ich bin ein einziges Mal mit ihm gewesen. Sein Ruf im Ghetto war nicht schlecht. Man hat nichts Schlechtes über ihn gehört. (…) Es ist mir völlig unbekannt, daß Murer von den Juden so gefürchtet war.“ (Zitiert nach Gerichtsakt Franz Murer, Steirmärkisches Landesarchiv.)