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3 Neuere Theorieansätze einer Didaktik

3.1 Interaktionistischer bzw. reflexiv-diskursiver Konstruktivismus von Reich (1948) und Lindemann (1960)

Nach der Auflistung didaktischer Theorieansätze nach Kron gibt es etwa 46 theoretische Modelle. Wenn ich zwei davon auswähle und sie als „neuere“ Theorien bezeichne, ist dies nicht korrekt; denn so neu sind sie nicht. „Neu“ bezieht sich nicht auf den Zeitfaktor; vielmehr geht es um einen Paradigmenwechsel, eine andere, neue Sichtweise der Dinge, des Lernens und des Lehrens.

offene Didaktik

Wenn zwei Theorieansätze ausgewählt wurden, besagt das nicht, dass andere Theorien z.B. aus der Curricularen Didaktik (Möller), kritisch-kommunikativen Didaktik (Winkel), schülerorientierten Didaktik (Meyer) oder marxistisch-leninistisch bildungsorientierten Didaktik (Klingenberg) u.a. nicht relevant wären. Didaktik Sozialer Arbeit versteht sich als eine offene Didaktik und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens ist sie offen für Erkenntnisse anderer Theorieansätze und zweitens ist sie selbst offen, d.h. unabgeschlossen, unvollständig, dynamisch auf Veränderung und Weiterentwicklung angelegt.

3.1.1 Theoretische Überlegungen


Der Konstruktivismus stellt die These auf: Der Mensch kann mit seinen Sinnen die Realität nicht erfassen. Deshalb können wir über die Realität keine Aussagen machen. Stimmen Sie dieser These zu oder sind Sie anderer Meinung?

keine einheitliche Schule

Zunächst muss man deutlich machen, dass der Konstruktivismus keine einheitliche Schule oder Denkrichtung ist, sondern sich eher als Diskussionszusammenhang versteht. Je nach ihrem zentralen Forschungsziel unterscheidet man z.B. zwischen dem konstruktiv-subjektiven, radikalen, systemischen, methodischen und sozialen Konstruktivismus. Die in diesem Buch vorgestellten und verarbeiteten konstruktivistischen Modelle von Reich (interaktionistischer Konstruktivismus) und von Lindemann (reflexiver-diskursiver Konstruktivismus) betonen und demonstrieren die Vielfalt konstruktivistischer Theorieansätze.

Grundannahme

„Die Grundannahme konstruktivistischer Theorieansätze liegt darin, dass die Wahrnehmung keine Gegebenheiten einer von uns unabhängigen Realität abbildet, wie sie an sich sind, sondern dass wir lediglich Modelle entwerfen, deren Objektivität oder Wahrheit nicht überprüft werden kann. Es wird davon ausgegangen, dass das einzelne Subjekt sein gesamtes Erleben aufgrund interner Kriterien konstruiert. Zentraler Ausgangspunkt des Konstruktivismus ist daher die Erkenntnistheorie, also die Frage danach, wie Menschen Erkenntnisse bzw. Wissen erlangen.“ (Lindemann 2006, 13)

Grundsatzfrage

Die Grundsatzfrage des Konstruktivismus lautet:

„Ist Wahrnehmung ein Zugang zu einer vom Subjekt unabhängigen, von vornherein gegebenen und strukturierten Welt? Gibt es das vom Subjekt unabhängige Sein? Nach Auffassung des Konstruktivismus ist es unmöglich die Realität zu beschreiben, da man die Begriffe, die man hierzu verwendet, auf bereits Wahrgenommenes bezieht und nicht auf die Realität. Der Konstruktivismus betont, dass wir einer oft von Menschen naiv unterstellten unmittelbaren Verbindung von Welt (da draußen) und Abbild (in uns) misstrauen müssen.“ (Reich 2012, 74)

„Wahrheit im Sinne einer Korrespondenz mit der Realität ist ausgeschlossen, denn von der Wahrheit verlangt man ja, dass sie objektiv sei und eine Welt beschreibe oder darstelle, wie sie an sich ist, das heißt, bevor der Beobachter sie durch den Erkenntnisapparat wahrgenommen und begriffen hat. In dieser Situation auch nur von einer Annäherung zu sprechen, das heißt an eine wahre Repräsentation der objektiven Welt, ist sinnlos.“ (Lindemann 2006, 17)

Realität

Für den Konstruktivismus ist es deshalb entscheidend, zwischen den Begriffen Realität (wahrnehmungsunabhängige Welt) und Wirklichkeit (subjektive Welt) zu unterscheiden.

Wirklichkeit

Der Konstruktivismus beschäftigt sich ausschließlich mit der Wirklichkeit, ohne auf Realität oder einen Zusammenhang zu ihr zurückzugreifen. Diese vielleicht nicht leicht zu verstehenden Überlegungen des Konstruktivismus verdeutlicht Reich an einem Beispiel:

„Ich gehe spazieren und sehe einen Baum. Ich kann allerlei sinnlich gewisse Erfahrungen mit diesem Baum in realen Begegnungen machen: Ihn betasten, erklettern, Zweige abreißen, Blätter zwischen den Fingern zerreiben. Aber wenn ich solche Erfahrungen mir symbolisch erklären oder anderen mitteilen will, dann nützt mir meine sinnliche Gewissheit (in der Form eines inneren Bildes) allein nichts. Nun muss ich anfangen zu beschreiben, verschiedene Bilder vor meinen Augen entstehen lassen, die mehr als ein Abbild sind, Worte bilden, Bedeutungen ausmachen. Ich fange an zu sprechen und der Baum hat sich in etwas anderes verwandelt. Er ist nicht dieses eine Bild, das er eben noch schien. Für einen Gehirnforscher ist er ohnedies nicht der abgebildete Baum, denn der Hirnforscher wird mir erklären, dass ich als Mensch schon wahrnehmende Voraussetzungen in die Abbildung mit einbringe, die bloß ein menschliches Bild erzeugen helfen, das mir zwar als wirkliche Abbildung erscheinen mag, für eine andere Gattung jedoch ein ganz anderes Bild ergeben würde.“ (Reich 2012, 150f.)

Als Kernaussage des Konstruktivismus kann man festhalten:

Es gibt keine Realität sondern nur Wirklichkeiten. Dazu stellt Lindemann sieben Kernthesen auf:

Kernthesen

1.Da die Wahrnehmung keinen direkten Zugang zur Realität bietet, können wir keine Aussagen über die Realität treffen.

2.Der Begriff der Objektivität widerspricht der Stellung, die unsere Wahrnehmung im Prozess des Erkennens einnimmt.

3.Wahrnehmung und Erkennen sind keine Abbildungen einer wahrnehmungsabhängigen Realität, sondern entstehen als Konstruktionsleistungen eines aktiven Subjektes.

4.Wissen hat nicht den Zweck, die Realität abzubilden, sondern gangbare Wege zu schaffen, die effektives Handeln ermöglichen.

5.Subjektivität von Wissen und Erfahrung bedeutet, dass es mehrere, möglicherweise auch widersprüchliche Wege gibt, ein bestimmtes Ziel durch Handeln oder Denken zu erreichen.

6.Jedes wahrnehmende Subjekt trägt die Verantwortung für seine Konstruktionen und kann diese lediglich auf sich selbst bezogen begründen.

7.Der Konstruktivismus stellt nur eine Theorie unter vielen dar. Es handelt sich um den Versuch, eine gangbare, in sich schlüssige Alternative zu den üblichen Erkenntnismodellen aufzuzeigen, ohne diese begründet ausschließen zu können (Lindemann 2006).

3.1.2 Pädagogische Überlegungen


Um was geht es Ihrer Meinung nach in einer konstruktivistischen Pädagogik?

konstruktivistische Pädagogik

Die konstruktivistische Pädagogik setzt sich kritisch mit der Schulpädagogik des 21. Jahrhunderts auseinander. Im klassischen Lernen geht es um Dinge, die man lernt, weil man sie lernen soll. Es geht um die Erfüllung von Erwartungen von PädagogInnen. Der Anreiz, etwas zu lernen, besteht in der Angst vor schlechten Noten bzw. Strafe oder darin, für das Geben der erwarteten Antworten belohnt zu werden. Ohne eigenes Interesse lernt das Gegenüber für PädagogInnen und nicht für das Leben. Was hierbei in der Regel dauerhaft gelernt wird, ist, sich unterzuordnen, sich berechenbar zu verhalten und auf die Bewertung von anderen zu vertrauen, die scheinbar genau wissen, wie gut man selbst etwas kann und was man noch lernen soll (Lindemann 2006).

Die entscheidend andere Sicht der konstruktivistischen Pädagogik lautet: Es geht in der Pädagogik nicht um ich soll etwas lernen, sondern ich will etwas lernen. Der Slogan aller Lehrenden sollte daher lauten: Fördern, fördern, fördern! (Reich 2012)

allgemeines Ziel

Eine konstruktivistische Pädagogik hat zum Ziel, die subjektiven Interessen und Ziele als Ausdruck der Autonomie des Lerners zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen. Allgemeines Ziel wäre damit, den einzelnen Menschen bei der Wirklichkeitskonstruktion zu unterstützen, die ihm einen gangbaren Umgang mit anderen Menschen, ihren unterschiedlichen Wert- und Normvorstellungen, Zielen, Herangehensweisen und Weltsichten ermöglicht.

Als Maxime könnte man das Ziel einer konstruktivistischen Pädagogik formulieren:

„Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst.“ (Lindemann 2006, 198)

vier wichtige Aspekte

Eine konstruktivistische Pädagogik will nicht allgemein gültige Handlungsanweisungen oder Patentrezepte vorgeben. Sie legt nicht unbedingt eine neue Methodik des Lehrens nahe, sondern prägt eine spezifische pädagogische Haltung, ein Wechsel der Betrachtungsweise. Diese enthält vier wichtige Aspekte wie z.B.

1.Vielfalt und Toleranz,

2.kritischer Diskurs,

3.Verantwortung und

4.Handeln (Lindemann 2006).

3.1.3 Konstruktivistische Didaktik


Die konstruktivistische Didaktik übt Kritik an der traditionellen Didaktik. Können Sie sich vorstellen, was die konstruktivistische Didaktik an der traditionellen Didaktik kritisiert?

Die Sichtweise traditioneller Didaktik ist:

1.Die Realität scheint die äußere Voraussetzung aller Wissenschaften (z.B. Naturgesetze) zu sein, welche die durch die Interpretation des Faktischen scheinbar die Realität abbilden.

2.Das Wissen repräsentiert damit etwas Abbildbares und die Fachwissenschaften symbolisieren diese Realität.

3.Fachwissenschaften machen daher bestimmte Aussagen zur Realität und die Didaktik hat die Aufgabe, diese Aussagen lerngerecht aufzubereiten.

„Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine äußere Realität scheint den Dingen an sich zuzukommen, die sich im Wissen abbilden lassen; Fachwissenschaften sind dieser Abbildung am nächsten; diese Abbildung scheint didaktisch dann in zweiter Linie simuliert werden zu müssen, um in der Steuerung von Lernprozessen der ursprünglichen Realität möglichst nahe zu kommen. […] Die hier vertretene Didaktik hält diese überkommene Bestimmung der Didaktik für grundsätzlich falsch.“ (Reich 2012, 127)

Die konstruktivistische Didaktik räumt mit dieser Illusion der traditionellen Didaktik und des Realismus auf, die Welt so, wie sie ist, abbilden zu können.


Kritik zu üben, ist die eine Seite, die andere ist zu sagen, wie denn eine konstruktivistische Didaktik auszusehen hat. Haben Sie eine Vorstellung?

Beziehung Beziehungsdidaktik

Die konstruktivistische Didaktik geht von der Tatsache aus, dass Lehrende und Lernende immer in einer Beziehung stehen. Entsprechend spricht man von einer Beziehungsdidaktik. Sie ist nicht eine neue Form des Lehrens, sondern eine spezifische, pädagogische Haltung. Es geht um einen Wechsel der Betrachtungsweise. Im Fokus der Beziehungsdidaktik stehen die beiden Akteure des Lehr-Lern-Prozesses. Reich meint, dass sich in der heutigen Didaktik vor allem die Rolle des Lehrenden ändern muss. Eine Didaktik, die überwiegend die Inhaltsseite betont, hat an Wirkung verloren. Dagegen betont eine Beziehungsdidaktik die Beziehungsseite. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Inhalte an Bedeutung verlieren. Didaktik entsteht aus dem Zusammenwirken beider Seiten (Reich 2012).

„Das Wechselspiel von Inhalten und Beziehungen ist grundlegend für didaktische Prozesse. Inhalte stehen immer auch in Beziehungskontexten. Selbst wenn Inhalte verständlich und klar vermittelt werden, so wird die Wirksamkeit inhaltlichen Lernens erst dann gesteigert, wenn sie auf der Basis auch emotionaler Übereinstimmungen, auf Sympathien, Freundlichkeit, Wertschätzung und Feedback vermittelt werden. Es gehört zu den großen Irrtümern in vielen didaktischen Theorien, dass man sich um die Beziehungsseite, wenn überhaupt, nur dann kümmern muss, wenn es Störungen in den Beziehungen gibt.“ (Reich 2012, 103f.)

drei Folgerungen

Entsprechend stellt Reich für die konstruktivistische Didaktik drei Folgerungen auf: Für die Didaktik bedeutet dies

1.ein neues Denk- und Ausbildungsprofil, das stärker auf ein Miteinander von Lehrenden und Lernenden und eine wechselseitige Reflexion von Inhalten und Beziehungen setzt. Deshalb will die konstruktivistische Didaktik die dialogische und kommunikative Praxis umfassend entwickeln.

2.dass sie keine homogenen Lerngruppen mehr voraussetzen kann, sondern sich einer Vielfalt von Interessen, Erwartungen, Ansprüchen kritisch zu stellen hat.

3.dass sie im politischen Streit aktiv Partei für die Lerner ergreifen muss, um deren Chancen unter der Maxime höherer Gerechtigkeit zu verbessern, die Verschwendung oder Nichtnutzung der Ressource Bildung zu vermeiden, die Möglichkeiten des Lernens gegen die Kurzlebigkeit gesellschaftlicher Konsuminteressen und die Klischee-Erwartungen der Vereinfachung allen Wissens zu verteidigen (Reich 2012).


Welche Empfehlungen gibt der Konstruktivismus Lehrern? Was würden Sie den Lehrenden empfehlen?

einige Ratschläge

Für die neue Sicht des Lehrenden gibt Reich aus der Sicht einer konstruktivistischen Didaktik einige Ratschläge :

1.„Sei ein interessierter, neugieriger, offener und kreativer Forscher im Symbolischen, d.h. verstehe das Lehren und Lernen nie nur als eine fachliche Vermittlungsaufgabe, nie nur als einen inhaltlichen Trainingsjob, nie nur in einem engen symbolischen Sinn. Als Didaktiker muss sich jeder Lehrende und möglichst auch der Lernende als ein Lernforscher verstehen, was für Lehrende heißt, konsequent die Wirkungen ihres Tuns nicht nur zu bedenken, sondern auch umfassend zu evaluieren.“ (Reich 2012, 108)

2.„In der konstruktivistischen Didaktik sind alle Lerner auch Didaktiker. Auch sie benötigen Visionen, Zauber, eine hohe Erlebnisdichte und vor allem Antriebe, um ihr Lernen erfolgreich zu gestalten.“ (Reich 2012, 110)

3.„Schaffe den anderen nicht nach deinem Bild, hoffe und vertraue auf Unterschiedlichkeit, Andersartigkeit, Spannung und Lebendigkeit, vermeide Stereotypien, Gleichmacherei, versuche nicht, die Vorstellungen des anderen zu kontrollieren und akzeptiere seine Freiheit; aber setze auch Grenzen zu deiner Freiheit, wenn du anderer Auffassung bist, damit ihr über unterschiedliche Vorstellungen streiten und euch entwickeln könnt.“ (Reich 2012, 113)

4.„Akzeptiere das Kontingente, das Unvollständige, das Offene, nicht Ausgesprochene oder Ungewohnte, die Differenz zwischen Erleben und Sprechen, die Unterschiedlichkeit der Antriebe, die du nicht vollständig durchschaust, die Ahnungen und Intuitionen, die du hast – und reflektiere sie im Symbolischen, um Offenheit und Toleranz gegen andere, die dies unterschiedlich von dir erfahren, zu entwickeln.“ (Reich 2012, 112)

In Bezug auf eine Beziehungsdidaktik fordert Reich, dass das Denken und Handeln systemisch sein muss; deshalb spricht er auch des Öfteren von einer systemisch-konstruktivistischen Didaktik:

„Systemisch müssen heute alle Didaktiken denken, sofern sie die Beziehungsseite und die Kommunikation von Lernenden und Lehrenden nicht vernachlässigen wollen.“ (Reich 2012, 32)

Reich zählt zehn Grundsätze auf, die in den Interaktionen, in den Beziehungen aller Beteiligten in einer Beziehungsdidaktik gelten sollten:

1.Selbstwert,

2.Wertschätzung,

3.Teilnehmerorientierung,

4.Lösungsorientierung,

5.Engagement und Distanz,

6.Perspektivenvielfalt,

7.Kontextorientierung,

8.Zirkularität,

9.Praktikabilität und

10.Zerstörung (Reich 2012).

Reflexionsschema

Für die Praxisgestaltung entwickelt Lindemann ein Reflexionsschema, das man auch als Bedingungsanalyse bezeichnen kann. Dieses Reflexionsschema enthält sechs Faktoren:

1.personenbezogene Faktoren (aller Beteiligten),

2.inhaltliche Faktoren,

3.räumliche Faktoren,

4.materielle Faktoren,

5.zeitliche Faktoren und

6.soziale Faktoren (Lindemann 2006).

3.1.4 Zusammenfassung: Anregung für eine Didaktik Sozialer Arbeit


Nachdem Sie die kurzen Ausführungen über den Konstruktivismus gelesen haben, stellt sich die Frage: Was kann eine Didaktik Sozialer Arbeit daraus lernen? Welche Gedanken sind Ihnen gekommen?


Die wichtigste Aussage der konstruktivistischen Didaktik kann man in einem Kernsatz zusammenfassen: Konstruktivistische Didaktik ist vor allem eine Beziehungsdidaktik und Lerndidaktik.

Folgende Anregungen kann eine Didaktik Sozialer Arbeit von der konstruktivistischen Didaktik übernehmen:

1.Es gibt keine Realität, sondern nur Wirklichkeiten.

2.Wissen hat nicht den Zweck, Realität abzubilden, sondern gangbare Wege für effektives Handeln zu ermöglichen.

3.Generelles Ziel einer Pädagogik ist es, Menschen bei der Wirklichkeitskonstruktion zu unterstützen, die ihnen einen gangbaren Umgang mit anderen Menschen ermöglicht.

4.Konstruktivistische Didaktik ist stets eine Beziehungs- und Lernerdidaktik. Es geht nicht nur um Inhalte, Beziehungen müssen gleichwertig mitbedacht werden.

5.Die Rolle des Lehrenden muss neu definiert werden. SozialarbeiterInnen sind im Verständnis einer konstruktivistischen Didaktik Coach, Lernprozessbegleiter, Lernberater, Provokateur, Moderator mit entsprechenden Kompetenzen der Gesprächsführung, Kooperation, Konfliktklärung, Dokumentation und Evaluation. Visionen und Kreativität sind zu fördern.

6.Eine Didaktik Sozialer Arbeit hat aufgrund ihrer besonderen Arbeitsfelder und Aufgaben in unserer Gesellschaft beste Chancen, Teile des konstruktivistischen Gedankengutes umzusetzen.

3.2 Neurowissenschaftliche Theorie-Ansätze einer Didaktik nach Herrmann (1950), Roth (1942) u.a.

3.2.1 Forschungsergebnisse


Neurobiologie! Können Sie sich vorstellen, dass diese Wissenschaft wichtige Ergebnisse für eine Didaktik liefern kann?

Zunächst müssen wir auch hier feststellen, dass es erstens keine einheitliche Neurodidaktik gibt und zweitens, dass auch keine didaktische Theorie der Neurobiologie vorliegt. Vielmehr möchte die Neurodidaktik aber durchaus sehr bedeutsame, wissenschaftliche Informationen für pädagogisches Lehren und Lernen einbringen. Insofern ist der Titel „Neurodidaktik“ etwas irritierend, besser wäre es, man würde von neurobiologischen Forschungsergebnissen für eine Didaktik sprechen.

Im Folgenden will ich die neurobiologischen Forschungsergebnisse von Herrmann, Roth u.a. vorstellen und überlegen, welche Anregungen sie für ein didaktisches Modell Sozialer Arbeit bieten.

Gerhard Roth, ein bedeutender Hirnforscher, leitet seine Darstellungen der Ergebnisse aus der Hirnforschung folgendermaßen ein:

„Dass Lehren und Lernen schwierig sind und häufig zu Misserfolgen führen, weiß jeder. Warum dies so ist, darüber gehen die Ansichten weit auseinander. […] Für die einen sind es die unfähigen und unwilligen Lehrer, für die anderen die ebenso unwilligen Schüler oder die sich aus jeder Verantwortung ziehenden Eltern, und für alle sind es in jedem Fall die Bildungspolitiker. Ich möchte mich hier nicht in die lange Schlange der Kritiker einreihen. Vielmehr möchte ich im Folgenden zeigen, dass Lehren und Lernen aus inhärenten Gründen grundsätzlich schwierig sind. Ich will dies aufgrund der neuen Erkenntnisse der Kognitions- und Emotionspsychologie und der Hirnforschung tun. Ich möchte eines – dreimal unterstrichen – betonen: Nichts von dem, was ich sagen werde, ist einem guten Pädagogen inhaltlich neu. Der Fortschritt besteht vielmehr darin zu zeigen, warum das funktioniert, was ein guter Pädagoge tut, und das nicht, was ein schlechter tut.“ (Roth 2009, 58)

Obwohl die Neurowissenschaft am Anfang ihrer Forschungen steht, haben Untersuchungen, vor allem durch bildgebende Verfahren, mit denen man dem Gehirn sozusagen beim Denken und Lernen zusehen kann, seit ca. 1995 zu Entdeckungen und Einsichten geführt, die das Verständnis vom Funktionieren des Gehirns grundlegend verändert haben. Im Folgenden sollen einige Ergebnisse der Hirnforschung ausgewählt und vorgestellt werden:

allgemeine Forschungsergebnisse

1.Allgemeine Forschungsergebnisse: Grundsätzlich sind folgende Erkenntnisse über unser Gehirn und dessen Arbeit festzuhalten: Das Gehirn

–lernt immer, aber auf seine individuelle Weise.

–ist kein Datenspeicher, sondern ein Datengenerator.

–lernt am besten unter leichter Anspannung, leichtem Stress.

–ist neugierig.

–ist ein soziales Organ und sucht die Kooperation.

–und seine neuronalen Netze müssen durch häufigen Gebrauch stabilisiert werden.

–wird nicht durch Auswendiglernen von Sachverhalten, sondern durch Lösen von Problemen optimiert.

–ist rastlos. Es sucht nach Anregungen, Abwechslung. Es ist lernsüchtig.

–sucht nach Belohnung, Erfolg.

–kann in seiner Leistungsfähigkeit kaum überfordert werden, die Gefahr liegt eher in einer Unterforderung (Braun 2009).

Nach dieser allgemeinen Auflistung von Funktionen unseres Gehirns sollen im Folgenden einige besonders wichtige Funktionssysteme vorgestellt werden.

Spiegelneuronen

2.Spiegelneurone: Die Neurobiologie von intuitivem Verstehen und Empathie, diese vielleicht letzte große Frage der Hirnforschung, scheint vor ihrer Aufklärung zu stehen. Grund ist die Entdeckung der sogenannten Spiegel-Nervenzellen, die Anfang der 1990er Jahre entdeckt wurden (Bauer 2009). Sie ist in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der Entdeckung der DNA.

„Die Spiegel-Nervenzellen versorgen uns durch ihre stille Mit-Reaktion mit einem inneren Wissen über die Bedeutung der Handlung, die wir beobachten. Dieses innere Wissen ist intuitiv, es stellt sich von alleine in uns ein. Wir müssen nichts tun, um die Spiegelneuronen in Aktion zu setzen, sie werden von alleine aktiv. Die Spiegelneurone lassen uns aber nicht nur jene Teilabschnitte einer Handlung verstehen, die wir eins zu eins beobachten konnten. Sie lassen uns vielmehr auch dann, wenn wir nur den Anfang einer Handlung sehen konnten, erahnen, was im nächsten Moment kommen wird. Warum ist das so? Motorische Nervenzell-Netzwerke kodieren nicht nur den Plan einer bestimmten Handlung, sondern auch die erwartbare Gesamtsequenz dieser Handlung. Wenn motorische Spiegelneurone beim Beobachten einer Handlung mitreagieren, dann tun sie dies, sobald aufgrund der Beobachtung ein hinreichender Anfangsverdacht vorliegt, worauf eine begonnene beobachtete Aktion hinauslaufen wird. Da sie den Plan für den gesamten Ablauf einer Handlung gespeichert haben, vermitteln Spiegelzellen dem Beobachter also einen vorausschauenden Eindruck davon, was das Ergebnis einer beobachteten Handlung sein wird. Spiegelneurone fahren im miterlebenden Beobachter also nicht nur ein stilles inneres Simulationsprogramm, sondern sie informieren ihn auch über den – aufgrund bisheriger Erfahrungen – wahrscheinlichen Ausgang einer Handlungssequenz. […] Spiegelzellen vermitteln uns das, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir das Handeln eines anderen Menschen – intuitiv und ohne langes Nachdenken – verstehen.“ (Bauer 2009, 52f.)

Spiegelneurone sind die neurobiologische Basis für das Lernen am Modell.

„Spiegelzellen vermitteln zweierlei:

–Indem sie in uns in Resonanz gehen, informieren sie uns mit einem in uns ausgelösten Gefühl (mit einer Intuition) über das, was sich in anderen Menschen abspielt.

–Zusätzlich haben Spiegelzellen aber auch die Tendenz, uns anzustecken. Sie können uns mit der Stimmung eines Anderen infizieren (z.B. mit Lachen, guter Laune oder mit Gähnen).“ (Bauer 2009, 112)

Letztes Ziel der Spiegelung ist, dass Menschen in dem Spiegelbild nach einer Auskunft über sich selbst suchen.

Beziehungen

3.Beziehungen: Alles Lehren und Lernen bedeutet Beziehungsgestaltung. Wer andere zu kompetenten, starken und selbstbewussten Persönlichkeiten erziehen bzw. anleiten, unterstützen will, muss in Beziehungen denken und in Beziehungsfähigkeit investieren.

„Obwohl wir täglich, ja fast fortwährend in Beziehungen leben, wird selten reflektiert, was eine Beziehung eigentlich ausmacht, d.h. was in den jeweils Beteiligten dabei eigentlich vor sich geht und welche Stellschrauben uns zur Verfügung stehen, um das Beziehungsgeschehen zu beeinflussen.“ (Hüther 2009, 111)

Für eine Pädagogik fordert Hüther daher:

„Worum es geht, ist eine andere Kultur in unseren Schulen, eine andere Beziehungskultur der Wertschätzung, Ermutigung und der Unterstützung, in der Vertrauen wachsen kann und Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, hochkomplexe Muster in ihren Gehirnen aufzubauen. Eine zweite Ebene, auf der sich etwas ändern muss, ist die Lernkultur in unseren Schulen […]. Die dritte Ebene ist die Erziehungskultur. Wir müssen begreifen, dass die Vermittlung von Kompetenzen wichtiger ist als Vermittlung von Wissen. Wir brauchen als Lehrer starke Persönlichkeiten und keine Fachidioten.“ (Hüther 2009, 205f.)

Motivation

4.Motivation: Ein weiteres verblüffendes Ergebnis fand die Hirnforschung heraus:

„Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen; was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation. […] Die stärkste Motivationsdroge für den Menschen ist der andere Mensch! Dies bedeutet: Es gibt keine Motivation ohne zwischenmenschliche Beziehung. Menschen sind in ihren zentralen Motivationen auf soziale Akzeptanz hin orientierte Wesen.“ (Bauer 2009, 110)

Interessant sind diese Ergebnisse in Bezug auf soziale Ausgrenzung und Demütigung.

„Sie beschränken sich nämlich nicht nur auf eine biologische Lähmung des Motivationssystems. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Ausgrenzung aus der Sicht des Gehirns ähnlich wahrgenommen wird wie absichtsvoll zugefügter körperlicher Schmerz. Da zugefügter körperlicher Schmerz ein potenter Auslöser von Aggression ist, wird verständlich, warum auch soziale Ausgrenzung bzw. Bindungslosigkeit aggressives Verhalten begünstigt. Das Gehirn macht keine bzw. kaum eine Unterscheidung zwischen körperlichen und psychischem Schmerz und beantwortet daher beides mit Aggression.“ (Bauer 2009, 111)

Da das Gehirn ein Sozialorgan ist, ist es auf Beziehungen angewiesen. Beziehungsarbeit ist daher das Kerngeschäft des Lehrenden.

Gefühle

5.Gefühle: Lernen bedeutet nicht passive Wissensaufnahme (Nürnberger Trichter), das Wissen entsteht im Netzwerk des Gehirns selbst. Lernen ist immer mit Emotionen verknüpft. Dabei spielt das limbische System eine bedeutende Rolle. Es besteht aus den Hirnteilen Großhirnrinde, Hippocampus, Amygdala, Mesolimbisches System und Neuromodulatorisches System. Die wichtigste Rolle in diesem System spielt die Amygdala, der Mandelkern.

„Die gesamten limbischen Zentren bilden das zentrale Bewertungssystem unseres Gehirns. Dieses System bewertet alles, was durch uns und mit uns geschieht danach, ob es gut/vorteilhaft/lustvoll war und entsprechend wiederholt werden sollte, oder schlecht/nachteilig/schmerzhaft und entsprechend zu meiden ist. Es legt diese Bewertung im emotionalen Erfahrungsgedächtnis nieder, das weitgehend unbewusst arbeitet. In jeder Situation wird vom limbischen System geprüft, ob diese Situation bereits bekannt ist bzw. einer früheren sehr ähnelt, und welche Erfahrung wir damit gemacht haben.“ (Roth 2009, 61)

Das limbische System versteht sich praktisch als Türöffner für Lernprozesse und Leistungen.

Was Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle.

„Die lange Zeit aufrechterhaltene und bis heute vorgenommene Trennung zwischen Gehirnentwicklung und der Entwicklung des Verhaltens, Denkens und Fühlens, ja selbst des Gedächtnisses hat sich inzwischen als schwerwiegender Irrtum erwiesen.“ (Hüther 2009, 45)

Vertrauen

6.Vertrauen: Beim Lernen spielen Gefühle eine entscheidende Rolle. Wichtige Voraussetzung für die Lernlust ist, dass Personen Vertrauen aufbauen und entwickelt haben.

„Nichts ist in der Lage, das Durcheinander im Kopf besser aufzulösen und die zum Lernen erforderliche Offenheit und innere Ruhe wieder herzustellen, als dieses Gefühl von Vertrauen. […] Vertrauen ist das Fundament, auf dem alle unsere Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse aufgebaut werden.“ (Hüther 2009, 46)

„Kann eine Person dieses Vertrauen nicht aufbauen bzw. nicht erfahren, entsteht Angst, im Gehirn breitet sich Unruhe und Erregung aus. Es kann nichts Neues hinzulernen. Laut Statistik gehen 40 Prozent der Schüler mit Angst in die Schule. Angst führt dazu, dass unspezifische Erregungsmuster im Gehirn aufgebaut werden und sich ausbreiten. Das einzige, was dagegen hilft, ist Vertrauen. Kinder müssen deshalb Gelegenheit bekommen, Vertrauen zu entwickeln zu sich selbst, aber auch zu anderen.“ (Hüther 2009, 205)

3.2.2 Forderungen an die Pädagogik

„Das Heil der Welt liegt nicht in neuen Maßnahmen, sondern in einer anderen Gesinnung.“ (Albert Schweizer; In Hüther 2009, 199)

„Wir können unsere Probleme nicht mit den gleichen Maßnahmen lösen, mit denen wir sie verursacht haben.“ (Albert Einstein; In: Hüther 2009, 199)

„Intelligenz ist zum großen Teil angeboren, Expertenwissen kann man sich durch Pauken aneignen. Klug wird man aber nur durch hochgradige Vernetzung des eigenen Wissens.“ (Roth 2009, 67)

Für das Lernen sind aus neurobiologischer Sicht vor allem zwei Faktoren entscheidend:

1.positive, fördernde Beziehungen und

2.Ausstrahlung, Persönlichkeit des Lehrenden.

Glaubhaftigkeit

Zu Beginn einer Begegnung, eines Gespräches, einer Interaktion wird vom Gehirn in wenigen Sekunden unbewusst die Glaubhaftigkeit des Gegenübers eingeschätzt. Dies geschieht über die Analyse des Gesichtsausdruckes (Augen, Mundwinkel), Tönung der Stimme, Körperhaltung sowie unbewusst wahrgenommener emotional gesteuerter Körpergeruch, der Furcht und Unsicherheit vermittelt.

„Beim Lernen ist dies genauso. Schüler stellen schnell […] unbewusst fest, ob der Lehrer motiviert ist, seinen Stoff beherrscht und sich mit dem Gesagten auch identifiziert. […] Wenn also ein in vielen Jahren des Lehrerdaseins ermüdeter, unmotivierter Lehrer Wissensinhalte vorträgt, von denen er selbst nicht weiß, ob sie überhaupt noch zutreffen, so ist dies in den Gehirnen der Schüler die direkte Aufforderung zum Weghören.“ (Roth 2009, 62)

Die wichtigste Forderung an PädagogInnen/SozialarbeiterInnen lautet daher: Persönlichkeit, Vorbild sein!

Bauer fordert deshalb: sehen und gesehen werden.

„Um gesehen zu werden und als Vorbild Ausstrahlung zu bewirken, müssen sich Lehrkräfte sehen lassen, d.h. sie müssen auftreten. Dies bedeutet nicht sich nach Art eines Gockels oder Fasanen der Lächerlichkeit preiszugeben. Es beinhaltet jedoch die Notwendigkeit, mit den vielfältigen Mitteln der Körpersprache (Art des Stehens und Gehens, Stimme, Blickhalten, Mimik und – last not least – professionelle Kleidung) deutlich zu machen, dass man voll präsent und gewillt ist, zu sich zu stehen, für die eigenen Vorstellungen einzutreten und diesen Gehör zu verschaffen. […] Schüler sehen bereits am Auftreten des Lehrers bzw. der Lehrerin, ob eine Lehrkraft Selbstvertrauen oder Angst hat.“ (Bauer 2009, 113)

Von guten PädagogInnen wird des Weiteren erwartet, dass sie mit Zuversicht, Einsatzbereitschaft, Kreativität, Umsicht und Geduld agieren. PädagogInnen/SozialarbeiterInnen müssen Kindern und Jugendlichen Mut machen, ihnen zeigen, vormachen und vorleben, wie man sich selbst besser unterstützen und die Bemühungen anderer würdigen kann.

3.2.3 Überlegungen zur Neurodidaktik

1.Einschränkungen: Zwei Überlegungen müssen vorausgeschickt werden. Didaktik ist erstens eine Teildisziplin der Pädagogik. Ähnliches gilt auch für die Neurodidaktik, die eine Teildisziplin der Neuropädagogik ist. Zweitens betont die Hirnforschung, dass sie auf die Frage, wie Lerngelegenheiten gestaltet werden sollten, keine Antwort gibt. Hirnforschung kann solche Kenntnisse nicht bereitstellen, weil sie prinzipiell zu unbestimmt ist.

Neurowissenschaft und Pädagogik

„Neurowissenschaften können prinzipiell nicht beanspruchen, über das Ob und Warum, das Was und Wann schulischen Lernens Aussagen machen.“ (Hermann 2009, 165)

„Gleichwohl sollte die Forschung nicht Gefahr laufen, neurodidaktische Grundlagenforschung zu betreiben und Wege der Anwendung zu suchen, weil sie in die Falle der Alltagsuntauglichkeit laufen würde wie z.B. die Lehr-Lern-Forschung vor ihr.“ (Herrmann 2009, 169)

Was also kann die Neurowissenschaft den PädagogInnen anbieten?

Sie kann eine neue Sicht auf Voraussetzungen, Strukturen und Prozesse von Gedächtnis und Lernen anbieten. Außerdem kann sie Begünstigungen und Widrigkeiten von Lernen aus neurowissenschaftlicher Sicht begründen und modifizieren.

2.Aspekte einer Neurodidaktik: Herrmann versucht, trotz der genannten Vorbehalte Schnittstellen aufzuzeigen, was Neurowissenschaften und Pädagogik voneinander lernen können.


Roth meint, die Neurodidaktik bringt nichts Neues hervor, was ein guter Lehrer nicht bereits wusste. Versuchen Sie sich als gute/r LehrerIn/SozialarbeiterIn und nennen Sie Aspekte, die für ein effektives Lernen Ihrer Meinung nach wichtig sind.

Nach Erkenntnissen der Hirnforschung sind für eine Neurodidaktik folgende Aspekte grundlegend:

Neugier

■Neugierverhalten: Neugier – als die Suche nach bedeutungsvollen Erfahrungen und deren Erklärungen – ist angeboren. Das Gehirn versucht ständig, Neues mit Bekanntem zu verbinden. Didaktische Folgerungen: Statt dass Lehrende den Lernern etwas vermitteln, sollte das Prinzip der freien Erarbeitung gelten. Lerner organisieren selbst das Lernen. Das Lehrer-Instruktions-Modell wird durch das Schüler-Selbstlern-Modell ersetzt (Herrmann 2009).

Spiel

■entspannte Atmosphäre und Spiel: Neugier entfaltet sich nur, wenn das ungefährlich ist. Das Spiel bietet da die effektivste Form des Lernens, denn es bewirkt Selbstvergessenheit, Entspannung. Didaktische Folgerungen: Im Spiel ist der Mensch ganz bei sich. Solcher Phasen bedarf der Mensch für seinen seelischen Haushalt, Energie neu zu tanken. Dies kann jedoch nur in einer entspannten Atmosphäre erfolgreich geschehen (Herrmann 2009).

■Entspannung für Gedächtniskonsolidierung:

Entspannung

„Entspannung während des Lernens ist eine wichtige Maßnahme, dem Gehirn die notwendige Zeit für die Konsolidierung (Speicherung) von Informationen und Bedeutungszusammenhängen zu geben.“ (Herrmann 2009, 151)

Didaktische Folgerung: Es ist ein zentrales Gesetz der Biologie: Spannung und Entspannung. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung ist für das Lernen eine wichtige Forderung.

■Vertrauen:

Stärkung des Selbstbewusstseins

„Sich einlassen auf Neugier setzt Vertrauen voraus: Nicht nur keine Furcht vor Misserfolg, keine Furcht vor Fehlern, keine Furcht vor Entmutigung durch negative Konsequenzen, sondern – ganz im Gegenteil! – die Stärkung der Erwartung auf Erfolg, die Bekräftigung von Suchbewegungen mit experimentell offenem Ausgang und die Hoffnung auf Belohnung: Stärkung des Selbstbewusstseins und der Selbstwirksamkeitsüberzeugung.“ (Herrmann 2009, 152)

Didaktische Folgerung: Einer der wichtigsten Aufgaben von LehrerInnen ist, dass Lerner Selbstwirksamkeitserfahrungen machen und die entsprechende Überzeugung wachsen und sich festigen lassen.

■Belohnung und Spaß:

„Das Gehirn funktioniert umso besser, je attraktiver die Lernsituation empfunden wird und die Attraktivität bemisst sich […] an der Abschätzung des zu erwartenden Erfolgs.“ (Herrmann 2009, 152)

Spaßpädagogik

Didaktische Folgerungen: Es geht um Spaß haben beim Lernen. In diesem Zusammenhang spricht die Neurodidaktik von einer Spaßpädagogik. Im Kern dieser modernen erfolgreichen Spaßpädagogik geht es darum, dass sie Lust auf fortgesetztes Lernen macht.

„Bei dieser Pädagogik steht der Lernende im Mittelpunkt, seine Wertschätzung und seine positive Selbstwahrnehmung. Was er tut und lernt, hat mit ihm zu tun. Das Gehirn sagt: Endlich werde ich richtig beschäftigt, weil mein Lernen nicht durch sinnlose oder sinnwidrige Informationsüberflutung behindert wird – denn andernfalls muss ich abschalten bzw. meine automatischen Filter schützen mich vor diesem ganzen Unsinn.“ (Herrmann 2009, 153)

■Musterwahrnehmung und -erzeugung:

„Lernen als Prozess der Wahrnehmung und des Erinnerns von Gesamtheiten und Teilen und deren Ergänzung zu […] Gesamtheiten geschieht durch Vergleichen von Eigenschaften des Wahrgenommenen, Identifizierung und Extrahierung von Ähnlichkeiten und Unterschieden und Kategorisierung.“ (Herrmann 2009, 154)

Wiederholungen und Übungen

Didaktische Folgerung: Nachhaltige Prozesse der Vermittlung und Aneignung geschehen am besten auf der Grundlage der Präsentation, Erarbeitung, Aneignung und Übertragung von Mustern. Aus diesem Grund empfiehlt sich für effektives Lernen: kürzere, aber häufigere Übungszeiten und -formen, sowie Wiederholungen und Übungen einzuplanen.

■Vorwissen:

„Lernprozesse verlaufen in der Regel von selber erfolgreich, wenn an Bekanntes angeknüpft werden kann, andernfalls wird kaum etwas oder gar nichts oder etwas völlig anderes gelernt.“ (Herrmann 2009, 157)

Übungen und Training

Didaktische Folgerung: Um dieses Vorwissen stets präsent zu halten, sind Übungen und Training erforderlich.

■Emotionen und Kognitionen:

Denken und Emotionen

„Emotionen spielen bei dieser Musterbildung eine entscheidende Rolle. Denken und Emotionen sind untrennbar miteinander verknüpft.“ (Herrmann 2009, 158)

Verstandes- und Gefühlserziehung

Didaktische Folgerung: Die Schulpädagogik ist vor allem eine Verstandespädagogik. In den pädagogischen Angeboten bzw. Lernangeboten wird besonders der Verstand angesprochen. Dahinter steht das Menschenbild, dass der Mensch vor allen anderen Lebewesen sich durch den Verstand unterscheidet. Deshalb stellt Kant die Maxime auf: Bediene dich deines Verstandes! Das Gefühl ist eher hinderlich für das Lernen, deshalb wurde es weitestgehend aus den Lehrplänen ausgeklammert. Die Hirnforschung wie die Emotionsforschung zeigen demgegenüber auf, dass Emotionen und Kognitionen zwei gleichwertige Systeme sind. Einige Forscher gehen sogar davon aus, dass das limbische System, zuständig für Emotionen, sogar das beherrschende System ist. In Bezug auf das Lernen kann man die Forderung aufstellen: Verstandes- und Gefühlserziehung bzw. -förderung ist notwendig.

■Bedeutungszuschreibung und Gedächtnis:

Gedächtnis

„Das limbische System bildet das zentrale Bewertungssystem unseres Gedächtnisses. Dieses System entscheidet insofern grundlegend über den Lernerfolg, als es bei jeder Lernsituation fragt: Was spricht dafür, dass Hinhören, Lernen, Üben usw. tatsächlich lohnen? Kommt das System zu einem positiven Ergebnis, wird mithilfe der Neuromodulatoren neues Wissen erzeugt und mit oder zu neuen Bedeutungszusammenhängen verknüpft.“ (Herrmann 2009, 160)

Erzählen des Verstandenen

Didaktische Folgerung: Die Neugier des Gehirns wird unterstützt, wenn die Lerngegenstände einen Sitz im Leben haben. Werden diese durch Erzählen des Verstandenen einem anderen gegenüber wiedergegeben, ist das die wirksamste Gedächtnishilfe.

Erfolgserlebnisse

■Erfolgserlebnisse und Motivation: Förderlich für effektives Lernen ist, wenn der Lerner eine leichte Leistungsspannung fühlt, Erfolgserlebnisse ermöglicht werden, wobei die erreichten Erfolge möglichst ein wenig über den erwarteten liegen sollten.

„Bekommt das Gehirn diese Botschaft nicht, unterbleibt die Produktion dieser neuromodulatorischen Substanzen, d.h. das Gehirn stellt seine Lerntätigkeit ein. Auch dies ist einerseits wieder ein Hinweis auf die große Störanfälligkeit von Lernprozessen im Gehirn. Dieselbe Situation entsteht im Gehirn bei Versagensangst oder zu großem Stress.“ (Herrmann 2009, 161)

Didaktische Folgerung: Gelernt wird, wenn eine Herausforderung gegeben ist, die so sein muss, dass sie bewältigt werden kann.

Motivation

„Das Signal ans und im Gehirn muss lauten: das Resultat der Bearbeitung dieser Herausforderung, die Bewältigung der gestellten Aufgabe, die Lösung des Problems gelang besser als gedacht. […] Gelernt wird nicht einfach alles, was auf uns einstürmt, sondern das, was positive Konsequenzen hat. […] Lernerfolg stabilisiert die Neugier, das Interesse daran, immer wieder Neues zu lernen: diesen Vorgang können wir auch Motivation nennen. […] Motivation ist Lust auf Lust.“ (Herrmann 2009, 161f.)

Diese Überlegungen können in die Regel zusammengefasst werden: Unterforderung wie Überforderung motivieren nicht. Die Lernschritte sollten so dosiert angeboten werden, dass es reizvoll ist, sich damit auseinander zu setzen. In dem Reiz sollte einerseits Bekanntes und andererseits Neues, Überraschendes enthalten sein.

■Kommunikatives Handeln und Leistungsverstärkung:

Sozialverhalten

„Der Schüler ist also weder nur Intelligenz und auch nicht nur Gehirn, denn damit dieses optimal funktionieren kann, sind sozial-emotionale Lebensbedingungen wichtig. Der bedeutsamste Verstärker dieses Lernens ist gemeinschaftliches Handeln bzw. Handeln in Gemeinschaftsgruppen: Das Gehirn ist auf Sozialverhalten hin ausgerichtet.“ (Herrmann 2009, 162)

Didaktische Folgerung: Das Gehirn ist ein Sozialgehirn (Sozialorgan). Es bedarf des Miteinanders, der Kommunikation. Leben und Lernen in Gruppen führt zu einem Zugewinn an Wohlbefinden und Leistungsbereitschaft bzw. -fähigkeit. Wichtig und Grundlage für effektives Lernen ist die Beziehung zu den Mitmenschen.

3.2.4 Zusammenfassung: Anregung für eine Didaktik Sozialer Arbeit


Die Hirnforschung hat sehr viele Anregungen für eine Pädagogik und Didaktik geliefert. Welche Aspekte würden Sie für eine Didaktik Sozialer Arbeit besonders hervorheben?

Aus den Überlegungen der Hirnforschung lassen sich zusammenfassend für eine Didaktik Sozialer Arbeit folgende Anregungen ableiten:

1.Für die in sozialen Arbeitsfeldern Tätigen ist von Bedeutung:

–Wissen kann man nur indirekt durch Lernarrangements beeinflussen.

–Das Gehirn lernt eigenständig.

–Entscheidender Faktor für das Lernen ist erstens die Persönlichkeit, Ausstrahlung des Lehrenden, sein Vorbild, sein Engagement, seine Begeisterung und Kreativität.

–Der zweite Faktor ist die Beziehung zwischen Lehrendem und Lerner. Primär geht es nicht um Inhalte, sondern um Beziehungen, die das Lernen tiefgreifend beeinflussen (Beziehungspädagogik).

–Lehrende müssen motivieren, anderen am Lernen Spaß vermitteln (Spaßpädagogik.) Lehrende müssen sich in Lernende hineinversetzen und ihren Lernstand und ihr Interesse eruieren, sie abholen, wo sie stehen, und ihnen helfen, sich selbst zu helfen (Empathie).

2.Für den Lerner ist von Bedeutung:

–Das Gehirn will lernen, ist süchtig auf Lernen, kann nicht überfordert werden.

–Lernangebote sollten nicht weltfremd, sondern alltagstauglich sein.

–Lernende sollten an den Lerninhalten aktiv beteiligt werden.

–Lob, Anerkennung und Wertschätzung fördern das Lernen, Entmutigung führt zu Motivationsverlust und Vermeidungsverhalten.

Beziehungsdidaktik

3.Beziehungsdidaktik: Der Konstruktivismus und die Neurobiologie haben die Wichtigkeit der Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden herausgearbeitet. Sie fordern eine Beziehungspädagogik. Reinhold Miller hat diese Anregung aufgegriffen und eine Beziehungsdidaktik entwickelt, die auch einer Didaktik Sozialer Arbeit wichtige Impulse geben kann. Er ist der Frage nachgegangen, „ob und wieweit Aspekte einer Beziehungsdidaktik/ des Beziehungslernens im Blickfeld der Pädagogik und Didaktik des 20. Jahrhunderts standen bzw. stehen.“ (Miller 2011, 28)

Das Ergebnis seiner Forschungen ist: „Es gibt für jedes Unterrichtsfach eine eigene Fachdidaktik, aber es gibt bisher in der pädagogischen Landschaft keine eigene Beziehungsdidaktik. […] Die Beziehungsebene ist in der Didaktik bisher wie ein Stiefkind behandelt worden. […] Eine Beziehungsdidaktik ist keine bloße Ergänzung zur bisher vorherrschenden Allgemein- und Fachdidaktik, sondern eine ebenbürtige Partnerin in Schule und Unterricht“ (Miller 2011, 7). Ziel seiner Beziehungsdidaktik ist es, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Einzelne ihr Selbst stärken und ihre Beziehung untereinander entwicklungsfördernd, belastungsarm, stressreduziert und sozialverträglich (= gewaltfrei) gestalten können und zu demokratischen und humanen Einstellungen und Verhaltensweisen kommen. (Miller 2011, 48)


Becker, N. (2006): Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Klinkhardt, Heilbrunn

Herrmann, U. (Hrsg.) (2009): Neurodidaktik. 2., erweiterte Aufl. Beltz, Weinheim und Basel

Lindemann, H. (2006): Konstruktivismus und Pädagogik. Reinhardt, München

Miller, R. (2011): Beziehungsdidaktik. 5., überarbeitete Aufl. Beltz, Weinheim und Basel

Notar, F. (20014): Ziele und Perspektiven einer Neurodidaktik hinsichtlich der Fortentwicklung schulischen Unterrichts. GRIN Verlag, Stuttgart

Peterßen, W. H. (2001): Lehrbuch Allgemeine Didaktik. 6., völlig veränderte Aufl. Oldenbourg, München

Reich, K. (2012): Konstruktivistische Didaktik. 5., erweiterte Aufl. Beltz, Weinheim und Basel

Siebert, H. (2003): Pädagogischer Konstruktivismus. 2. Aufl. Luchterhand, Neuwied


1.Frage: Gibt es eine einheitliche Theorie des Konstruktivismus?

2.Frage: Wie lautet die Grundannahme des Konstruktivismus?

3.Frage: Welche Position innerhalb des Konstruktivismus vertreten Reich und Lindemann?

4.Frage: Welche wichtige Unterscheidung muss man nach Ansicht des Konstruktivismus vornehmen?

5.Frage: Welches pädagogische Ziel verfolgt eine konstruktivistische Pädagogik nach Reich?

6.Frage: Was kritisiert Reich an der etablierten Schulpädagogik?

7.Frage: Was versteht Reich unter einer Beziehungsdidaktik?

8.Frage: Welche zehn Grundsätze einer Beziehungsdidaktik nennt Reich?

9.Frage: Welche Empfehlungen gibt Reich den PädagogInnen?

10.Frage: Welche sechs Faktoren enthält das Reflexionsschema von Lindemann?

11.Frage: Kann man überhaupt von einer Neurodidaktik sprechen?

12.Frage: In diesem Buch wird in Bezug auf eine Neurodidaktik vor allem von welchen Autoren ausgegangen?

13.Frage: Welche neuen Verfahren haben der Hirnforschung zu grundlegenden Erkenntnissen geführt?

14.Frage: Welche Funktionen des Gehirns sind in Bezug auf eine Pädagogik wichtig?

15.Frage: Welche Funktionen haben die Spiegelneuronen?

16.Frage: Was versteht man darunter, dass der Lehrende in Beziehung denken muss?

17.Frage: Wie begründet die neurobiologische Forschung Motivation?

18.Frage: Welche Bedeutung haben Gefühle?

19.Frage: Welche Bedeutung spielt das Vertrauen für die Entwicklung einer Person?

20.Frage: Welche Bedeutung hat das Vorbild beim Lernen?

21.Frage: Welche zwölf Forderungen sind für eine Neuropädagogik grundlegend?

22.Frage: Will die Hirnforschung Anleitung für die pädagogische/soziale Praxis geben?

23.Frage: Sind Ergebnisse der Hirnforschung auch für eine Didaktik Sozialer Arbeit relevant?

24.Frage: In der Neurodidaktik wird verstärkt auf die Bedeutung der Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden hingewiesen. Gibt es so etwas wie eine Beziehungsdidaktik?

Didaktik /Methodik Sozialer Arbeit

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