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Michel

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Die Landstrasse bog nach links ab, führte über eine Brücke und lief dann auf das Dorf Serritslev zu, das dicht vor Kopenhagen lag. Die Gräben waren mit dunklem Gras und gelben Blumen gesäumt, über den Feldern ruhte hier und da fahles Licht, Blumennebel in der Dämmerung. Die Sonne war untergegangen, der Himmel wölbte sich in kühler Klarheit, wolkenlos, aber ohne Sterne.

Eine Heufuhre kam vom Lande und fuhr in das Dorf ein, langsam und auf dem schlechten Wege schwankend. Wie sie so in der Dämmerung durch die enge Dorfstrasse schlich, glich sie einem grossen, kurzbeinigen, zottigen Tier, das vorwärts stapfte und den Erdboden beschnüffelte, in Betrachtung versunken.

Die Fuhre hielt vor dem Serritslever Krug; die schwitzenden Pferde wandten die Köpfe und kauten auf dem Zaum, das Stillstehen behagte ihnen. Der Kutscher schwang sich auf die Deichsel herab, sprang zur Erde und befestigte die Zügel. Darauf wandte er sich dem Krug zu, schnäuzte sich die Nase und rief:

„He, ist jemand da?“

Was — es schimmerte hell hinter den Fenstern, hatte man drinnen Licht angezündet? Im selben Augenblick erschien ein Mädchen in der Tür. Der Kutscher bestellte einen Schnaps. Während er darauf wartete, wurde es im Heu lebendig, zwei lange Beine schoben sich vorsichtig heraus und suchten die Deichsel, die Gestalt lag auf dem Bauch und grunzte beschwerlich. Schliesslich stand sie auf der Erde und schüttelte sich — ein langer, knochiger Mensch mit einer Mütze auf dem Kopf.

„Prost!“ sagte er. Der Kutscher goss den roten Schnaps hinunter und hustete tüchtig. Ob er gleich weiter wolle? Sonst könnten sie ja mal im Wirtshaus einen Schnaps auf gute Weggenossenschaft miteinander trinken.

Als sie ins Licht traten, blieb aber der Kutscher vor Ehrerbietung in der Tür stehen; auch der andere verlor seine Sicherheit. Mitten in der Stube sassen vier vornehme Landsknechte von der sächsischen Garde, die kürzlich in Kopenhagen eingezogen war. Sie strahlten vor Kleiderpracht, ihre roten Puffärmel, Federn und Bärte fingen den Blick wie ein Freudenfeuer. Schwerter und Speere, gediegene Waffen, standen gegen Tisch und Bänke gelehnt. Ein jeder konnte sehen, dass die Lederstrippen einen Fall hatten, der von geübter Hantierung herrührte. Alle vier wandten die Köpfe, drehten sich aber gleich wieder um und setzten ihre Unterhaltung fort.

Das Mädchen brachte zwei Krüge Bier und stellte ein Licht auf den kleinen Tisch neben der Tür. Kaum war sie draussen, als einer der Landsknechte am anderen Tisch sich aufrichtete und in lautes Gelächter ausbrach.

„Seht den da mit der Mütze — ei, ist der spassig!“ Er sprach deutsch.

Die andern wandten sich gutmütig um, mussten aber auch lachen. Der Lange stand mit Krummen Knien da und trank, wobei seine spitze Rase über den Krug ragte. Er bot wahrlich einen komischen Anblick. Nachdem er getrunken hatte, setzte er sich gelassen nieder, das Licht fiel ihm in die Augen, er blinzelte zum Tisch hinüber, halb beleidigt, halb gutmütig spöttisch wie ein Mann, der Lebensphilosophie besitzt.

Da erhob sich der eine der Burschen, trat einige Schritte vor und begann höflich in seinem Deutsch:

„Unser Lachen war nicht bös gemeint — wollen Sie uns nicht die Ehre antun und ein Glas Wein mit uns trinken?“

„Danke“, sagte der Lange und trat mit vielen Kratzfüssen an den Tisch heran. Bevor er über die Bank stieg und sich setzte, machte er jedem einzelnen eine Verbeugung und nannte seinen Namen, Michel Thögersen, Studiosus. Dann fuhr er sich verlegen durchs Haar und rieb die Handflächen gegen seine rauhen Backen. Er hörte, wie vier Namen genannt wurden, wovon der eine dänisch klang, und sah ein Glas blutroten Weines vor sich auf dem Tisch glühen. Und prost, prost!

Ihr Herren! Michel Thögersen tat mit Anstand Bescheid und richtete seinen langen, dünnen Körper höher auf, während der Wein ihm die Kehle hinabfloss. Er liess seinen Blick hastig über den Tisch schweifen und musterte den einen der Herren, den jüngsten, der seinen Kopf in die Hand stützte. Es war eine weisse, feste Hand ohne sichtbare Adern oder Knöchel, die Finger gruben sich in das hellbraune Haar. Das Gesicht war länglich — der Ausdruck rief plötzlich die Erinnerung an einen Seiltänzer in Michel wach, den er mal auf einem Jahrmarkt gesehen hatte, einen jungen Luftspringer, der einsam in einem Winkel sass und sich nicht an der Vorstellung beteiligte — krank wahrscheinlich. Michel erinnerte sich des jungen leidenden Gesichts — gerade solche Augen hatte der da. Ausserdem aber meinte Michel ihn zu kennen. Wer war er, wo hatte er ihn schon gesehen? Er sah aus wie ein Edelmann.

Von neuem stand ein gefülltes Glas vor Michel Thögersen. Er tat voll Sittsamkeit Bescheid, während er von angestrengtem Nachdenken zerstreut und durch den Anblick des jungen Menschen auf der anderen Seite des Tisches ganz umnebelt war. Der braune Kopf war wie von Mystik umflossen; jetzt wandte der junge Mensch ihm seine Brust ganz zu, und Michel sah, dass die Arme ungewöhnlich weit auseinauseinander sassen; er war auffallend gut gewachsen; weshalb mochte er Kummer haben? Seine Züge eigneten sich besser zur Heiterkeit.

Es wurde lebhaft geschwatzt, die vier Soldaten begegneten Michel mit Zuvorkommenheit. Uno Michel fühlte sich diesen Deutschen gegenüber voll Zuversicht, denn sie konnten ja nicht wissen, dass man ihn in der Stadt „Storch“ nannte. Michel radebrechte sehr gelassen Deutsch, wurde aber immer wieder zerstreut, weil er es doch nicht lassen konnte, an seinen Spitznamen zu denken… andererseits aber wussten diese Deutschen auch nicht, dass er in einem engeren Kreis als Verfasser von lateinischen Oden und Distichen bekannt war... warum sagte der junge Mann dort nichts?

Otte Iversen! Da fiel der Name. Er war es also wirklich. Im selben Augenblick erinnerte Michel sich eines grauen, baufälligen Tores, einer Mauer und eines Turmes in seiner Heimat in Jütland — und er sah sich selbst mager und schüchtern davor stehen. Es war lange her. Das also war der Junker Otte, den er als schmächtigen Knaben einen Augenblick im Burghof gesehen hatte und nie wieder vergessen konnte. Er hatte zwischen einem Rudel Hunde gestanden, mit einem zerzausten Falken auf dem Daumen. Und nun sass er hier, grossgewachsen, schlank wie ein Page.

Die Landsknechte kicherten. Michel nahm sich zusammen und trank einen Schluck.

Der Fuhrmann erschien in der Tür. „Ich fahr weiter“, sagte er, stellte einen Sack und einen kleinen Korb mit Eiern neben der Tür auf den Fussboden und verschwand. Das war Michels Eigentum, die Ausbeute seines Bettelausflugs aufs Land — da stand seine Schmach ganz nackt an der Tür; er kehrte ihr verwirrt den Rücken.

Die deutschen Soldaten aber lachten und bekamen einen guten Einfall — Eier waren nie zu verachten. Michel gab ihnen die Eier, froh und doch gedemütigt, und sie wurden alle roh getrunken. Otte Iversen wollte keine und sagte noch immer nichts.

Michel sass heiss und verlegen und freundlich auf der Bank, der leckere Wein befreite ihn von seiner Schwere, aber trotzdem fühlte er sich missgestimmt. Sein Herz flog den sorglosen Herren zu, und dennoch verliess ihn nicht die Angst, dass er ihnen ausgeliefert sei — seine Stimmung begann in Rhythmen zu schaukeln und zu schwimmen. Er blickte verstohlen zu Junker Otte hinüber, verliebt, misstrauisch, kriechend... ob er ihn wohl erkannte? — Ach, wenn er ihn nur nicht erkennen würde!

Der eine der deutschen Kriegsknechte hatte eine Narbe auf der Oberlippe; sie wurde durch den Bart nur halb verdeckt und verursachte, dass er lispelte. Michel Thögersen hörte den losen Reden zu und amüsierte sich wehmütig — ihm wurde heiss bei all dem, was er zu hören bekam. Und während Wein und Wohlbehagen seinen Sinn lösten, verhärtete er sich inwendig, fühlte eine rauhe Kälte in sich aufsteigen, hielt sie aber nieder und sammelte sich.

Die drei Deutschen trieben sich beim Schenktisch herum. Michel Thögersen und Otte Iversen blieben allein am Tisch sitzen. Keiner von ihnen sagte etwas, Michel versuchte in sich zu gehen. Er blickte in die Dunkelheit zwischen Tisch und Bank hinunter und empfand eine bittere Einsamkeit. Aber er wollte sich zufrieden geben, seufzte, zog seine Storchbeine an sich, wischte sich den Schweiss von der Stirn und fasste sich. Otte Iversen drehte seinen Becher zwischen den Händen; er sah noch immer aus, als ob er krank sei.

Als die Deutschen mit neuentdeckten Getränken zurückkamen, hatte Michel Thögersen sich gesammelt, trank verständig und ohne Unruhe. Jetzt kneipten sie alle darauflos und dachten an nichts weiter. Otte Iversen leerte seinen Becher, sooft er gefüllt wurde, und veränderte sich nicht im geringsten dabei. Clas, der Mann mit der Narbe in der Lippe, stimmte ein Lied an, das recht seltsam klang.

Michel Thögersen nahm eines der gewaltigen Zweihandschwerter und wog es prüfend in der Hand — sie zeigten ihm die Griffe. Jedesmal, wenn die scharfe Spitze sich auf ihn richtete, zog es hässlich wie ein eiskalter Wind durch sein Rückgrat — das wunderte ihn, er fürchtete sich doch sonst nicht vorm Messer.

Und Clas sang:

Ei werd’ ich dann erschossen,

Erschossen auf weiter Heid’

Man trägt mich auf langen Spiessen,

Ein Grab ist mir bereit;

So schlägt man mir den Pumerlein Pum,

Das ist mir neunmal lieber

Denn aller Pfaffen Gebrumm.

Die Hälfte der Worte rann ihm in den Bart. Man wartete mit Kriegsgeschichten auf, von Gefechten hier und dort — hui, hui — von Sieg und Todesgefahren und…

„Heinrich, erinnerst du dich noch der blonden Leonore?“ schrie Glas ausgelassen. Ja, Heinrich erinnerte sich ihrer noch. Die Geschichte sprudelte ihm aus dem Munde, Clas und Samuel wälzten sich vor Lachen.

Michel Thögersen aber schwieg und wand sich unter diesem Schwall von Offenherzigkeit, er schielte zu Otto Iversen hinüber — und er allein bemerkte ein Lächeln auf dem jungen, hochmütigen Gesicht, einen kaum sichtbaren Zug um die Lippen, als habe Junker Otte einen widerlichen Geruch gespürt.

Michel wurde das Atmen schwer, er strich sich wieder und wieder über die Stirn.

Heinrich aber erzählte drauflos. Otte Iversen wandte sich vom Tisch ab und schlug die Beine übereinander. Als die Erzählung schliesslich beendigt war, wurde es ganz still, als hätte man seine Verstimmtheit gespürt. Vielleicht merkte Otte Iversen, dass er die Pause verschuldet hatte — er drehte sich zum Tisch um, als wolle er seine Meinung vertreten, und blickte dem Erzähler fest ins Auge.

Heinrich sah ganz betroffen aus. Da aber fuhr Samuel mit einer anderen Geschichte dazwischen. Er war nicht jung und erzählte nicht von Liebe, sondern von einer grossen wahnsinnigen Schlachterei, die er mal mitgemacht, wobei sie den Leuten die Gedärme mit ihren Stiefelhacken aus dem Leib getreten und in ihrem eigenen Mist erstickt hatten. Die Erzählung machte die Luft in der Stube roher und frischer. Clas kam mit eifrigen Kennerfragen, Michel Thögersen musste plötzlich über seinen drolligen Sprachfehler lachen, hob die Nase und platzte los — gru, gru! Da sah Otte Iversen langsam auf und verzog widerwillig die Lippen, und schliesslich legte auch er den Kopf in den Nacken und lachte. Sein Gelächter klang wie eine Knarre. Auf einmal, Punktum, hielt er inne und sass wieder verschlossen da wie vorher.

Kurz darauf brachen sie auf, um noch vor Torschluss in die Stadt zu gelangen. Als sie ins Freie kamen, fühlte Michel Thögersen wieder den Abstand zwischen sich und den Soldaten, hielt sich bescheiden zurück und verabschiedete sich, sobald sie durchs Nordtor gekommen waren. Die Landsknechte gingen tiefer in die Stadt hinein; Michel sah ihnen eine Weile nach, bevor er sich nach links wandte, um nach Hause zu gehen.

Des Königs Fall

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