Читать книгу Des Königs Fall - Johannes V. Jensen - Страница 9
Michel sinkt
ОглавлениеDer Totengräber kam gegen Mittag auf den Kirchhof und sah den langen, regungslosen Körper im Unkraut liegen. Er glaubte, dass es ein Toter sei; als er aber herantrat, sah er, dass der Mann nur schlief, seine Augenlider zitterten unter den Sonnenstrahlen.
Michel träumte, dass er einen hohen, steilen Berg bestieg, er watete metertief im lockerem Schnee. Als er den Gipfel erreicht hatte, setzte er sich nieder, er konnte nicht mehr weiter. Über seinem Kopf sah er den Pfad, der abwärts führte; um aber dieses kleine Stück höher zu steigen, musste er einen grossen Umweg machen, ganz um den Berg herum. Er hatte es aufgegeben, sass mit beiden Beinen im Schnee vergraben; es war vorbei. Der Pfad über ihm lag in einer Wolke von Schneegestöber, der reif-feine Schnee des Berges schien bis auf den Grund aufgewühlt zu sein. Den Pfad herab schritt eine lange Reihe junger Mädchen in schwarzen Mänteln; während sie sich unter grausamer Heiterkeit durch die hochaufwirbelnden Schneewolken vorwärts kämpften, flogen ihre Mäntel hin und wieder zur Seite; ihre Körper waren ganz rot vor Kälte. Sie kamen in einer endlos langen Kette vom Berg herab, einige lächelten, andere lachten. Alle glichen Susanna, sie selbst aber war nicht darunter.
Als Michel am Nachmittag erwachte, erinnerte er sich deutlich seines Traumes und wurde davon beunruhigt. Ihm ahnte, dass er Susanna nie näherkommen würde, obgleich er fühlte, dass sie sein Schicksal sei. Mir wird es gewiss schlecht ergehen, dachte er, banger Ahnungen voll. Es hing Unglück über seinem Haupt, und doch hatte er sich selbst grössere Glückseligkeit prophezeit als den meisten Menschen. Und plötzlich überkam es ihn wie eine dunkle, traurige Vorahnung, dass er von eigener Hand sterben werde.
Nicht weit vom Galgenhügel, vor dem Westtor, lag die Schindergrube. Zur Sommerszeit stand sie meistens voller Dunst, so dass man die Äser auf dem Grunde nicht sehen konnte. An der Seite, die der Landstrasse am nächsten lag, hatte der Schinderknecht eine Stange mit dem Schädel eines Pferdes errichtet, um die Leute vorm Hineinfallen zu warnen. Michel ging dort häufig vorbei — er hielt sich am liebsten auf dem Kirchhof oder dem Richtplatz auf, weil er dort Frieden vor den Leuten fand. Nach und nach fühlte er ein seltsames Wohlwollen für den Pferdekopf dort oben auf der Stange; es war, als teilte er ein Geheimnis mit dem toten, ohnmächtigen Schädelknochen. Der Schädel war immer wie zu einem lautlosen Höllengewieher geöffnet, die Augenhöhlen glotzten, die entblössten Zahnreihen gemahnten an die ewige Hitze bei Satan — selbst der Nasenknochen sprach von knochiger Bosheit. Michel aber war im geheimen mit ihm befreundet.
Eines Abends traf Michel den Schinderknecht, der mit dem Schlachten einer verendeten Mähre beschäftigt war. Er redete ihn an, Jerck aber wollte Lange keine Notiz von ihm nehmen. Jerck war ein wortkarger Mann. Nicht weit von hier stand seine Hütte. An jenem Abend ass Michel Pferdefleisch an dem Tisch des Schinderknechtes. Seit jener Zeit schloss er sich ihm an und half ihm hin und wieder beim Geschäft. Der Schinder hatte eine gewisse verschlossene Verständigkeit in seinem Wesen; Michel betrachtete ihn als seinen Freund.
Eines Tages, als sie einem Pferd das Fell abzogen, blieb Michel lange in tiefen Gedanken sitzen mit dem Messer in der Hand.
Er erinnerte sich eines Tages in Jütland, als Anders Graas Pferd krank geworden war und nicht mehr leben konnte. Anders Graa entleibte es selbst, indem er ihm einen Armbrustbolzen zwischen die Augen schoss, und im selben Augenblick grub es die Zähne in den Schnee. Die Erde nahm zuerst den Kopf, dann kam der Körper hinterdrein, weil die Kniekehlen erschlafften. Ja... ja, die Erde weiss Bescheid, wenn sie auch mit ihrer Weisheit zurückhält. Wir alle bekommen eine Weile Urlaub, und je vergnügter wir sind, desto leichter fallen wir herein. Alle Wesen werden im Streit mit der Natur erschaffen, der Schwere zum Trotz; der Mensch hat sogar das Vorderteil von der Erde erhoben und die Schwere um ein Paar Beine betrogen. Gott mästet die Lebenden, damit ihr Fall um so schlimmer werde, denn Gott und Satan sind ein und dieselbe Person. Die Erde aber...
Michel sah ein hilfloses Neugeborenes vor sich auf der Erde liegen, er stellte es sich ganz deutlich vor: es liegt auf dem Rücken wie eine Leibesfrucht mit zusammengefalteten Gliedern. Aber es wächst vor seinen Augen — so schnell, dass er gar nicht allen Einzelheiten zu folgen vermag. Nun sehen ihn schon zwei offene, vernünftige Augen an, die Arme liegen weiss und zart an den Seiten; sieh, wie lang die Beine geworden sind. Jetzt wird das Antlitz von Sorgen beschattet, Lächeln überfliegt die Züge, süsse Wollust, Angst, Zweifel. Die Hände sind bereits gross und braun geworden. Und während Michel von den Zehen zum Kopf sieht, schwingt sich schon ein Bart wie eine dunkle Wehe um das Untergesicht, die Stirn wird vom Schmerz gerundet. Jetzt ist er schon ein reifer Mann, liegt einen Augenblick still da, mit seinem Inneren beschäftigt. Und nun ist er schon alt. Der Bart wird grau, die Haare fallen aus, die Knie ragen spitz in die Höhe. Alles sind Runzeln, das Fleisch welkt unter der Haut — und plötzlich legt sich der schwarze Rahmen um die Kläglichkeit des Alters —, ein Schimmer noch von gelben Knochen, und schon schrumpft der Deckel unter einem Regen von Erde zusammen.
Oh, die Erde holt sich die Ihren, schleudert sie zu Boden und streckt sie längelang auf ihre Scholle. Sobald du irgendwo löcherig geworden bist, sollen deine Rippen gegen die Erde klappern, und du sollst auf den Boden schlagen wie ein Pfahl, dessen Wurzel verfault ist.
…Als Anders Graa sein Pferd erschossen hatte, wurde es dem Schinder übergeben. Er schlachtete und zerlegte es draussen im Schnee, Michel stand dabei und sah zu.
Es war an einem frühen, mondklaren Frostmorgen. Der Schnee breitete sich meilenweit in dem geisterhaft schwachen Kerzenlicht im Westen, weit über die Felder blaute der Schnee, lag wie ein weisses Florgewebe über den Hügeln, niemand konnte unterscheiden, was weisser Dunst, was schneebegrabenes Land war. Es war so kalt, dass der Schnee laut unter den Füssen knirschte, die Kälte ätzte die Finger wie mit einer tröpfelnden Säure. Durch die Ebene aber kroch offen und schwarz der Bach, unheilbar lebendig zwischen den erfrorenen Feldern.
Der Schinder zerrte Anders Graas Pferd auf den Rücken und fing an, es zu öffnen. Das Blut bildete eine grosse, braune Pfütze, die sich in den Schnee frass, der hellrote Schaum gefror bald zu Eis. Mit jedem Messerschnitt quoll eine Farbe aus dem dampfenden Pferdekörper, das Fleisch spielte in wunderbar blauen und roten Tönen. Und die Fasern fuhren fort, sich zu bewegen, krampften sich zusammen und bebten in der Frostluft; die durchschnittenen Muskeln Krümmten sich wie Würmer im Feuer. Die Lange Luftröhre kam an den Tag, die Backenzähne lagen offen da wie vier Zeilen mystischer Buchstaben. Eine hellrote Haut kam zum Vorschein, die mit zahlreichen blauen Adern gemustert war, wie ein flussreiches Land aus der Vogelperspektive. Als die Brust geöffnet wurde, bot sich eine Höhle dar; grosse weissblaue Häute hingen herab, braunes und schwarzes Blut floss aus kleinen Löchern in den geäderten Wänden, das gelbe Fett hing in länglichen und tropfenden Bündeln. Die Leber war brauner als irgend etwas in der Welt, die Milz blau und schimmelig wie die Nacht und die Milchstrasse. Und da waren noch viele reine Farben, blaue und grüne Eingeweide, ziegelsteinrote und ockergelbe Teile.
Alle üppigen, rohen Farben des Orients. Gelb wie der Sand Ägyptens, türkisblau wie der Himmel über dem Euphrat und Tigris; alle schamlosen Farben Indiens und des Orients blühten mitten im Schnee empor, unter dem schmutzigen Messer des Schinders.