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Volkspolitik und Nationalstereotyp
ОглавлениеSchon bald nach Riehls Tod im Jahr 1897 begannen Autoren, einzelne politische und nationale Aspekte seines Denkens und Schreibens in meist rühmender Absicht zu thematisieren. Dabei überwog etwa in den 1920er-Jahren die hagiographische Verklärung als „deutscher Vollmensch“, während der Zeit der NS-Herrschaft geriet er gar zum „Seher, Künder und […] Kenner deutschesten Wesens“.8 Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges lobte manche Veröffentlichung noch Riehls „gesunde und würzige Volkverbundenheit“9, bevor in den 1970er-Jahren eine Neubewertung seiner bisherigen empirischen und methodischen Vorbildfunktion erfolgte. In diesem Zusammenhang unterzogen Autoren zunehmend auch die konservative und nationalistische Grundierung seiner publizistischen wie wissenschaftlichen Arbeiten einer grundlegenden Kritik.10 Allerdings wurde nicht immer präzise genug zwischen den originären Schriften und ihrer späteren Rezeption unterschieden.11
Eine wesentliche Rolle spielte in Riehls Werk das Denken in den Grundkategorien von Stabilität und Tradition, gebündelt im Denkbild des ständisch geordneten Volkes als positiver Gegenbegriff zur führungslosen Masse.12 Dabei zeigt sich ein bestimmender Einfluss Arndts: Dessen Bonner Vorlesungen zur vergleichenden Völkergeschichte hatten 1843 bei dem jungen Studenten Riehl laut seinen späteren Erinnerungen das unstillbare Bedürfnis geweckt, „die ganze deutsche Nation zu erforschen und nach dem Leben zu malen“13. Durchgängig eingeschrieben war Riehls Texten der rote Faden einer naturgeschichtlichen Argumentation, die angesichts eines raschen Wandels vom Agrar- zum Industrieland ein Mindestmaß an Beständigkeit gewährleisten sollte.14 Wesentliche Zeitkontexte waren die Revolution von 1848/1849, das Aufkommen liberaler und sozialistischer Bewegungen sowie die zunehmende Verstädterung. Eine Rückbesinnung auf hergebrachte familiäre, gesellschaftliche und politische Werte sollte eine Ordnung erhalten helfen, die Riehl von der „Fäulniß der Civilisation“15 bedroht sah. Seine eigenen volkskundlichen Anstrengungen verstand er explizit mehr als aufrüttelnde „Sittenpredigt“16 denn als praxisferne akademische Übung. Die interessengeleitete politische Anlage seiner Veröffentlichungen räumte er selbst ganz offen ein, denn „indem wir die Vergangenheit suchen, bleibt doch die Gegenwart unser letztes Ziel“17.
Als wichtigste Säulen der Tradition galten Riehl die etablierten „Mächte des socialen Beharrens“18, unter die er neben dem Adel vor allem den Agrarstand fasste – weswegen er wie schon Arndt die Bauernbefreiung unterstützte. Demgegenüber fungierten das Bürgertum und das Proletariat als „Mächte der socialen Bewegung“19, die ob ihrer potenziell gesellschaftssprengenden Wirkung strikt zu kontrollieren seien. Dies war für ihn nur im Rahmen monarchischer Herrschaft und ständischer Gliederung erfolgreich zu bewältigen, während er in Parlamentarismus und Parteienwesen den inneren Zusammenhalt spaltende Tendenzen erblickte.20 Eine Stärkung der beharrenden Elemente sollte die Prozesse der Industrialisierung und Verstädterung zumindest verlangsamen, um so die anderen beiden Stände moralisch bessern zu können.
Anders als die politischen und sozialen Umbrüche bejahte Riehl die ökonomischen und technischen Entwicklungen der Zeit durchaus, wenngleich nur in einem nicht die Stabilität gefährdenden Umfang.21 Sein wirtschaftliches Ideal war nicht die Rückkehr zu einem vorindustriell verklärten Gemeinwesen von Bauern und Handwerkern, sondern eine ausgewogene Mischung aus starker Landwirtschaft und maßvoller Industrie. Auf diese Weise sollten die wahrgenommenen Auswüchse einer absehbaren oder schon beginnenden kapitalistischen Entwicklung beherrschbar bleiben, um den „heimath- und besitzlosen Aposteln des Umsturzes“22 ihr politisches Handwerk zu legen. Als Angehörige dieser revolutionären Schicht benannte er indes nicht nur Arbeiter und Tagelöhner, sondern ebenso „Geistesproletarier“23 wie brotlose Künstler, Lehrer und Schriftsteller.
Entscheidend für Riehls politische Sozialisation war im Gegensatz zu den bisher untersuchten Akteuren generationsbedingt nicht mehr die Französische Revolution von 1789, sondern die Ereignisse und Folgen der Märzrevolution von 1848.24 Einigen der damals erhobenen Forderungen – etwa nach begrenzter Pressefreiheit und Ständevertretung – hatte er zunächst durchaus wohlwollend gegenübergestanden und sich in seiner Heimat Hessen-Nassau journalistisch mit ihnen auseinandergesetzt. Allerdings lehnte er als ausgesprochener Anhänger der Ungleichheit das allgemeine und gleiche Wahlrecht – insbesondere für Frauen – prinzipiell ab, stattdessen wollte er Familienstand und Grundbesitz zum Kriterium für dessen Gewährung machen.
Scharf attackierte Riehl die Vertreter republikanischer Forderungen als „Demagogen“ und „Wühler“, weil sie den politisch unmündigen Bauernstand gegen seine eigentlichen Interessen aufgewiegelt hätten.25 Angesichts der Erfahrung revolutionärer und teils gewaltsamer Aktivitäten auch der ungebildeten Schichten entwickelte er sich zusehends zu einem Befürworter eines autoritär-konstitutionellen Nationalstaates. Mit einigem zeitlichen Abstand behauptete Riehl zur Rechtfertigung, er habe „eher den Liberalismus dem Deutschthum als das Deutschthum dem Liberalismus opfern“26 wollen. Die von ihm bekämpften deutschen Liberalen bezeichnete er in Verknüpfung politischer und ethnischer Kategorien als „im Kerne französisch“27, sodass sie als innere Feinde und Vaterlandsverräter erscheinen mussten.
Retrospektiv und sicherlich zugespitzt schrieb Riehl in einem autobiographischen Text davon, er sei im Jahr 1848 endgültig „national und zugleich conservativ geworden im natürlichen Gegenschlag zu dem anderen Extrem“28. Er verstand seine Rolle nun zunehmend als ein über allen Parteien und Parteiungen stehender Mahner. In publizistischen wie wissenschaftlichen Texten befürwortete er nur behutsame Reformen, um den erhaltenswerten Teil der Überlieferung nicht zu zerstören. Gleichermaßen kritisierte er radikales Gleichheitsdenken und bürokratischen Absolutismus, denen er sein patriarchalisches Gesellschaftsmodell einer ausbalancierten und geschichteten Ständeordnung als Vorbild gegenüberstellte.29
Im Einklang mit der politischen Romantik postulierte Riehl die Wichtigkeit von Religion und Tradition sowie die Ideale eines organischen Volkscharakters und eines ständischen Staatsaufbaus. Allerdings war ihm ähnlich wie den Brüdern Grimm daran gelegen, die oft vagen Volksgeist-Vorstellungen in ihren jeweiligen Ausprägungen und Erscheinungsformen wissenschaftlicher zu fassen.30 Stärker als viele romantisch geprägte Autoren in ihrer interessengeleiteten Mittelalterverehrung betonte er die Notwendigkeit, aus solchen Erkenntnissen konkrete Reformvorschläge für die (sozial)politische Praxis zu entwickeln.31 Geschichte bedeutete für Riehl primär das dynamische Wachsen, Gedeihen und Vergehen von Völkern, die er als kollektive Gruppenorganismen im Zyklus der Natur verstand.
Damit räumte er auch jenen Faktoren eine historische Rolle ein, die, ungeachtet seiner Sehnsucht nach der vermeintlichen Stabilität vergangener Zeitalter, Veränderungen notwendig machen konnten. Gesellschaftlichen Wandel hielt er unter gewissen Umständen für unterstützenswert, wenn er für organische Ziele und unter berufener Führung des Volkes erfolgte. Genau aus diesem Grunde lehnte Riehl Zeit seines Lebens sozialistische und kommunistische Gedanken wie Aktivitäten entschieden ab, da sie für ihn ahistorisch und widernatürlich, gleichmacherisch und religionsfeindlich waren.32 Dem stellte er vermeintliche Konstanten wie einen unvergänglichen Waldcharakter der Deutschen entgegen.
Wesentlich für Riehls Denken war die Kategorie des Nationalen vor allem in normativen Gegensätzen zwischen Eigenem und Anderem, die zur identitätsstiftenden Abgrenzung gegenüber europäischen Konkurrenznationen wie England und Frankreich dienten.33 Schon für die Zeit der Frühgeschichte kontrastierte er das „entartete, übercivilisierte römische Altherthum“ mit dem gleichsam naturwüchsigen „germanischen Freiheitssinne“, um den französisch-deutschen Konflikt in die Vergangenheit hinein zurückzuführen.34 Die taciteische Germania bezeichnete er als „Weissagung auf die moderne freie und wissenschaftliche Volkskunde“35, die für ihn vor allem in der Verknüpfung von Ethnographie und Geographie vorbildlich war. Auch zur Charakterisierung des eigenen Kollektivs berief Riehl sich an mehreren Stellen auf diese Schrift, bezogen auf eine germanische Hochschätzung von Ehe und Familie oder auf einen Vorrang der Holzbauweise gegenüber steinernen Kirchen.36
Allerdings widerstand er – anders als etwa Arndt und viele zeitgenössische Denker – bei seiner Tacitus-Rezeption überwiegend der Versuchung, allzu bruchlose Kulturkontinuitäten anzunehmen.37 So leitete Riehl das deutsche Volksbrauchtum nicht direkt aus einer idealisierten germanischen Vorzeit ab, weshalb zum Beispiel die Figur Hermann der Cherusker und das Ereignis der Schlacht im Teutoburger Wald unbeachtet blieben. Auch äußerte er sich vergleichsweise selten zum national brisanten Thema der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen im Ausland, plädierte aber nach der Reichseinigung durchaus für eine Eindeutschung des Elsass.38 Riehls organische Nationsvorstellung sollte vorrangig im Inneren integrierende und harmonisierende Wirkung entfalten, statt expansiv nach außen zu wirken.
Im Hinblick auf kollektive Identität lässt sich ähnlich wie bei Eichendorff, Arndt oder den Brüdern Grimm eine Entwicklung von der regionalen zur nationalen Ebene ausmachen. Der gebürtige Nassauer und spätere bayerische Untertan Riehl war lange Zeit ein Kritiker von preußischem Herrschaftsstreben und Zentralismus. Er favorisierte vielmehr einen föderalen Zusammenschluss unter Führung der Staaten des dritten Deutschland jenseits von Preußen und Österreich, für den er eine Gliederung nach Volksstämmen statt nach Dynastien bevorzugte.39 Ebenso sprach er sich mit großdeutscher Inspiration für einen Einschluss der deutschsprachigen Gebiete Österreichs aus, argumentierte aber weniger sprach- und kulturnationalistisch als viele seiner Zeitgenossen. Nach der Reichsgründung von 1870/1871 arrangierte sich Riehl mit dem kleindeutschen und preußisch dominierten Staatsgebilde ohne die österreichischen Territorien, nicht zuletzt, weil er darin seine Vision einer befriedenden und stabilisierenden Sozialpolitik verwirklicht sah.40
Bestimmende Grundlage für Riehls Nationsverständnis war seine Vorstellung vom Volk als eines durch „Stamm, Sprache, Sitte und Siedlung verbundenen natürlichen Gliedes“41. Gemäß dieser Definition entlang der „vier großen S“42 konnten Völker also durchaus ohne einen zugehörigen Nationalstaat oder über bestehende territoriale Grenzen hinaus existieren. Die idealiter anzustrebende Staatsform müsse gleichwohl „die historisch fest gewurzelte, die ächt nationale“43 sein, in der Bevölkerung und Territorium wesentlich deckungsgleich waren. Eine starke inhaltliche Rezeption des arndtschen Denkens zeigt sich vor allem in der Bestimmung der Völker als kollektive Persönlichkeiten mit je eigenem Charakter, die Riehl aber noch deutlich politischer verstand.44
Wie Arndt sah Riehl innerhalb eines Volkes durchaus regionale und ständische Binnenunterschiede, die jedoch nie größer sein könnten als die jeweiligen Differenzen zwischen verschiedenen Nationen.45 So vertrat der ehemalige Student der evangelischen Theologie Riehl etwa die These, der zu erhaltende Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus sei „organisch hervorgewachsen aus der Natur von Land und Leuten“46 und die Intensität des Glaubens wichtiger als die jeweilige Konfession. Daneben hob er in seinen Arbeiten vielfach die erhaltenswerten Spezifika beispielsweise der Rheinpfälzer hervor oder unterschied kulturell zwischen den nördlichen und den südlichen Gebieten des deutschsprachigen Raumes. Den spezifischen Stammescharakteristika seiner neuen Heimat Bayern widmete sich ein fünfbändiges Sammelwerk zur Landes- und Volkskunde, als dessen Herausgeber er fungierte. Dieser Regionalfokus war ihm auch in seiner Funktion als Direktor des Bayerischen Nationalmuseums ein wichtiges Anliegen, das sich vor allem in der dort verfolgten Sammlungspolitik niederschlug.
Auf Basis eines solchen Differenzdenkens argumentierte Riehl gegen einen gleichmacherischen französischen Staatszentralismus, der sowohl vor als auch nach der Revolution von 1789 interne Abstufungen gewaltsam eingeebnet habe. So war für ihn die Periode der napoleonischen Vorherrschaft „die Zeit der tiefsten Schmach des deutschen Vaterlandes“47, in der nur das einfache Volk und wenige nationalbewegte Denker die eigene Kultur und Sprache nicht verraten hätten. Als vermeintliche historische Konstante behauptete ein wenige Tage vor der Kaiserproklamation gehaltener Vortrag Riehls über Deutsche und französische Freiheit (1871), es bestehe seit Urzeiten ein kategorialer Unterschied zwischen „Germanismus und Romanismus“48. Während Germanen und Deutschen eine unbändige Freiheitsliebe eigen sei, verstünden die französischen „Dictatoren der Freiheit“ in Nachfolge der Römer diese nur als nützliches Schlagwort zur Legitimierung ihrer expansiven „Mordbrennerzüge“.49
Neben dem deutsch-französischen Gegensatz war Riehls Werk mit identitätsstiftenden Kontrastierungen von Juden und Deutschen durchzogen, wie sie vor allem in der Schrift Deutsche Arbeit (1861) auftraten. Dort postulierte er einen grundlegenden Gegensatz zwischen „semitischer und arischer Arbeitsehre“50, der sich aus dem jeweiligen Volkscharakter ergebe. In Aufnahme älterer Stereotype unterschied er vor allem einen vermeintlich jüdischen „Mammonsgeist“ und „Schacher“ von einer ehrlichen deutschen Arbeit als Bauer oder Handwerker.51 Demzufolge sehe der „großstädtische Speculant“52 in der Landwirtschaft lediglich eine Geldquelle und in den Bauern auszubeutende Individuen, wodurch er der gesellschaftlichen Ordnung ihre lebensnotwendige Naturgrundlage von Feld und Wald entziehe.