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In Robin Hill

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Jolyon Forsyte hatte den neunzehnten Geburtstag seines Sohnes in Robin Hill verbracht und sich in Ruhe mit seinen Angelegenheiten beschäftigt. Er tat nun alles in Ruhe, weil sein Herz Probleme machte, und wie alle in seiner Familie verabscheute er den Gedanken, sterben zu müssen. Ihm war nie bewusst gewesen, wie sehr, bis er eines Tages vor zwei Jahren wegen gewissen Symptomen zu seinem Arzt gegangen war und dieser ihm gesagt hatte: »Jeden Augenblick, bei jeglicher Überanstrengung.«

Er hatte es mit einem Lächeln aufgenommen – die natürliche Reaktion eines Forsyte, wenn er mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert wird. Doch als sich die Symptome auf der Heimfahrt im Zug verschlimmert hatten, war ihm voll bewusstgeworden, welches Urteil da über ihm schwebte. Irene zurückzulassen, seinen Jungen, sein Zuhause, seine Arbeit – obwohl er jetzt schon recht wenig arbeitete! Sie zurückzulassen, um in unbekannte Dunkelheit davonzugehen, in den unvorstellbaren Zustand, in ein solches Nichts, dass er nicht einmal den Wind wahrnehmen würde, der die Blätter auf seinem Grab bewegte, oder den Geruch von Erde und Gras. In ein solches Nichts, dass er es niemals erfassen könnte, wie sehr er es auch versuchte, und dennoch müsste er an der Hoffnung festhalten, dass er jene, die er liebte, wiedersehen würde! Diese Erkenntnis bereitete ihm bitterste Seelenqual.

Noch bevor er an jenem Tag zu Hause angekommen war, hatte er den Entschluss gefasst, Irene nichts davon zu sagen. Er würde vorsichtiger sein müssen, als es je ein Mensch gewesen war, denn die kleinste Kleinigkeit würde es verraten und sie beinahe so unglücklich machen wie ihn selbst. Sein Arzt hatte ihn ansonsten für gesund befunden, und siebzig war kein Alter – er würde es noch lange machen, wenn er konnte!

Ein solcher Entschluss, der seit fast zwei Jahren befolgt wurde, bringt die feinsinnige Seite eines Wesens in vollem Maße hervor. Jolyon, der von Natur aus nicht unbedacht war, außer bei nervöser Erregung, war die Selbstbeherrschung in Person geworden. Die traurige Geduld alter Menschen, die Anstrengung vermeiden müssen, wurde hinter einem Lächeln verborgen, das sogar dann auf seinen Lippen blieb, wenn er allein war. Er ließ sich ständig allerlei Tarnung einfallen, um den Mangel an Anstrengung, zu dem er gezwungen war, zu verbergen.

Obwohl er sich deswegen über sich selbst lustig machte, gab er vor, zum einfachen Leben bekehrt worden zu sein, er gab Wein und Zigarren auf und trank eine besondere Art Kaffee, in der gar kein Kaffee war. Kurzum, er sorgte dafür, dass er so sicher war, wie es ein Forsyte in seiner Situation sein konnte, unter dem Schleier seiner milden Ironie. Vor Entdeckung sicher, da seine Frau und sein Sohn in die Stadt gefahren waren, hatte er den schönen Maitag damit verbracht, in Ruhe seine Papiere zu ordnen, damit er morgen sterben könnte, ohne irgendjemandem Umstände zu machen, indem er seinen irdischen Angelegenheiten den letzten Schliff gab.

Nachdem er sie beschriftet und in dem alten chinesischen Schrank seines Vaters eingeschlossen hatte, packte er den Schlüssel in einen Umschlag, schrieb darauf die Worte: »Schlüssel zum chinesischen Schrank, in dem sich eine detaillierte Darlegung meines Vermögens befindet, J. F.«, und steckte ihn in seine Brusttasche, wo er immer bei ihm sein würde, falls ihm etwas zustoßen sollte. Dann läutete er nach dem Tee und ging nach draußen, um ihn unter der alten Eiche zu trinken.

Jeder ist zum Sterben verurteilt, Jolyon, dessen Urteil nur ein wenig präziser und näher bevorstehend war, hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass er wie andere auch meist an andere Dinge dachte. In diesem Moment dachte er an seinen Sohn.

Jon war an diesem Tag neunzehn geworden, und Jon war kürzlich zu einer Entscheidung gekommen. Er war weder in Eton zur Schule gegangen wie sein Vater, noch in Harrow wie sein toter Halbbruder, sondern hatte eine jener Institutionen besucht, die dazu gedacht waren, das Schlechte des Privatschulsystems zu vermeiden und das Gute daran zu erhalten, die dabei aber möglicherweise auch das Schlechte erhielten und das Gute vermieden, und so hatte Jon diese im April verlassen, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, was er werden wollte.

Der Krieg, von dem man gemeint hatte, er würde ewig weitergehen, hatte ausgerechnet sechs Monate, bevor er der Armee hatte beitreten können, geendet. Seitdem hatte er versucht, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er nun selbst entscheiden konnte. Er hatte mehrere Unterhaltungen mit seinem Vater darüber geführt, aus denen Jolyon ziemlich deutlich erkannt hatte, dass Jon hinter seiner munter präsentierten Bereitschaft zu allem – abgesehen natürlich von Kirche, Armee, Rechtswesen, Schauspielerei, Börse, Medizin, Wirtschaft und Technik – eigentlich nichts machen wollte. Ihm war es in dem Alter ganz genauso gegangen. In seinem Fall war diese angenehme Leere bald durch eine frühe Heirat und ­deren unglückliche Konsequenzen beendet worden. Er war gezwungen gewesen, Versicherungsgeber bei Lloyd’s zu werden und war so wieder zu Wohlstand gelangt, bevor sein künstlerisches Talent zutage getreten war. Doch da er seinem Sohn – wie einfache Leute es nennen – beigebracht hatte, Schweine und andere Tiere zu zeichnen, wusste er, dass aus Jon niemals ein Maler werden würde, und er war zu dem Schluss geneigt, dass seine Abneigung gegen alles andere bedeutete, dass er Schriftsteller werden würde. Da er jedoch der Ansicht war, dass man selbst für diesen Beruf Erfahrung brauchte, schien es Jolyon, dass Jon in der Zwischenzeit nichts anderes übrigbleibe als Studieren, Reisen und vielleicht eine Einführung in juristische Kreise. Danach würde man sehen, oder wahrscheinlich eher nicht. Angesichts dieser sich ihm bietenden Verlockungen war Jon jedoch unentschlossen geblieben.

Solche Unterhaltungen mit seinem Sohn hatten Jolyons Zweifel bekräftigt, ob die Welt sich überhaupt verändert hatte. Die Leute sagten, es sei ein neues Zeitalter. Mit der Tiefgründigkeit eines Menschen, dem nicht allzu viel Zeit für irgendein Zeitalter blieb, erkannte Jolyon, dass die Ära unter leicht veränderten Oberflächen noch immer genau dieselbe war. Die Menschheit war noch immer in zwei Arten unterteilt: die wenigen, denen Nachdenklichkeit und Fantasie gegeben war, und die vielen, denen das nicht gegeben war, und dazwischen eine Schicht von Mischlingen wie ihm selbst. Jon schien Nachdenklichkeit und Fantasie gegeben zu sein, sein Vater hatte den Eindruck, dass das nichts Gutes verhieß.

Deshalb hatte er mit etwas Tieferem als seinem üblichen Lächeln den Jungen vor zwei Wochen sagen hören: »Ich möchte es mit Landwirtschaft versuchen, Papa, wenn es dich nicht zu viel kostet. Das scheint wohl die einzige Art zu leben zu sein, die niemandem schadet, abgesehen von Kunst, und die kommt für mich natürlich nicht in Frage.«

Jolyon unterdrückte sein Lächeln und antwortete: »In Ordnung, dann sollst du also dorthin zurückkehren, wo der erste Jolyon 1760 angefangen hat. Das wird die Theorie beweisen, dass alles ein Kreislauf ist, und außerdem könntest du zweifelsohne bessere Rüben hervorbringen als er.«

Ein wenig enttäuscht hatte Jon geantwortet: »Aber hältst du das denn nicht für einen guten Plan, Papa?«

»Er passt schon, mein Junge, und wenn du wirklich Gefallen daran finden solltest, dann wirst du damit mehr Gutes tun als die meisten Menschen, was wenig genug ist.«

Sich selbst hatte er jedoch gesagt: Aber er wird keinen Gefallen daran finden. Ich gebe ihm vier Jahre. Gesund ist es trotzdem, und harmlos.

Nachdem er über die Sache nachgedacht und mit Irene darüber gesprochen hatte, schrieb er seiner Tochter Holly und fragte, ob sie einen Landwirt in ihrer Nähe in den Downs kannten, bei dem Jon in die Lehre gehen könnte. Hollys Antwort war enthusiastisch gewesen. Es gäbe einen hervorragenden Mann ganz in der Nähe, sie und Val würden sich sehr freuen, wenn Jon bei ihnen wohnen würde.

Der Junge sollte morgen abreisen.

Während er an seinem schwachen Tee mit Zitrone nippte, blickte er durch die Blätter der alten Eiche auf die Aussicht, die ihm seit zweiunddreißig Jahren ersehnenswert schien.

Der Baum, unter dem er saß, schien nicht einen Tag älter! So jung die kleinen goldbraunen Blätter, so alt das Weiß-Grau-Grün seines dicken, rauen Stamms. Ein Baum der Erinnerungen, der noch hunderte Jahre länger weiterleben würde, wenn ihn nicht irgendein Barbar fällte – er würde noch das Ende des alten Englands erleben, so schnell, wie die Dinge sich entwickelten! Er erinnerte sich an eine Nacht vor drei Jahren, als er, den Arm eng um Irene geschlungen, aus seinem Fenster hinausgesehen und ein Deutsches Flugzeug beobachtet hatte, das direkt über dem alten Baum zu schweben schien. Am nächsten Tag hatten sie auf einem Feld von Gages Farm einen Bombenkrater entdeckt. Das war, bevor er von seinem Todesurteil wusste. Er wünschte fast, die Bombe hätte ihn getötet. Das hätte ihm das Warten erspart, viele Stunden kalter Angst in der Magengrube. Er hatte damit gerechnet, das übliche Forsyte-Alter von fünfundachtzig oder mehr zu erreichen, wenn Irene siebzig sein würde. Unter den jetzigen Umständen würde sie ihn vermissen. Doch immerhin gab es noch Jon, der in ihrem Leben wichtiger war als er, Jon, der seine Mutter vergötterte.

Unter jenem Baum, wo der alte Jolyon – als er darauf wartete, dass Irene über den Rasen zu ihm käme – seinen letzten Atemzug getan hatte, kam Jolyon der komische Gedanke, ob er nicht besser jetzt, wo er alles in perfekte Ordnung gebracht hatte, seine Augen schließen und davonziehen sollte. Es hatte etwas Würdeloses, sich so parasitär an das untätige Ende eines Lebens zu klammern, in dem er nur zwei Dinge bereute – den langen Bruch zwischen seinem Vater und ihm, als er jung war, und dass er und Irene so spät zueinander gefunden hatten.

Von seinem Platz aus konnte er eine Gruppe blühender Apfelbäume sehen. Nichts in der Natur bewegte ihn so sehr wie blühende Obstbäume, und plötzlich schmerzte sein Herz, denn er würde sie vielleicht nie wieder in Blüte sehen. Frühling! Es sollte doch wirklich niemand sterben müssen, wenn sein Herz noch jung genug war, um Schönheit zu lieben! Amseln sangen unbekümmert in den Sträuchern, Schwalben flogen hoch, die Blätter über ihm glänzten, und über den Feldern lag jede nur vorstellbare Schattierung frühen Blattwerks, das im gleichmäßigen Sonnenlicht leuchtete, bis hin zu dem fernen Blau des Rauchbuschs, das sich entlang des Horizonts erstreckte.

Irenes Blumen in den schmalen Beeten hatten an jenem Abend eine erstaunliche Individualität, kleine, dunkle Botschafter des heiteren Lebens. Nur chinesische und japanische Maler, und vielleicht Leonardo, hatten sich darauf verstanden, dieses erstaunliche kleine Ego in jede gemalte Blume zu übertragen, und in jeden Vogel, jedes Tier – das Ego und zugleich die Artenzugehörigkeit und die Vielseitigkeit des Lebens. Das waren die wahren Könner! Ich habe nichts geschaffen, das weiterleben wird!, dachte Jolyon, ich war immer ein Amateur – ein bloßer Liebhaber, kein Schöpfer. Immerhin hinterlasse ich Jon, wenn ich gehe. Was für ein Glück, dass der Junge nicht in diesen entsetzlichen Krieg involviert gewesen war! Er hätte darin so leicht sterben können, wie der arme Jolly vor zwanzig Jahren in Transvaal. Jon würde irgendwann schon eine Beschäftigung finden – wenn die Zeit ihn nicht verdarb – ein fantasievoller Junge! Sein plötzlicher Einfall, Landwirt zu werden, war nur eine momentane Gefühlssache und würde kaum von Dauer sein. Und genau in dem Moment sah er sie über das Feld heraufkommen: Irene und den Jungen, sie kamen vom Bahnhof, liefen mit eingehakten Armen. Und er stand auf und schlenderte ihnen durch den neuen Rosengarten entgegen …

An jenem Abend kam Irene in sein Zimmer und setzte sich ans Fenster. Dort saß sie wortlos, bis er sagte: »Was ist denn, mein Schatz?«

»Wir sind heute jemandem begegnet.«

»Wem denn?«

»Soames.«

Soames! Er hatte jenen Namen in den letzten zwei Jahren aus seinem Kopf verbannt, denn er wusste, dass es ihm nicht guttat, an ihn zu denken. Und nun hatte er ein beunruhigendes Gefühl in seinem Herzen, als ob es in seiner Brust zur Seite gerutscht sei.

Irene sprach ruhig weiter: »Er und seine Tochter waren in der Galerie und danach in der Konditorei, in der wir Tee getrunken haben.«

Jolyon ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Wie sah er aus?«

»Grau, aber ansonsten noch ziemlich genauso wie früher.«

»Und seine Tochter?«

»Hübsch. Zumindest fand Jon das.«

Jolyons Herz rutschte erneut zur Seite. Auf dem Gesicht seiner Frau lag ein angespannter und aufgewühlter Ausdruck.

»Du hast aber nicht –?«, setzte er an.

»Nein, aber Jon kennt ihren Namen. Das Mädchen hat ihr ­Taschentuch fallen lassen und er hat es aufgehoben.«

Jolyon setzte sich auf sein Bett. Was für ein böser Zufall!

»June war doch dabei. Hat sie euch irgendwie in eine peinliche Situation gebracht?«

»Nein, aber es war alles sehr komisch und angespannt, und das hat Jon auch gemerkt.«

Jolyon atmete tief ein und sagte: »Ich habe mich oft gefragt, ob es richtig von uns war, es vor ihm zu verheimlichen. Eines Tages wird er dahinterkommen.«

»Je später, desto besser, Jolyon. Die Jugend urteilt so schnell und so hart. Als du neunzehn warst, was hättest du da von deiner Mutter gedacht, wenn sie getan hätte, was ich getan habe?«

Ja! Das war es! Jon verehrte seine Mutter, und wusste nichts von den Tragödien, den unerbittlichen Notwendigkeiten des Lebens, von dem verborgenen Leid in einer unglücklichen Ehe, von Eifersucht oder Leidenschaft – er wusste noch überhaupt nichts!

»Was hast du ihm gesagt?«, sagte er schließlich.

»Dass sie Verwandte seien, aber wir sie nicht kennen, dass du dir nie viel aus deiner Familie gemacht hast, und sie nicht aus dir. Ich schätze, er wird dich danach fragen.«

Jolyon lächelte. »Das verspricht, die Luftangriffe abzulösen«, sagte er. »Am Ende vermisst man sie noch.«

Irene sah zu ihm auf.

»Wir wussten, dass es eines Tages so kommen würde.«

Er antwortete mit plötzlicher Energie: »Ich könnte es niemals ertragen, wenn Jon dir Vorwürfe machen würde. Das wird er nicht tun, nicht einmal in Gedanken. Er hat Vorstellungskraft, und er wird es verstehen, wenn man es ihm richtig erklärt. Ich denke, ich sollte es ihm besser sagen, bevor er es auf andere Weise erfährt.«

»Noch nicht, Jolyon.«

So war sie immer – sie hatte keine Voraussicht und wollte Schwierigkeiten nie entgegentreten. Und doch – wer konnte es schon sagen – vielleicht hatte sie recht. Es war nicht richtig, wider den Instinkt einer Mutter zu handeln. Vielleicht war es ja gut, dem Jungen, wenn möglich, noch etwas mehr Zeit zu geben, bis die Erfahrung ihm einen Maßstab gegeben hatte, anhand dessen er diese alte Tragödie beurteilen könnte, bis Liebe, Eifersucht, Sehnsucht sein Mitgefühl vertieft hatten. Nichtsdestotrotz musste er Vorsichtsmaßnahmen ergreifen – jede nur mögliche! Und noch lange, nachdem Irene wieder gegangen war, lag er wach und dachte über diese Vorsichtsmaßnahmen nach. Er musste Holly schreiben und ihr sagen, dass Jon bis jetzt nichts von der Geschichte der Familie wusste. Holly war verschwiegen, sie würde dafür sorgen, dass ihr Mann es auch war, sie würde aufpassen! Jon konnte den Brief mitnehmen, wenn er morgen dorthin fuhr.

Und so verklang der Tag, an dem er seinem materiellen Besitz den letzten Schliff gegeben hatte, mit dem Läuten der Turmglocke bei den Ställen, und ein neuer begann für Jolyon im Schatten eines innerlichen Durcheinanders, das nicht so einfach in Ordnung gebracht werden konnte …

Doch auch Jon, dessen Schlafzimmer früher sein Kinderzimmer gewesen war, lag wach, von einem Gefühl heimgesucht, dessen Existenz jene, die es noch nie empfunden haben, bestreiten, Liebe auf den ersten Blick. Er hatte es in sich erwachen fühlen, als ihn jene dunklen Augen über die Juno hinweg angestrahlt hatten – eine Überzeugung, dass dies sein Traum war, sodass ihm alles, was darauf folgte, natürlich und wie ein Wunder zugleich erschien. Fleur! Ihr Name allein war fast schon genug für jemanden, der schrecklich empfänglich für den Zauber von Worten war. In einem homöopathischen Zeitalter, wo Jungen und Mädchen zusammen erzogen wurden und schon früh miteinander Umgang hatten, bis es fast keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern mehr zu geben schien, war Jon ungewöhnlich altmodisch. Seine moderne Schule nahm ausschließlich Jungen auf und seine Ferien hatte er immer in Robin Hill verbracht, mit gleichgeschlechtlichen Freunden oder nur mit seinen Eltern. Er war daher nie mit kleinen Dosen des Gifts gegen die Keime der Liebe geimpft worden. Und nun stieg im Dunkeln seine Temperatur schnell an. Er lag wach, Fleur spielte die Hauptrolle – wie man das nannte – und er erinnerte sich an ihre Worte, vor allem an jenes »Au revoir!«, so sanft und lebhaft.

In der Morgendämmerung war er noch immer so hellwach, dass er aufstand, in Tennisschuhe, Hose und Pullover schlüpfte und leise die Treppe hinunter und durch das Fenster des Arbeitszimmers nach draußen schlich. Es wurde gerade hell, es roch nach Gras. Fleur!, dachte er, Fleur! Es war geheimnisvoll weiß hier draußen, nichts war wach außer den Vögeln, die zu zwitschern anfingen. Ich will ins Wäldchen hinuntergehen, dachte er. Er rannte durch die Felder nach unten, kam am Teich an, als die Sonne gerade aufging, und trat in das Wäldchen. Glockenblumen bedeckten dort den Boden, ein Geheimnis schien die Lärchen zu umschweben – die Luft war wie von Romantik erfüllt. Jon sog ihre Frische ein und starrte im heller werdenden Licht auf die Glockenblumen. Fleur! Der Name war so schön wie sie! Und sie wohnte in Mapledurham – auch ein hübscher Name, irgendwo am Fluss. Er könnte es gleich im Atlas suchen. Er würde ihr schreiben. Aber würde sie ihm antworten? Oh, sie musste! Sie hatte »Au revoir!« gesagt, nicht »Lebwohl!« Was für ein Glück, dass sie ihr Taschentuch fallen lassen hatte! Sonst hätte er sie nie kennengelernt! Und je mehr er über jenes Taschentuch nachdachte, desto erstaunlicher schien ihm sein Glück. Fleur! Der Name war wirklich so schön wie sie! Versrhythmen erklangen in seinem Kopf, Worte drängten darauf, verbunden zu werden, er war kurz davor, ein Gedicht zu schreiben.

Mehr als eine halbe Stunde lang blieb Jon in dieser Stimmung, dann kehrte er zum Haus zurück, holte eine Leiter und kletterte aus reinem Übermut durch sein Schlafzimmerfenster hinein. Dann fiel ihm ein, dass ja das Fenster im Arbeitszimmer noch offenstand, und er ging nach unten und schloss es, nachdem er zuvor die Leiter wieder weggeräumt hatte, um alle Spuren seines Gefühls zu beseitigen. Das war etwas so Tiefes, dass er es keinem Sterblichen offenbaren konnte – selbst seiner Mutter nicht.

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