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Das Mausoleum

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Es gibt Häuser, deren Seelen in den Limbus der Zeit eingegangen sind, während sie ihre Körper im Limbus von London zurückgelassen haben. Auf Timothys Haus in der Bayswater Road traf das nicht ganz zu, denn Timothys Seele stand noch immer mit einem Bein in Timothy Forsytes Körper und Smither sorgte dafür, dass die Atmosphäre von Kampfer und Portwein und einem Haus, dessen Fenster nur zweimal am Tag zum Lüften geöffnet werden, unverändert aufrechterhalten wurde.

In der Vorstellung der Forsytes war jenes Haus nun eine Art chinesische Pillendose, eine Reihe von Fächern, und im letzten davon war Timothy.

Man kam nicht an ihn heran, oder zumindest wurde das von den Familienmitgliedern berichtet, die alle Jubeljahre einmal aus alter Gewohnheit oder Gedankenlosigkeit dort vorbeischauten und sich nach ihrem noch lebenden Onkel erkundigten, also zum Beispiel von Francie, die sich nun ganz von Gott emanzipiert hatte (sie bekannte sich offen zum Atheismus), Euphemia, die sich vom alten Nicholas emanzipiert hatte, und Winifred Dartie, die sich von ihrem Mann von Welt emanzipiert hatte.

Aber schließlich war ja jetzt jeder emanzipiert oder behauptete, es zu sein – was vielleicht nicht ganz dasselbe war!

Als sich Soames am Morgen nach der Begegnung auf seinem Weg zur Paddington Station dorthin aufmachte, rechnete er daher nicht wirklich damit, Timothy persönlich zu Gesicht zu bekommen.

Sein Herz regte sich leise in ihm, während er im vollen Südsonnenlicht auf der frisch geweißten Türschwelle jenes kleinen Hauses stand, in dem einst vier Forsytes gelebt hatten und jetzt nur noch einer wie eine Wintermücke ausharrte, das Haus, in dem Soames unzählige Male ein- und ausgegangen war, erleichtert oder belastet von einer großen Ladung Familienklatsch, das Haus der Alten aus einem anderen Jahrhundert, einem anderen Zeitalter.

Der Anblick von Smither – noch immer bis zu den Achseln in ein Korsett geschnürt, denn die neue Mode, die aufkam, als es mit den Tanten Juley und Hester bergab ging, war von den beiden nie für anständig befunden worden – zauberte ein mattes Wohlwollen auf Soames’ Lippen. Smither, die sich noch immer in jeder Einzelheit getreu an die alten Muster hielt, eine Angestellte von unschätzbarem Wert – solche gab es nicht mehr –, erwiderte sein Lächeln und sagte: »Na so was! Mr Soames, nach all dieser Zeit! Wie geht es Ihnen denn, Sir? Mr Timothy wird sich so freuen, wenn er erfährt, dass Sie hier waren.«

»Wie geht es ihm?«

»Ach, er hält sich recht gut für sein Alter, Sir, aber er ist ja auch ein wundervoller Mensch. Wie ich zu ihrer Schwester gesagt habe, als sie das letzte Mal hier war: Es würde Miss Forsyte und Mrs Juley und Miss Hester freuen, zu sehen, wie er noch immer einen Bratapfel genießen kann. Aber er ist ziemlich taub. Gott sei Dank, denke ich mir immer. Denn ich weiß nicht, was wir sonst bei den Luftangriffen mit ihm machen hätten sollen.«

»Aha«, sagte Soames. »Was haben Sie denn mit ihm gemacht?«

»Wir haben ihn einfach in seinem Bett gelassen und die Klingel nach unten in den Keller verlegt, sodass die Köchin und ich hören konnten, wenn er läutete.

Es wäre auf gar keinen Fall angegangen, ihn wissen zu lassen, dass Krieg herrschte. Wie ich zur Köchin gesagt habe: Wenn Mr Timothy läutet, sollen die machen, was sie wollen – ich gehe nach oben. Meine lieben Herrinnen wären außer sich, wenn sie sähen, dass er läutet und keiner hinaufgeht. Aber er hat während allen tief und fest geschlafen. Und an dem einen Tag hat er gerade sein Bad genommen. Zum Glück, sonst hätte er vielleicht bemerkt, dass die Leute auf der Straße alle nach oben schauten – er sieht oft aus dem Fenster.«

»Ja, ja«, murmelte Soames. Smither wurde langsam geschwätzig! »Ich will mich nur umsehen und schauen, ob irgendetwas zu tun ist.«

»Ja, Sir. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, außer dass es im Esszimmer nach Mäusen riecht, und wir wissen nicht, wie wir den Geruch loswerden sollen. Es ist komisch, dass sie da sind, wo doch dort kein Krümchen mehr zu finden ist, weil Mr Timothy seit kurz vor dem Krieg nicht mehr nach unten kommt. Aber das sind widerliche kleine Dinger, mein weiß nie, wo sie als nächstes auftauchen.«

»Verlässt er sein Bett?«

»Aber ja, Sir! Er läuft jeden Morgen schön zwischen seinem Bett und dem Fenster hin und her, um keine Luftveränderung zu riskieren. Und er fühlt sich recht wohl in seiner Haut, kümmert sich jeden Tag um sein Testament. Das ist ihm ein großer Trost.«

»Nun, Smither, ich möchte ihn sehen, wenn möglich, für den Fall, dass er mir irgendetwas zu sagen hat.«

Smither errötete über ihrem Korsett.

»Das wird aber ein Ereignis sein!«, sagte sie. »Soll ich Sie durch das Haus führen, Sir, und die Köchin schicken, dass sie ihm die Nachricht überbringt?«

»Nein, gehen Sie zu ihm«, sagte Soames. »Ich kann mich allein im Haus umsehen.«

Man durfte Gefühle nicht vor anderen zugeben und Soames hatte das Gefühl, dass ihn seine Gefühle überkommen würden, wenn er durch diese Räume ging, die so von der Vergangenheit erfüllt waren. Als Smither ihn ganz außer sich vor Aufregung verlassen hatte, betrat Soames das Esszimmer und schnupperte. Seiner Meinung nach waren das keine Mäuse, sondern beginnende Holzfäule, und er nahm die Täfelung unter die Lupe. Er war sich nicht sicher, ob sich ein Anstrich bei Timothys Alter noch lohnte. Das war immer das modernste Zimmer im Haus gewesen, und nur ein schwaches Lächeln verzog Soames’ Lippen und Nasenflügel. Die Wände über der Eichentäfelung waren von sattem Grün, ein schwerer Metallkronleuchter hing an einer Kette von einer Decke herab, die von imitiertem Gebälk unterteilt war. Die Bilder hatte Timothy vor sechzig Jahren bei Jobson gekauft, ein Schnäppchen – drei Stillleben von Snyders, zwei blass kolorierte Zeichnungen von einem Jungen und einem Mädchen, ganz hübsch, die die Initialen »J. R.« trugen – Timothy hatte immer geglaubt, sie könnten sich als Werke von Joshua Reynolds erweisen, aber Soames, der diese bewunderte, hatte herausgefunden, dass sie nur von John Robinson waren, und ein fraglicher Morland, der ein weißes Pony zeigte, das gerade beschlagen wurde.

Tiefrote Plüschvorhänge, zehn hochlehnige, dunkle Mahagoni­stühle mit tiefroten Plüschpolstern, ein türkischer Teppich und ein Mahagoniesstisch, der so groß war wie der Raum klein – so sah das Zimmer aus, das sich in Soames’ Erinnerung seit seinem vierten ­Lebensjahr weder in seiner Atmosphäre noch in seiner Einrichtung verändert hatte. Er sah sich besonders die beiden Zeichnungen an und dachte: Die will ich bei der Nachlassversteigerung kaufen.

Vom Esszimmer ging er weiter in Timothys Arbeitszimmer. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in diesem Zimmer gewesen zu sein. Es war vom Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt und er sah sie sich neugierig an. Eine Wand schien Lehrbüchern gewidmet zu sein, die Timothys Verlag vor zwei Generationen veröffentlicht hatte – manchmal ganze zwanzig Exemplare eines Buches. Soames las ihre Titel und schauderte. An der mittleren Wand waren genau die gleichen Bücher, die auch bei seinem eigenen Vater in der Park Lane gestanden hatten, was ihn schließen ließ, dass James und sein jüngster Bruder wohl eines Tages zusammen losgezogen waren und ein Paar kleiner Bibliotheken gekauft hatten. Der dritten Wand näherte er sich gespannter. Hier konnte man bestimmt Timothys persönlichen Geschmack finden. Konnte man. Die Bücher waren Blindbände. Die vierte Wand bestand komplett aus Fenster, verdeckt von schweren Vorhängen. Und dorthin gewandt stand ein großer Sessel mit einem Lesepult aus Mahagoni daran, auf dem noch immer eine vergilbte und zusammengefaltete Ausgabe der Times vom sechsten Juli 1914, dem Tag, an dem Timothy, wie in Vorbereitung auf den Krieg, zum ersten Mal nicht heruntergekommen war, lag, als ob sie auf ihn wartete.

In einer Ecke stand ein großer Globus jener Welt, die Timothy nie bereist hatte, da er der festen Überzeugung war, dass nur England tatsächlich real war, und außerdem machte ihn das Meer immer sehr nervös, dort war ihm an einem Sonntagnachmittag 1836 auf einem Vergnügungsdampfer mit Juley und Hester, Swithin und Hatty Chessman in Brighton sehr übel geworden, alles wegen Swithin, der sich immer irgendwelche Dinge in den Kopf setzte, und dem, Gott sei Dank, auch übel geworden war. Soames wusste alles darüber, er hatte die Geschichte mindestens fünfzig Mal von dem einen oder anderen von ihnen gehört. Er ging zu dem Globus und gab ihm einen Stups, er gab ein leises Quietschen von sich, bewegte sich ein paar Zentimeter und brachte einen Weberknecht in sein Blickfeld, der auf dem vierundvierzigsten Breitengrad gestorben war.

Mausoleum!, dachte er. George hatte recht! Und er ging aus dem Zimmer und die Treppe nach oben. Auf dem Treppenabsatz blieb er vor dem Schaukasten mit den ausgestopften Kolibris stehen, die ihm als Kind immer so gefallen hatten. Sie sahen keinen Tag älter aus, wie sie da an Drähten über Pampasgras hingen. Wenn man den Kasten aufmachen würde, würden die Vögel nicht anfangen, umherzuschwirren, sondern wahrscheinlich würde das ganze Ding zerbröseln. Es würde sich nicht lohnen, das mit in die Nachlassversteigerung aufzunehmen! Und plötzlich packte ihn eine Erinnerung an Tante Ann – die gute alte Tante Ann –, wie sie ihn vor jenem Kasten an der Hand gehalten und gesagt hatte: »Schau nur, Soamey! Sind die nicht hübsch und schön bunt, die süßen kleinen Kolibris?« Soames erinnerte sich an seine Antwort: »Aber die summen ja gar nicht, Tantchen.« Er musste sechs gewesen sein und trug einen schwarzen Anzug aus Rippsamt mit hellblauem Kragen – er erinnerte sich noch gut an diesen Anzug! Tante Ann mit ihren Löckchen und ihren spinnenartigen, gütigen Händen und ihrem würdevollen, alten, adlerähnlichen Lächeln – eine feine alte Dame, die gute Tante Ann!

Er ging weiter nach oben zur Tür des Empfangszimmers. Dort hingen links und rechts davon die Gruppen von Miniaturen. Die würde er ganz sicher kaufen! Die Miniaturen seiner vier Tanten, eine von seinem Onkel Swithin als junger Mann und eine von seinem Onkel Nicholas als Kind. Sie waren alle von einer jungen Freundin der Familie gemalt worden, um 1830, als Miniaturen als sehr vornehm galten, und außerdem als sehr haltbar, da sie auf Elfenbein gemalt waren. Viele Male hatte er die Geschichte jener jungen Dame gehört: »Sehr talentiert, mein Lieber, sie hatte eine rechte Schwäche für Swithin, und kurz darauf ist sie an Schwindsucht erkrankt und gestorben, ganz wie Keats – wir haben oft darüber gesprochen.«

Nun, da waren sie alle! Ann, Juley, Hester, Susan – als ganz kleines Kind, Swithin, mit himmelblauen Augen, rosa Wangen, blonden Locken und weißer Weste – wie er leibte und lebte, und Nicholas, wie Amor, den Blick zum Himmel gerichtet. Wenn er so darüber nachdachte, war Onkel Nick eigentlich immer so gewesen – ein wundervoller Mann bis zum Schluss. Ja, sie musste talentiert gewesen sein, und Miniaturen bewahrten sich immer einen gewissen ihnen eigenen Wert, blieben von den wettbewerbsbedingten Strömungen an der Kunstbörse wenig beeinflusst. Soames öffnete die Tür zum Empfangszimmer. Der Raum war staubfrei, die Möbel unbedeckt, die Vorhänge zurückgezogen – ganz so, als ob seine Tanten dort noch immer säßen und geduldig warteten. Und es kam ihm ein Gedanke: Wenn Timothy sterben würde – warum nicht? Bestünde nicht fast eine Pflicht, dieses Haus zu erhalten – wie das Haus von Thomas Carlyle – und eine Tafel aufzustellen und es zu zeigen? »Musterbeispiel einer mittelviktorianischen Wohnung – Eintritt ein Shilling, inklusive Katalog.« Immerhin war es das Vollständigste und vielleicht auch das Überholteste im heutigen London. Vollkommen in seinem speziellen Geschmack und seiner Kultur, das hieß, wenn er die vier Bilder der Barbizon-Schule, die er ihnen geschenkt hatte, abnahm und seiner eigenen Sammlung hinzufügte.

Die noch immer himmelblauen Wände, die grünen, mit roten Blumen und Farn gemusterten Vorhänge, der bestickte Kaminschirm vor dem gusseisernen Feuerrost, die Mahagonianrichte mit Glasfenstern, voll mit lauter kleinem Nippes, die perlenbesetzten Schemel, Keats, Shelley, Southey, Cowper, Coleridge, Der Korsar von Lord Byron (aber sonst nichts von ihm) und die viktorianischen Dichter im Bücherregal, der mit mattrotem Plüsch ausgelegte Marketerie-Schrank, gefüllt mit Familienreliquien: Hesters erster Fächer, die Schnallen der Schuhe des Vaters ihrer Mutter, drei Skorpione in Flaschen und ein sehr gelber Elefantenstoßzahn, den Großonkel Edgar Forsyte, der im Jutehandel tätig gewesen war, aus Indien geschickt hatte, ein aufgestelltes Blatt Papier mit spinnenartiger Schrift darauf, die Gott weiß was berichtete!

Und die Bilder, die die Wände füllten – alles Aquarelle außer jenen vier Barbizon-Bildern, die hier wie die Ausländer wirkten, die sie waren, und fragwürdige noch dazu – heitere und anschauliche Bilder, Telling the Bees, Hey for the Ferry! und zwei im Stile Friths, mit Becherspiel und Reifröcken, die Swithin ihnen geschenkt hatte. Ach, viele, viele Bilder, die Soames tausende Male mit verächtlicher Faszination angestarrt hatte, eine wundervolle Sammlung glänzender, glatter Goldrahmen.

Und der Boudoir-Flügel, schön abgestaubt, hermetisch verschlossen wie immer, und Tante Juleys Album mit gepresstem Seegras. Und die Stühle mit den vergoldeten Beinen, die stärker waren, als sie aussahen. Und auf einer Seite des Kamins das Sofa aus karmesinroter Seide, auf dem Tante Ann und nach ihr Tante Juley immer gesessen hatte, kerzengerade, das Gesicht zum Licht. Und auf der anderen Seite der einzige wirklich bequeme Stuhl, mit dem Rücken zum Feuer, für Tante Hester.

Soames kniff die Augen zusammen, ihm schien, als würde er sie dort sitzen sehen. Ach, und die Atmosphäre! – auch jetzt noch, von zu vielem Krimskrams und gewaschenen Spitzenvorhängen, Lavendel in Säckchen und getrockneten Bienenflügeln. Nein, dachte er, so etwas gibt es nirgendwo sonst mehr, es sollte bewahrt werden. Und, Gott, die Leute mochten darüber lachen, aber was den Standard vornehmen Lebens anbetraf, von dem niemals abgewichen wurde, den Anspruch, Haut, Augen, Nase und Gefühl anzusprechen, da übertraf das die heutige Zeit bei Weitem – die heutige Zeit mit U-Bahnen und Autos, ununterbrochenem Gerauche, Mädchen, die mit überschlagenen Beinen und bloßem Nacken dasaßen, sodass man bis zu den Knien hinauf und bis zur Taille hinunter sehen konnte, wenn man es wollte (schön für den Satyr, der in jedem Forsyte steckte, aber kaum seine Vorstellung von einer Dame), und die noch dazu beim Essen die Füße um die Stuhlbeine schlangen und immer dieses »Macht’s gut!« und diese Art zu reden und ihr Gelächter – Mädchen, die ihn erschaudern ließen, wenn er daran dachte, dass Fleur Kontakt zu ihnen hatte, und die älteren patenten Frauen mit ihrem harten Blick, die im Leben zurechtkamen und ihn ebenfalls erschaudern ließen.

Nein! Seine alten Tanten, wenn sie auch nie ihre geistigen Hori­zonte, ihre Augen oder auch kaum ihre Fenster geöffnet hatten, hatten zumindest Manieren und Niveau gehabt, und Ehrfurcht vor Vergangenheit und Zukunft.

Mit einem Gefühl der Beklemmung schloss er die Tür und schlich leise die Treppe hinauf. Auf dem Weg nach oben sah er in einen der Räume: Hm! Perfekt erhalten im Stil der 1880er, mit einer Art gelbem Ölpapier an den Wänden. Oben an der Treppe zögerte er zwischen vier Türen. Welche davon war die zu Timothys Zimmer? Und er lauschte. Ein Geräusch wie das eines Kindes, das langsam ein Steckenpferd über den Boden zog, drang zu seinen Ohren. Das musste Timothy sein! Er klopfte und eine Tür wurde von Smither geöffnet, die sehr rot im Gesicht war.

Mr Timothy mache gerade seinen Spaziergang und sie habe ihn nicht dazu bringen können, ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn Mr Soames ins Hinterzimmer kommen wolle, könne er ihn durch die Tür sehen.

Soames ging ins Hinterzimmer und beobachtete ihn.

Der letzte der alten Forsytes war auf den Beinen und bewegte sich mit beeindruckender Langsamkeit und einer Ausstrahlung vollkommener Konzentration auf seine eigenen Angelegenheiten zwischen Bettende und Fenster hin und her, eine Strecke von gut drei Metern. Der untere Teil seines eckigen Gesichtes war nicht mehr glattrasiert, sondern von einem schneeweißen Bart bedeckt, der so kurz wie möglich geschnitten war, und sein Kinn sah so breit wie seine Stirn aus, über der das Haar auch ziemlich weiß war, während seine Nase, Wangen und Stirn recht gelblich waren. In der einen Hand hielt er einen dicken Stock, mit der anderen umfasste er den Stoff seines wollenen Morgenrocks, unter dem seine Knöchel in Bettsocken und seine in wollenen Hausschuhen steckenden Füße hervorschauten. Sein Gesichtsausdruck war der eines wütenden Kindes, das etwas wollte, was es nicht bekam. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, stieß er mit dem Stock auf und zog ihn dann hinter sich her, als wolle er zeigen, dass er ihn gar nicht brauchte.

»Er sieht immer noch kräftig aus«, flüsterte Soames.

»Oh ja, Sir. Sie sollten ihn sehen, wenn er sein Bad nimmt – es ist wundervoll, er genießt es so sehr.«

Diese recht lauten Worte brachten Soames zu einer Erkenntnis. Timothy war wieder auf dem Stand eines Kleinkindes.

»Zeigt er denn Anteil an den Dingen im Allgemeinen?«, sagte er ebenfalls laut.

»Aber ja, Sir! Am Essen und an seinem Testament. Es ist schon ein Anblick, ihn so zu sehen, wie er es wieder und wieder umdreht, natürlich nicht, um es zu lesen, und hin und wieder fragt er nach dem Preis von Staatsanleihen und ich schreibe es ihm auf eine Schiefertafel – ganz groß. Natürlich schreibe ich immer dasselbe, wie sie standen, als er das letzte Mal Notiz davon nahm, 1914. Wir haben den Arzt dazu gebracht, ihm zu verbieten, die Zeitung zu lesen, als der Krieg ausbrach. Oh, anfangs hat er sich fürchterlich darüber aufgeregt! Aber dann hat er sich schnell wieder beruhigt, weil er wusste, dass es ihn ermüdete, und es ist ein Wunder, wie er mit seiner Energie haushaltet, wie er es immer genannt hat, als meine lieben Herrinnen noch lebten, Gott habe sie selig! Wie er doch deswegen immer mit ihnen geschimpft hat, sie waren ja immer so rührig, wenn Sie sich erinnern, Mr Soames.«

»Was würde passieren, wenn ich zu ihm hineingehen würde?«, fragte Soames. »Würde er mich erkennen? Ich habe sein Testament erstellt, wissen Sie, nach Miss Hesters Tod 1907.«

»Ach, Sir«, erwiderte Smither zweifelnd, »dass kann ich nicht sagen. Ich halte es für möglich, er ist wirklich ein wundervoller Mann für sein Alter.«

Soames trat in die Tür, wartete darauf, dass Timothy sich umdrehte, und sagte mit lauter Stimme: »Onkel Timothy!«

Timothy ging die Strecke zur Hälfte zurück und blieb dann stehen.

»Eh?«, sagte er.

»Soames«, rief Soames so laut er konnte und streckte die Hand aus, »Soames Forsyte!«

»Nein!«, sagte Timothy, stieß mit seinem Stock laut auf den Boden und ging weiter.

»Scheint nicht zu funktionieren«, sagte Soames.

»Nein, Sir«, erwiderte Smither ziemlich niedergeschlagen. »Wissen Sie, er ist eben noch nicht fertig mit seinem Spaziergang. Bei ihm galt immer: eins nach dem anderen. Er wird mich wohl heute Nachmittag fragen, ob Sie wegen des Gaslichts da waren, und dann werde ich meine liebe Mühe haben, es ihm zu erklären.«

»Meinen Sie, er sollte einen Mann dahaben, der sich um ihn kümmert?«

Smither hob die Hände. »Einen Mann! Aber nein! Die Köchin und ich schaffen das sehr gut. Ein fremder Mann würde ihn in kürzester Zeit in den Wahnsinn treiben. Und meinen Herrinnen würde der Gedanke an einen Mann im Haus nicht gefallen. Außerdem sind wir so – stolz auf ihn.«

»Ich nehme an, der Arzt sieht nach ihm?«

»Jeden Morgen. Bei so häufigen Besuchen gewährt er Sonderkonditionen, und Mr Timothy ist so daran gewöhnt, dass er es gar nicht zur Notiz nimmt, außer dass er die Zunge herausstreckt.«

»Also mir«, sagte Soames, während er sich abwandte, »erscheint das ziemlich traurig und schmerzlich.«

»Aber Sir«, erwiderte Smither besorgt, »so dürfen Sie nicht denken. Nun, wo er sich um nichts mehr sorgen kann, genießt er sein Leben richtig, wirklich. Wie ich immer zur Köchin sage, Mr Timothy hat jetzt erst seine beste Zeit. Wissen Sie, wenn er nicht gerade seinen Spaziergang macht oder sein Bad nimmt, dann isst er, und wenn er nicht isst, dann schläft er, und das war es auch schon. Er ist völlig frei von Schmerz und Sorge.«

»Naja«, sagte Soames, »da ist wohl etwas dran. Ich gehe dann wieder nach unten. Ach, und lassen Sie mich sein Testament anschauen.«

»Dafür bräuchte ich etwas Zeit, Sir, er hat es unter seinem Kissen, und solange er in Aktion ist, würde er mich sehen.«

»Ich will nur wissen, ob es das ist, das ich aufgesetzt habe«, sagte Soames. »Sehen Sie mal nach dem Datum und lassen Sie es mich dann wissen.«

»Ja, Sir. Aber ich bin sicher, dass es das ist, wie Sie sich erinnern, waren ja die Köchin und ich Zeugen, und es stehen immer noch unsere Namen darauf, und wir haben nur einmal unterschrieben.«

»Richtig«, sagte Soames. Er erinnerte sich. Smither und Jane waren geeignete Zeugen gewesen, da ihnen im Testament nichts hinterlassen wurde, damit sie kein Interesse an Timothys Tod hätten. Es war – das gab er offen zu – eine fast schon unangemessene Vorsichtsmaßnahme gewesen, doch Timothy hatte es so gewollt, und schließlich hatte Tante Hester ja sehr gut für sie gesorgt.

»Gut«, sagte er, »Auf Wiedersehen, Smither. Passen Sie auf ihn auf, und sollte er irgendwann irgendetwas sagen, notieren Sie es und lassen Sie es mich wissen.«

»Aber ja, Sir! Das werde ich ganz sicher machen. Es war eine so schöne Abwechslung, Sie zu sehen. Die Köchin wird ganz aufgeregt sein, wenn ich ihr davon erzähle.«

Soames schüttelte ihre Hand und ging die Treppe hinunter. Er blieb ganze zwei Minuten neben dem Hutständer stehen, an den er seinen Hut schon so viele Male gehängt hatte. So vergeht alles, dachte er, es vergeht und fängt von Neuem an. Der arme alte Kerl! Und er lauschte, ob vielleicht das Geräusch des Steckenpferdes, das Timothy über den Boden zog, ins Treppenhaus hinunterklänge, oder ob der Geist irgendeines alten Gesichtes über dem Geländer auftauchen und eine alte Stimme sagen würde: Na sowas, der liebe Soames! Und wir haben gerade noch gesagt, dass wir ihn schon seit einer Woche nicht mehr gesehen haben!

Nichts – nichts! Nur der Duft von Kampfer, und Staubkörner in einem Sonnenstrahl, der durch das Fenster über der Tür hineinfiel. Das kleine alte Haus! Ein Mausoleum! Und er drehte sich um, ging hinaus und zu seinem Zug.

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