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6. Kapitel.
Der Detektiv

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Inhaltsverzeichnis

Den ersten lähmenden Schrecken überwand Felicia schnell, aber ihr Herz zog sich in tiefem Leid zusammen, als sie sich über den Onkel beugte und ihre Finger nach seiner Hand tasteten, die sich noch warm anfühlte.

Wenn sie auch wußte, daß sie es wohl mit einem Toten zu tun hatte, so klammerte sie sich dennoch an die Hoffnung, daß sie sich irrte. Sie stürzte hinaus und stieß auf der Diele mit Ida zusammen, die soeben von Einkäufen zurückkehrte.

»Zum Arzt! – Schnell einen Arzt!« schrie sie der Erschrockenen zu.

»Arzt? – Wieso? – Warum das?!«

Die Magd blickte durch die nun weit offenstehende Tür ins Zimmer, schrie auf und war mit zwei – drei Schritten bei der leblosen Gestalt ihres Brotherrn. Sie wurde dabei so bleich, daß Felicia eine Ohnmacht fürchtete, erholte sich aber überraschend schnell. Ihr Fuß berührte die immer noch am Boden liegende Waffe. Mit einem seltsamen Ausdruck ihres einen Auges starrte sie das junge Mädchen schweigend an.

»Arzt!« brachte sie dann abgerissen hervor. »Ja –!« Damit hastete sie hinaus und gleich darauf vernahm man ihre eiligen Schritte aus der Treppe.

Felicia aber sank auf den Diwan, begrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte fassungslos. Onkel Halahan war nicht mehr, und kaum vierundzwanzig Stunden hatte dieses so vielversprechende Beisammensein gedauert. Alles – alles hätte sie darum gegeben, wenn es möglich gewesen wäre, ihn zum Leben zurückzurufen.

Wie lange sie so lag, wußte sie selbst nicht. Sie kam erst wieder zu sich, als sie draußen Stimmen hörte. Schnell riß sie sich zusammen und betrat den Vorplatz. Gerade war das Mädchen zurückgekehrt, und bei ihr befand sich ein behäbiger Schutzmann, der sich wie ein wandelnder Koloß hereinschob.

»Arzt ist unterwegs«, sagte er kurz und mit hartem, sachlichem Ausdruck. »Welches Zimmer? – Bitte zeigen.«

Er stutzte, als er den Revolver bemerkte, ging behutsam darum herum und musterte den Toten. Dann erschien der Arzt, dessen Untersuchung jedoch sehr schnell beendet war.

»Tot«, flüsterte er.

»Jawohl, Sir«, bestätigte der Beamte. »Können Sie mir wohl sagen, wie lange?«

»Höchstens zwanzig Minuten. Kann auch weniger sein.«

Felicia, die sich in der Nähe der Tür aufhielt, begann zu schwanken, doch fing sie der Polizist sofort aus und half ihr aus dem Zimmer.

»Kommen Sie, Miß«, sagte er freundlich und führte sie zu einer Bank im Korridor.

»Bleiben Sie vorläufig hier sitzen, und Sie«, er wandte sich an Ida, »Sie warten in der Küche, bis Sie gerufen werden.« Darauf trat er zum Fernsprecher und sprach schnell und abgerissen mit jemandem. Das junge Mädchen hörte kaum hin.

»So«, erklärte er, indem er den Apparat beiseite schob. »Jetzt wollen wir erst mal Ihre Aussagen notieren. Sie waren doch zuerst hier, nicht wahr?«

Felicia sagte, was sie wußte, dabei kam ihr aber die eigene Stimme ganz fremd vor. Das Ganze hatte ja so etwas unheimlich Traumhaftes. Erst ein scharfes Klingeln an der Wohnungstür riß sie in die Wirklichkeit zurück. Ein uniformierter Beamter trat ein. Kurze Zeit verhandelten die beiden Männer halblaut miteinander, wobei der Schutzmann sein Notizbuch zeigte, und dann blickte der zuletzt gekommene zu Halahans Nichte hinüber.

»Gut so, Collins«, sagte er. »Bleiben Sie bitte hier.«

Inspektor Cardew nahm zunächst nochmals eine sehr genaue Untersuchung des Tatbestandes vor. »Mr. Halahan kann sich die Wunde nicht selbst beigebracht haben, Doktor?« fragte er.

»Ausgeschlossen. Jemand hat aus einiger Entfernung aus ihn gefeuert. – Da liegt ja auch noch die Mordwaffe.«

Der Inspektor maß die Entfernung. Sie betrug 4,98 Meter. Darauf, um etwaige Fingerabdrücke nicht zu verderben, streifte er seine Handschuhe über und hob die Pistole aus.

»Nur eine Patrone verfeuert«, stellte er fest und legte das Ding wieder an seinen Platz.

»Die Kugel ist glatt hindurchgegangen und steckt in der Stuhllehne«, belehrte ihn der Arzt. Er nahm sein Taschenmesser und schlitzte den Polsterstoff auf. Gleich darauf hielt er das Geschoß in der Hand.

Nunmehr nahm der Inspektor eine große Tischdecke und breitete sie über den Toten. Dann trat er zur Tür. »Ach bitte, Miß Drew, kommen Sie doch mal eben herein. Ich muß Ihnen einige Fragen stellen.«

Felicia erschien. Sie war sehr blaß, bewahrte aber ihre Haltung.

»Als Sie hier eintraten, haben Sie da den Revolver bemerkt?«

»Ja.«

»Lag er an derselben Stelle wie jetzt?«

»Ja.«

»Haben Sie die Waffe seitdem berührt?«

»Nein.«

Das geöffnete Notizbuch des Polizisten lag vor dem Inspektor. »Haben Sie die Pistole schon früher einmal gesehen?«

»Freilich; sie ist mein persönliches Eigentum. Ich gab sie meinem Onkel erst gestern abend, weil er mich darum bat.«

»Er bat sie darum? Weshalb?«

Felicia erklärte es mit wenigen Worten. Erst jetzt kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie sich selbst in einer gewissen Gefahr befand. Allerdings berührte sie der Gedanke nicht sonderlich, denn ihr ganzes Empfinden wurde von dem Schmerz über den Verlust des Onkels beherrscht.

Ihre Sinne waren wach, aber – wie sonderbar sich der Mensch doch mitunter durch Belanglosigkeiten ablenken läßt! – sie sah bei ihren Antworten weder den Inspektor noch die Waffe an, sondern ihr Auge richtete sich starr auf ein Bildnis, das unmittelbar links neben der Tür hing. Es stellte einen Vorfahren des Verstorbenen dar, einen würdigen Herrn in altmodischer Tracht. Der Mann schien ihr spöttisch zuzulächeln. Endlich riß sie sich los und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem fragenden Polizeibeamten zu.

»Also der Revolver gehört Ihnen?« erkundigte sich Cardew. »Kennen Sie irgend jemanden, der am Tode des Mr. Halahan Interesse haben könnte?«

»Nein. Ich bin zwar selbst erst seit gestern hier, aber ich glaube nicht, daß er Feinde hatte. Mein Onkel war der gütigste Mensch, den ich je kennenlernte.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt vor seinem Tode gesehen? – So; heute nachmittag gegen drei. Was waren seine letzten Worte? Bitte, wollen Sie mir mal genau Ihr letztes Zusammensein schildern.«

»Er sagte – es handelte sich um Privatangelegenheiten, und er erzählte mir, daß er bei seinem Rechtsanwalt gewesen sei.« – Felicia schwieg verwirrt.

»Bei seinem Anwalt? Sie dürfen mir das ohne weiteres anvertrauen, denn sonst müßten wir uns nur mit dem Anwaltsbüro unmittelbar in Verbindung setzen.«

»Natürlich verschweige ich nichts. Ich wüßte wirklich auch nicht warum. Mein Onkel sagte mir, daß er sein Testament gemacht und mich zur Erbin eingesetzt habe, und ich erklärte ihm, daß er das nicht tun solle, weil ich innerhalb weniger Monate ein großes Vermögen von anderer Seite erben werde.«

»So? – Wie ist es denn aber jetzt? Haben Sie Geld? Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten.«

»Ich bekomme wöchentlich vier Pfund. Die Herren Pelham und Weeks am Mecklenburg Square können Ihnen darüber Auskunft geben.«

»Hm. – Und haben Sie selbst Ihren Onkel um Geld gebeten? Ich frage das, weil seine Brieftasche zwanzig Pfund enthält.«

»Nein. Er gab mir aber von sich aus siebzig Pfund, die er mir schuldete. Ich erhielt die Summe, ehe ich ausging.«

»Sie besitzen das Geld noch?«

Felicias Nerven drohten zu versagen. »Das meiste davon habe ich ausgegeben.«

»In der kurzen Zeit fest drei Uhr nachmittags?« wunderte sich der Inspektor. »Na, lassen wir das vorläufig. – Eine Meinungsverschiedenheit oder dergleichen zwischen Ihnen und Mr. Halahan hat es nicht gegeben, Miß Drew? – Nein. Und als Sie heimkehrten, fanden Sie ihn hier. – Sie trafen mit der Magd zusammen, als Sie gerade Hilfe holen wollten? – Hörten Sie im Heraufkommen irgend etwas, was wie ein Schutz klang?«

»Nein.«

»Sind Sie dessen ganz sicher? Ist Ihnen irgend jemand begegnet? – Aus der Treppe zum Beispiel?«

»Nein. Ich habe niemanden gesehen.«

»Gut. Bitte warten Sie einen Augenblick.« Inspektor Cardew ging zur Tür und sprach mit dem Polizisten. Gleich daraus betrat das Dienstmädchen Ida das Zimmer. Sie starrte aus ihrem einen Auge erst Felicia und dann den Beamten an.

»Name?« fragte Cardew. »Ida Jevons? – Seit einem Monat hier in Stellung. – Übrige Dienerschaft wohnt auswärts. – Sehr schön. Und wann verließen Sie heute die Wohnung?«

»Um zwei. Mr. Halahan hatte mir den Nachmittag frei gegeben, ich sollte aber um sechs Uhr wieder da sein. Zwei Minuten nach sechs kam ich zurück.«

»Können Sie nachweisen, wo Sie sich inzwischen aufhielten?«

»Freilich«, erklärte Ida ohne Zögern. »Mein Bräutigam kann das bezeugen. – Ich kann Ihnen seine Adresse geben. Er hat mich bis zur Straßenecke begleitet, und es schlug gerade sechs, als er ging. Da sah ich auch Miß Drew gerade ins Haus treten. Ich verabschiedete mich von James – so heißt mein Freund – und bin auch nach Hause gegangen.«

»Um wieviel später?«

»Ich sollte meinen, so ungefähr zwei Minuten. Mehr wohl nicht.«

»Haben Sie irgend einen Menschen während dieser Zeit das Haus verlassen sehen?«

»Nein.«

»Und ist Ihnen beim Hinaufgehen irgend etwas ausgefallen?«

»Ja. Erstens war der Lift seit mittags außer Betrieb, weil was daran kaputt ist, und dann hörte ich oben ein Geräusch, wie ich beim zweiten Stock ankam.«

»Was war das für ein Geräusch?«

»Je nun, ich dachte, es schmeißt jemand eine Tür zu.«

»Also ein Knall. Haben Sie das mehrfach gehört?«

»Nein, nur einmal.«

»Sie können das beschwören?«

»Ja«, beteuerte Ida.

»Und dann?«

»Ich schloß die Wohnungstür aus und Miß Drew kam mir furchtbar aufgeregt entgegen: ich sollte sofort einen Doktor holen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und da – da lag der gute Herr mit seinem Kopf hintenüber.« Ida schluchzte ein paarmal auf. »Und die Pistole, die lag auf dem Boden.«

»Wo?« fragte Inspektor Cardew.

»Gerade da bei der Tür, wo sie jetzt liegt. – Ich lief dann auf die Straße und hielt den Schutzmann an, und der telephonierte nach dem Doktor, denn ich wußte keinen, und dann sind wir hierher geeilt.«

Inspektor Cardew hob nochmals die Waffe auf. – »Haben Sie das Ding schon vorher gesehen?«

»Nein, aber ich hörte, wie Miß Drew davon sprach.«

»So? Das hörten Sie? – Wie und wann?«

»Wie ich gestern abend die Diele aufräumte, ehe ich zu Bett ging, da mußte ich auch die Fußmatte vor dem Wohnzimmer wieder gerade richten, denn sie lag ganz schief. Dabei hörte ich, was drinnen gesprochen wurde, denn es wurde sehr laut gesprochen. Mr. Halahan sagte: »Was braucht überhaupt ein Mädel wie du ein Schießeisen zu haben?« Und dann sagte Miß Drew: »Ich habe oft damit geschossen und ich schieße gar nicht schlecht.« Aber Mr. Halahan wollte die Pistole haben und dann antwortete Miß Drew etwas hitzig: »Nein, die bekommst du nicht, denn ich gebe nichts her, was mir gehört.« Mr. Halahan lachte ein wenig und sagte: »Tue, was du willst, aber ich warne dich. Du bist nicht danach angetan, eine Pistole zu besitzen, und wirst nur Unheil damit anrichten. So, und jetzt gehe zu Bett.« – Ich bin dann selbst zu Bett gegangen, aber ich hörte noch, wie Miß Drew schnell aus dem Zimmer herauskam. Das Ganze ging mich ja eigentlich nichts an, aber es fiel mir auf.«

Felicia hätte mit wachsendem Erstaunen der Erzählung des Mädchens zugehört. Jetzt aber vermochte sie sich nicht länger zu beherrschen. »Die Person lügt ja!« rief sie in heller Empörung.

Ida fuhr herum. »Ich – lügen!« fauchte sie. »Was für'n Grund sollte ich wohl zum Lügen haben?! Sie wissen auch ganz genau, daß es so war – Sie – Sie! O, der gute, gute alte Herr! Er würde schon sagen, wer hier lügt, wenn er es nur könnte!«

Schweigend beobachtete der Inspektor die Szene. Er griff erst ein, als die Magd hemmungslos zu keifen begann. »Das genügt, Ida. Gehen Sie jetzt wieder in die Küche.«

Sie verschwand heftig schluchzend und unter einer Flut von Tränen.

Als sie gegangen war, wandte sich der Beamte an Felicia. »Sie sind verhaftet, Miß Drew.«

Felicia war wie vor den Kopf geschlagen. Glich denn das alles nicht einem wüsten, beängstigenden Traum? Selbst die Stimme des Inspektors hatte etwas Unwirkliches und schien aus weiter Ferne zu kommen. Vergebens rang sie nach Worten.

Der Schutzmann trat ein.

»Bringen Sie Miß Drew zur Bezirksdirektion«, befahl der Inspektor. »Sie ist in Untersuchungshaft zu nehmen. Ich werde bald folgen.«

Felicia wurde hinausgeführt.

Der Arzt, der die ganze Zeit über schweigend am Tisch gesessen hatte, stand auf. Er ließ sich nicht so leicht beeindrucken, jetzt aber sah er ganz erschüttert aus. – »So'n Bild von einem Mädel«, murmelte er. »Man sollte doch wirklich nicht glauben, daß –«

»Lieber Herr Doktor, wenn man langjährige Erfahrungen in derlei Dingen hat, dann wundert man sich über nichts mehr«, versetzte Inspektor Cardew.

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