Читать книгу John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay - Страница 7

Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt

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Erstes Kapitel – Im Herzen der Weltstadt

Über London hin begann sich ein nasskalter Oktoberabend zu breiten. Es war der Oktober desselben Jahres, in welchem noch nicht fünf Monate vorher jene albernen Feierlichkeiten der fünfzigjährigen Regierungszeit einer Frau, welche sich „Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien“ nennen ließ, in Szene gesetzt waren, nach denen das Jahr 1887 „Jubilee Year“ genannt wurde.


Königin Victoria – 1819 – 1901

An diesem Abend – es war der letzte einer Woche – suchte sich durch wirre, enge und fast leere Gassen ein Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach der Eisenbahnbrücke von Charing Cross seinen Weg. Als er langsam, wie ermüdet von einem stundenweiten Gange, die Holztreppe, welche zu einem schmalen, neben den Schienen sich hinziehenden Fußgängerpfad der Brücke führt, hinaufgestiegen und ungefähr der Mitte des Flusses angelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen nach der Wasserseite hin und stand dort eine Weile, während er die Menschen hinter sich vorbeitreiben fühlte. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn Halt machen und die Themse hinunterblicken ließ. Da er trotz seines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur selten „jenseits der Themse“ gewesen war, so versäumte er nie, bei Überschreitung einer der Brücken den großartigen Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in sich aufzufrischen.


London Waterloo Bridge

Es war noch eben hell genug, dass er bis nach Waterloo Bridge hin zu seiner Rechten die dunklen Massen der Lagerhäuser und auf dem Spiegel der Themse zu seinen Füßen die Reihen der aneinandergekoppelten weitbauchigen Frachtkähne und Flöße erkennen konnte, doch flammten bereits all die Lichter des Abends in das dunkle, gähnende Chaos dieser ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen sich die beiden Laternenreihen auf Waterloo Bridge hin und jedes der Lichter warf seinen scharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, während zur linken in terrassenförmigem Aufstieg die ungezählten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit seiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Dastehende sah drüben auf der Brücke die vorhuschenden Lichter der Cabs; er hörte hinter sich die Züge der Südostbahn rasselnd und dröhnend in die Halle von Charing Cross hineinrasen und wieder hinaus; sah unter sich die trägen Wellen der Themse mit fast unhörbarem Plätschern an der sich tief herabziehenden dunkelschwarzen Schlammmasse lecken, und indem er sich zum Weitergehen wandte, öffnete sich vor ihm – von weißen Fluten des elektrischen Lichtes taghell durchleuchtet – die Riesenhalle des Bahnhofs von Charing Cross, dieser Mittelpunkt eines Tag und Nacht nicht rastenden Getriebes...


Charing Cross

Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!

Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen Liebe des Trotzes.

Denn man liebt London entweder oder man hasst es...

Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, dass er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußwege schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hin gespült würde. Es war, als ob der Zögernde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und all hin gewirrt die tausend und abertausend Lichter...

Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpf brausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halb hell erleuchtet unter ihm. Starr und ernst hob sich die Nadel der Kleopatra in die Höhe.

Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burschen und Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. „Do not forget me – do not forget me“ war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. „Do not forget me“ – all konnte man es im Jubilee Year in London hören... Es war das Lied des Tages.

Wer das Gesicht des eben den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: Wie viel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all' das Große, das er um sich sah, geschaffen.

Schweiß und Blut werden abgewaschen und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessenen...


Hungerford Suspension Bridge

Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die „soziale“ genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht – in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben „den Anderen“ das Leben gibt...

* * *

Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: Dieser wollte noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten – verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt – ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm den ‚Preis’ handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend – Auban sah Alles: Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Voreilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehen geblieben war, sich an ihn drängte und ihm die neueste Nummer der „Matrimonial News“ – „für Alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen“ ,– aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem Nächsten zuwandte, als er sah, dass er keine Antwort erhielt.

Auban ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als dass es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs Neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und all fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennen lernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt... Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel – weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher – gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hingestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth – jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends –, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseiten jenes Lebens zu zeigen.

Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Nortumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo schlugen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorgehenden hatte sich zusammengeschart: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikatur-Kostüm und mit verrußtem Gesicht – wer hat die bizarren Gestalten dieser „Neger-Komödianten“ nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? – sein Instrument, während zu den Tönen desselben ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.

– Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von Neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehasste, der gefürchtete.

* * *

Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vor. Aber Auban wusste, dass an nasskalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepresst, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem „Arm des Gesetzes“ auseinander getrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die „Parias der Gesellschaft“, die in Wahrheit Willenlosen... Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem Jahre an diesem selben Orte erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, dass er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen – :

Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um Einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht in einem der Lodging-Häuser, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er diese Stufen niedergeschritten war – der Tunnel war füllt mit Menschen, die, nachdem sie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, am letzten angelangt waren – sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches – an der Brust einen Säugling – ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich mehr schleppte als zog, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte.

– Zwei Schilling nur, Gentleman – zwei Schilling nur. Er war stehen geblieben, um sie zu fragen.

– Zwei Schilling nur – sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.

Ein Schauder lief ihn. Aber die flehende und wimmernde Stimme des Weibes ertönte weiter.

– Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen – nur zwei Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch ... Und wieder riss sie das Kind an sich.

Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn schlich. Er wandte sich, unbewusst und unfähig, ein Wort hervorzubringen, zum Gehen.

Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, das Mädchen losriss und sich an ihn anklammerte.

– Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. – Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern – nehmen Sie sie mit – hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht – tun Sie es doch – tun Sie es doch!

Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.

– Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell. Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfasste.

Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.

– Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, – sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu; keiner hatte der Scene geachtet.

Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.

Acht Tage nach diesem suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wieder finden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als dass er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg...

Dann vergaß er dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut – Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren – sich darbieten – und war unfähig, zu helfen!

Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß musste das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem „Scheusal von Mutter“ und von dem „verkommenen Kinde“ – die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde. – –

Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es ist heute das größte Verbrechen, arm zu sein. Gut so. Umso schneller muss die Erkenntnis kommen, dass die einzige Rettung darin besteht, dieses Verbrechen zu unterlassen.

Die Wahnsinnigen, murmelte Auban vor sich hin, – die Wahnsinnigen – sie sehen alle nicht, wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben –. Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.

Wie deutlich er heute Abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: „Do it! do it!“ zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf.

* * *

Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle – diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: Hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht schwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allmählich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand – und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten...

Auban kannte Alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sand-Ufer...

Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte in der nebeligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.

Der „Strand!“ West-End und City verbindend lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut; zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, besät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem anderen; ein Hansom, leicht, behänd auf seinen Zweirädern dahinhuschend, hinter dem anderen; dröhnende Lastwagen; tote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bycicles...

Das East-End ist die Arbeit und die Armut, aneinander gekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der sie verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street, und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen, in welchen Du Menschen aus allen Stadtteilen siehst: Der Arme trägt seine Lumpen und der Reiche seine Seide hierher. Wenn du dein Ohr öffnest, kannst du die Sprachen der ganzen Welt hören: Die Restaurants haben italienische Eigentümer, deren Kellner französisch mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich so viel erwerben, dass sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort ‚anständig’ werden können.

Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen – alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet, und die Jeder mitspielt, wird er geladen, – wenn man sie in seine hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden, von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden, in seinem kalten Somerset-Haus; und der Strand hat seine Theater, mehr Theater, als irgend eine Straße der Welt.

So ist er der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt, und den seine meist engen und aufeinander gepressten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verlässt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.

Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische Licht die Straße – die Gasflammen weit strahlend – mit seinem hellweißen Licht schimmerte, konnte man sehen, dass er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Fuß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.

Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorgehenden mit ihrem unaufhörlichen „Penny a bunch!“ zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Spezial-Editions los sein wollten, um noch in „Gattis Hungerford Palace“ Charlie Coborn – den ‚inimitable’ – in seinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure tönt worden wäre.


Trafalgar Square

Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt verleiht, benutzte Auban die erste Sekunde, in welcher die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu schreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im Geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm „Etwas zu sagen“ – Etwas von einer „jungen Dame“ – und befand sich nach drei Minuten an den erleuchteten Eingängen der „Alhambra“, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem füllten Hause zu erlangen hofften.


Alhambra

Auban ging gleichgültig vor, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen – Reklameproben aus dem neuen Monstreballett „Algeria“, dem halb London zuströmte – zu werfen.

Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no darkness but ignorance“ – stand dort. Wer las es? ...

An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban musste sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles tönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: – „ Chéri, chéri –“, mit denen sie sich an jeden Voreilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.

Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.

Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechszehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, dass sie schon lange so gewandert waren – immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend –; an einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme – alle Deutschen schreien in London – sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: Die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in welchen Auban hineingestoßen wurde, so dass er die Szene mit ansehen musste, die sich nun abspielte: Eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrien einander an. „Da“ – brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurück empfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher, bis einer der Zuschauer sie auseinander riss, worauf sie ihre Sachen – die eine ihren zerbrochenen Schirm, und die andere ihren Fetzen von Hut – auflasen und der Haufe sich lachend nach allen Seiten zerstreute.

Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene – eine unter unzähligen – was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, dass die Methode, das Volk in Rohheit zu erhalten, um dann von dem ‚Mob’ und seiner Verkommenheit zu sprechen, noch immer vortrefflich anschlug?

Musikhallen und Boxereien – sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus, an den Sonntagen Gebete und Predigten –: vortreffliche Mittel gegen das „gefährlichste Übel der Zeit“ – das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.

Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.

Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street – sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt, unterstützt von den „zivilisierten“ Staaten des Festlandes, ein Angebot, das sogar eine unersättliche Nachfrage steigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.

Wie wundervoll bequem – dachte Auban – machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut – ein notwendiges Übel; die Prostitution – ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel, als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen, und alle Entwicklung hemmen... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die „Reformarbeit“. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz – und heutzutage muss sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem „materiellen Dahinleben“ ist es nicht mehr getan. „Betrogene Betrüger! vom Ersten bis zum Letzten“, sagte Auban lachend vor sich hm; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.

Aber dieser Mann, welcher wusste, dass es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit als die bewusste Lüge erkaufter Priester verachtete, oder als die bewusst- und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, so oft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, dass hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch.

Was ist dem Besitzenden das Volk – das Volk, welches „nicht zu gut behandelt werden darf“, damit es nicht übermütig wird? Gleichberechtigte Menschen mit den gleichen Wünschen an das Leben, wie sie selbst? Törichte Schwärmereien! Eine Arbeitsmaschine, die besorgt werden muss, damit sie ihren Dienst tun kann. Und es fiel Auban die Strophe aus einem englischen Liede ein: „Unsere Söhne dienen ihnen bei Tage, unsere Töchter dienen ihnen bei Nacht – –.

Ihre Söhne – gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung – in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die für sie arbeitet? Arbeit ist ihre Pflicht. Und diese Hände sind so schmutzig – von der Arbeit eines ewig währenden Tages.

Ihre Töchter – gut genug als Abzugskanal für den trüben Strom ihrer Lüste zu dienen, der sich sonst die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Mütter und Töchter ergießen würde. Ihre Töchter bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Verzweiflung nicht?!

Aber hier – hier allein! – zieht die so Geopferte ihre Mörder hinein in den Strudel ihres Verderbens.

Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet sich unser ganzes geschlechtliches Leben – das hier zügellos rasende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte – ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der sie hört, da keiner vor ihnen sicher ist. Und wie es einen bereits unübersehbaren Teil der Jugend unserer Tage durchfressen hat, so steht es schon wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Fluches einer noch im Schlummer liegenden Generation.

Auban wurde gezwungen aufzusehen.

Aus dem Restaurant des London Pavillion, dessen Gasfackeln ihre Lichtströme Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schar von jungen Männern der jeunesse dorée. Auf ihren geistlosen, brutal-verlebten Gesichtern stand ihre ganze Beschäftigung nur allzu deutlich: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natürlich in full dress: Aber die Zylinderhüte waren eingedrückt und aus den schwarzen Fräcken sahen von Whisky und Zigarrenasche beschmutzte und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelächter und zynischen Ausrufen umstellten die Einen einige der Halbweltlerinnen, während die Anderen nach Hansoms schrien, die eilfertig angefahren kamen; die sich kreischend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeschoben und das Singen der Trunkenen erstarb in dem Fortrollen der Wagen.


Piccadilly Circus

Auban schaute den Platz. Dort vor ihm – Piccadilly hinunter – dehnte sich eine Welt des Reichtums und des Wohllebens aus: die Welt der aristokratischen Paläste und der großen Klubs, der luxuriösen Läden und der fashionablen Kunst – das ganze sättigte und raffinierte Leben der „großen Welt“... das Trugleben des Scheins...

Der Blitz der kommenden Revolution muss hier zuerst einschlagen. Es kann nicht anders mehr sein...

Als Auban die Straße schritt, fiel ihm die zerlumpte Gestalt eines Mannes auf, der unablässig, so oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedes Mal, wenn sein Besen die Arbeit getan, bescheiden auf die Aufmerksamkeit derer wartete, deren Füße er vor einer Berührung mit dem Schmutze bewahrt hatte: Und es kam Auban die Lust an, zu sehen, wie viele diesen Dienst überhaupt bemerken würden. Er lehnte sich etwa fünf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangbogen von Spiers und Ponds Restaurant am Criterion und schaute der unermüdlichen Arbeit des Alten zu. In diesen fünf Minuten schritten etwa dreihundert Personen trockenen Fußes die Straße. Den Alten sah keiner. – Ihr macht keine guten Geschäfte? fragte er ihn, als er ihm näher kam.

Der Alte griff in die Tasche seines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferstücke.

– Das ist alles in drei Stunden. – Das ist nicht genug für euer Nachtlager, sagte Auban und legte ein Sixpencestück hinzu.

Und der Alte sah ihm nach, wie er langsam mit seinen mühsamen Schritten den Platz ging.

Hinter Auban versanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmäßigen Häuser des Quadrants von Regents Street; und während sich die Weite hinter ihm verengerte und der brausende Lärm sich verlor, schritt er sicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho... Um dieselbe Stunde – die neunte war nicht mehr fern – kam von Osten aus der Richtung von Drury Lane her auf Wardour Street zu mit der unsicheren Schnelligkeit des Ganges, welche verrät, dass man sich in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und doch gerne schnell ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, ein Mann von etwa vierzig Jahren in der unauffälligen Kleidung eines Arbeiters, die sich in London nur durch ihre Einfachheit von der des Bürgers unterscheidet. Als er – überzeugt, dass er bei weiterem Forteilen in der eingeschlagenen Richtung schwerlich bald seine Ungeduld befriedigen würde – still stand und vor einem der zahllosen Public-Häuser einen der dort herumstehenden Burschen nach seinem Wege fragte, zeigte dessen vergebliches Bemühen, die erbetene Auskunft möglichst klar und verständlich zu machen, dass der Frager ein Ausländer sein musste.

Indessen schien dieser endlich die Erklärungen verstanden zu haben, denn er schlug eine von der vorher genommenen völlig verschiedene Richtung ein. Er wandte sich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, schmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er sich plötzlich in dem betäubenden Lärm einer jener Verkaufsstraßen, in denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel am Samstagabend mit dem Lohn der vergangenen Woche ihre Bedürfnisse für den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren besetzt mit zwei endlosen Reihen von sich dicht hintereinander drängenden Wagentischen und Gestellen, dicht beladen mit jedem von den tausend Erfordernissen des täglichen Lebens, und zwischen ihnen ebenso wie auf den engen Trottoirs an den geöffneten und füllten Läden vorbei, drängte und quetschte sich eine unruhige und feilschende Masse, deren Schreien und Lärmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreisenden Verkäufer tönt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Länge von dem flackernden Scheine unzähliger Petroleumflammen in eine blendende Helle, eine Helle, wie sie das Licht des Tages nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfüllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden übersät mit zertretenen Abfällen aller Art, welche das Gehen auf dem glitschigen, unregelmäßigen Steinpflaster noch erschwerten.

Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewühl hineingeraten und drängte sich durch, so schnell es ging. Er hatte kaum einen Blick für die rings aufgespeicherten Schätze: die Bänke mit den großen, rohen, blutigen Fleischstücken; die hochbeladenen Karren mit Grünkraut jeder Sorte; die Tische, voll von altem Eisen und Kleidern; die langen Reihen von aneinander gebundenem Schuhwerk, welche sich über ihm fort und über die Straße spannten; für den ganzen undurchdringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, welcher ihn umtoste und umdrückte. Als sich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren rücksichtslos durch das Gewühl stieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm herzugehen, und kam so schneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der nächsten Kreuzstraße, wo sich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillstehens ermöglichte.

Da, als er sich umsah, erblickte er auf der anderen Seite der Straße plötzlich Auban. Überrascht, seinen Freund so unverhoffter Weise und in dieser Gegend zu sehen, eilte er nicht sogleich zu ihm; und dann – als er schon die Straße halb schritten hatte – trat er in das Gedränge zurück, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier? – Er blickte in der nächsten Minute aufmerksam zu ihm hin.

Auban stand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public-Hauses umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: – „Have a drink!“ Er stand da, etwas nach vorn gebeugt, mit beiden Händen auf seinen zwischen die Knie geklemmten Stock sich stützend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewühl starrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen. Seine Züge waren ernst; um den Mund lag eine scharfe Falte und seine tiefliegenden Augen hatten einen starren und trüben Blick. Seine glattrasierten Wangen waren mager und die scharfe Nase gab den Zügen seines schmalen und feinen Gesichtes den Ausdruck starker Willensfähigkeit. Ein dunkler weiter Mantel fiel nachlässig an der ungewöhnlich langen und schmalschulterigen Gestalt nieder, und als ihn der andere von der gegenliegenden Straßenecke so dastehen sah, fiel ihm zum ersten Male auf, dass er ihn seit Jahren nie anders gesehen hatte, als in demselben weiten Anzug von demselben bequemen Schnitt und derselben einfachsten, dunklen Farbe. Genau so schlicht und doch so auffällig war seine äußere Erscheinung gewesen, als er ihn – wie lange war es her: sechs oder sieben Jahre schon? – in Paris kennen gelernt hatte, und genauso unverändert wie damals mit denselben gleichen scharfen und trüben Zügen, die höchstens blasser und grauer geworden waren, stand er heute da drüben, nachlässig und unbekümmert in grübelnden Gedanken inmitten des sich hastenden und freudlosen Treibens des Samstagabends von Soho.


Da kam er auf ihn zu: starr geradeaus blickend. Aber er sah ihn nicht und wollte an ihm vorgehen.

– Auban! rief der andere.

Der Gerufene fuhr nicht zusammen, aber er wandte sich langsam zur Seite und sah mit einem leeren und abwesenden Blick in das Gesicht des ihn Rufenden, bis der ihn am Arm packte:

– Auban!

– Otto?! fragte der Angerufene da, aber ohne Erstaunen. Und dann, fast flüsternd, und in dem belegten, halb noch im Grauen belegten Tone des Erwachenden, der von seinem schweren Traume erzählt, leise, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: „Ich dachte an etwas anderes: – an das Elend, wie groß es ist, wie ungeheuer, und wie langsam das Licht kommt, wie langsam ...“

Der andere sah ihn erstaunt an. Aber schon lachte Auban jäh erwacht auf, und in seinem gewohnten beherrschten Tone fragte er dann:

– Aber in aller Welt, wie kommst du aus deinem East End nach Soho?

– Ich habe mich verlaufen. Wo ist denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?

Aber Auban nahm ihn lächelnd an der Schulter und drehte ihn um.

– Nein, dort. – Pass auf: Vor uns liegt der Norden der Stadt, die ganze Länge von Oxford Street; hinter uns der Strand, den du wohl kennst; dort, wo du herkommst – du kommst doch von Osten? – ist Drury Lane, und das frühere Seven Dials, von dem du gewiss schon gehört hast. Seven Dials, die frühere Hölle der Armut; jetzt „zivilisiert“. Hast du noch nicht die berühmte Vogelhändlerstraße gesehen? – Sieh, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und machte mit seiner Hand eine Bewegung nach Osten hin: In diesen Straßen bis Lincolns Inn Fields drängt sich ein großer Teil des Elends von West End. Was glaubst du wohl, was man nicht geben würde, könnte man es ausmisten und nach dem Osten drängen? – Was nützt es, dass sie weite Straßen durchschlagen, genauso wie Haußmann, der Seinepräfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen so leichter begegnen zu können, was nützt es? Es drängt sich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstagabend, an dem ich dieses Viertel zwischen Strand und Regents Street und Lincolns Inn, zwischen Strand und Oxford Street nicht schreite – es ist ein Reich für sich und ich habe hier reichlich so viel gesehen wie im East End. – Bist Du zum ersten Male hier?

– Doch, wenn ich nicht irre. War denn nicht früher der Klub hier?

– Ja. Aber näher an Oxford Street. – Übrigens wohnen hier eine Menge Deutsche – nach Regents Street zu in den besseren Straßen.

– Wo ist denn das Elend am schlimmsten?

– Am schlimmsten? – Auban dachte einen Augenblick nach.

– Wenn du in Drury Lane einbiegst – die Courts der Wild Street; dann das schreckliche Gewirr von fast zusammenbrechenden Häusern in der Nähe des Old Curiosity Shop, den Dickens beschrieben hat, mit den schmutzbedeckten Durchgängen; überhaupt die Nebenstraßen von Drury Lane, besonders im Norden, an den Queen Streets; und weiter hierher vor allem die früheren Dials, die Hölle der Höllen –.

– Kennst Du alle Straßen hier?

– Alle –.

– Aber du kannst nicht viel auf ihnen sehen. Die Tragödien der Armut spielen sich hinter den Mauern ab.

– Aber doch der letzte Akt – wie oft! – auf der Straße. Sie waren langsam weiter gegangen. Auban hatte seinen Arm in den des anderen gelegt und stützte sich müde auf ihn. Trotzdem hinkte er stärker als vorher.

– Und wo gehst du hin, Otto? fragte er.

– Zum Klub. Willst Du nicht mit?

– Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nachmittag drüben. Dann, da ihm einfiel, dass der andere in diesen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung sehen möchte, fügte er schneller hinzu: – Aber ich gehe schon mit; es ist eine gute Gelegenheit; sonst komme ich in nächster Zeit doch nicht hin. – Wie lange wir uns überhaupt nicht gesehen haben!

– Ja, fast drei Wochen schon nicht!

– Ich lebe immer mehr für mich. Du weißt es ja. Was soll ich in den Klubs? Diese langen Reden, immer dasselbe: Was sollen sie nützen? Das alles ist nur ermüdend.

Er merkte wohl, wie unangenehm es dem anderen war, was er sagte, und wie sich dieser gleichwohl mit der Richtigkeit seiner Worte abzufinden suchte.

– Ich bin noch immer, wie früher, jeden Sonntagnachmittag von fünf Uhr an zu Hause. Weshalb kommst du nicht mehr?

– Weil bei dir alles Mögliche zusammenkommt! Bourgeois, und Sozialdemokraten, und Literaten, und Individualisten –.

Auban lachte auf.

– Tant mieux. Die Diskussionen können dadurch nur gewinnen. Die Individualisten sind doch die schrecklichsten, nicht wahr, Otto?

Sein Gesicht war völlig verändert. Eben noch finster und verschlossen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von Freundschaft und Freundlichkeit.

Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und Trupp hieß, schien davon nur unangenehm berührt zu werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans Stirn nicht die Ruhe, aber völlig von seinen Lippen das Lächeln scheuchte.

– Fünfzehn Jahre! Und wegen nichts! sagte der Arbeiter grollend und empört. – Aber warum lieferte er sich auch so unvorsichtig in die Hände seiner Feinde? Er musste sie doch kennen.

– Er wurde Verraten!

– Weshalb vertraute er sich anderen an! fragte Auban wieder. – Jeder ist von vornherein verloren, der auf andere baut. Auch das wusste er. Es war ein zweckloses Opfer!

– Ich glaube, du hast keinen Begriff von der Größe seines Opfers und seiner Hingabe, grollte Trupp.

– Lieber Otto, du weißt recht gut, dass mir überhaupt das Gefühl des Verständnisses für alle sogenannten Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genossen, des besten, des ehrlichsten vielleicht von allen, für einen Nutzen gehabt? Sage mir das!

– Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat die einen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt, die anderen – uns – mit neuem Hass erfüllt. Es hat – und seine Augen flammten, während Auban fühlte, wie der Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte – es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Gefallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Sühne zu fordern!

– Und dann?

– Dann, wenn diese verfluchte Ordnung dem Boden gleich gemacht ist, dann wird sich die freie Gesellschaft auf den Trümmern erheben.

Auban sah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, mit dem traurigen, ernsten Blick, mit dem er ihn vorher begrüßt hatte. Er wusste ja, dass in der zerrissenen Brust dieses Mannes nur ein Wunsch und eine Hoffnung noch lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der „großen“, der letzten Revolution!

So waren sie vor Jahren die Boulevards von Paris gegangen, und hatten sich berauscht an den tönenden Worten der Hoffnung; und während Auban längst allen Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: An die langsam, langsam wirkende Macht der Vernunft, welche endlich jeden Menschen dahin führen wird, für sich, statt für Andere zu sorgen, und so mehr und mehr auf sich selbst zurückgekommen war, hatte sich der andere ebenso mehr und mehr in den Fanatismus einer Verzweiflung hinein verloren, welcher sich täglich von Neuem das schimmernde Gespenst der „goldenen Zukunft“ vor Augen zauberte und den letzten Halt an der Wirklichkeit aus den Händen gab, welche sich sehnsüchtig und vertrauend um den Nacken der Liebe schmiegten.

– In fünfzehn Jahren, so brach jetzt wieder lodernd die Flamme der Hoffnung aus seinen Worten, – kann viel geschehen! –

Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos diesem Glauben gegenüber. Langsam gingen sie weiter. Die Straßen wurden leerer und stiller. Es lag noch immer dieselbe brütende Feuchtigkeit in der undurchsichtbarer werdenden Luft, wie vor drei Stunden. Der Himmel war eine nebelgraue Wolkenmasse. Die Laternen brannten unstet-flackernd. Zwischen den beiden Männern lag das Schweigen der Entfremdung.

* * *

Sie waren auch äußerlich sehr verschieden.

Auban war größer und hagerer, Trupp muskulöser und proportionierter. Dieser trug einen kurzen, braunen Vollbart, während jener stets mit peinlicher Sorgfalt rasiert war.

Waren sie allein, so sprachen sie stets, wie auch an diesem Abend, französisch miteinander, welches Trupp ohne Mühe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber so schnell sprach, dass selbst seine Landsleute oft Mühe hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang von Härte, der zuweilen der Wärme seiner Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. –

Vor ihnen begann das Gewirr der kleinen und engen Gassen sich zu lichten. Sie stiegen einige Stufen hinauf. Da lag Oxford Street!

– In fünfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen, – haben die Ketten der Knechtschaft in den Ländern des Kontinents die Handgelenke der Völker fast durchschnitten, so dass sie sich zum Schlag nicht mehr heben können. Hier werden dieselben Hände in gleicher Zeit gefesselt sein, wie der Mund, der jetzt noch protestiert und sich müde redet.

– Ich kenne die Arbeiter besser als du. Bis dahin werden sie sich längst erhoben haben. – Um mit Kanonen, die selbsttätig in jeder Sekunde einen, und in einer Minute sechzig Schüsse abgeben, niedergemäht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoisie besser und ihre Leute.

Sie standen in Oxford Street: in nächtigem Licht und Leben.

– Da sieh hin – glaubst du, dies Leben – fällt mit einem Schlag und durch Einzelner Willen?

– Ja, sagte Trupp und zeigte nach Osten. – Dort liegt die Zukunft. Aber Auban fragte:

– Was ist die Zukunft? Die Zukunft ist der Sozialismus. Die Tötung des Individuums in immer engeren Grenzen. Die gänzliche Unselbständigkeit. Die große Familie. – Lauter Kinder, Kinder... Aber auch das muss durchgemacht werden.

Er lachte bitter und indem er dem Blick seines Freundes folgte: „Dort liegt – Russland!“ Dann schwiegen beide wieder.

Oxford Street dehnte sich aus – eine unsichtbare Linie von verschwimmendem Licht und brausendem Dunkel hinauf und hinunter.

– Es gibt drei London, sagte Auban, gepackt von dem Leben, – drei: London am Samstagabend, wenn es sich betrinkt, um die folgende Woche zu vergessen; London am Sonntag, wenn es seinen Rausch im Schoß der allein seligmachenden Kirche ausschläft; und London, wenn es arbeitet und arbeiten lässt – an den langen, langen Tagen der Woche.

– Ich hasse diese Stadt, sagte der andere.

– Ich liebe sie! sagte Auban leidenschaftlich.

– Wie anders war Paris!

Und die gemeinsamen Erinnerungen tauchten auf.

Aber Auban drängte vorwärts.

– Wir kommen nie zum Klub.

Sie schritten geradeswegs Oxford Street und gingen die nächste Querstraße nach Norden hinauf. Auban stützte sich wieder stark auf den Arm seines Freundes.

– Aber sage jetzt, wie geht es euch?

– Es geht ganz gut, trotzdem wir immer noch keinen „Vorstand“ haben. Erinnerst du dich noch, welcher Lärm sich erhob, als wir seinerzeit den Klub ganz nach kommunistischem Prinzip einrichteten: ohne Vorstand, ohne Beamten, ohne Statuten, ohne Programm und ohne festgesetzte Zwangsbeiträge? Völliger Untergang in Unordnung wurde uns prophezeit und sonst noch alles Mögliche. Aber wir kommen immer noch ganz gut zurecht und in unseren Verhandlungen geht es ganz so zu wie in anderen, wo die Glocke des Präsidenten regiert – es redet immer einer nach dem anderen, wenn er etwas zu sagen hat.

Auban lächelte.

– Ja, sagte er, – das können die Ordnungsschreier nicht verstehen, wie vernünftige Menschen zusammenkommen und zusammenbleiben können, um sich ihre gemeinsamen Interessen zu besprechen, ohne dass der Einzelne seine Zugehörigkeit in Rechten und Pflichten auf einem Wisch garantiert erhält. – Aber daraus, dass dieser Versuch nicht misslungen ist, seht ihr doch noch keinen Beweis für die Möglichkeit der Konstituierung der ganzen menschlichen Gesellschaft auf gleichen Grundlagen? Das wäre doch heller Wahnsinn.

– So, das wäre heller Wahnsinn? Wir finden das nicht. Wir hegen diese Hoffnung, beteuerte Trupp hartnäckig.

Auban fiel ein: „Was macht euer Blatt?“

– Es geht langsam. Liest du es?

– Ja. Aber doch nur selten. Ich habe das wenige Deutsch verlernt, das ich auf der Straße hörte.

– Wir redigieren es auch zusammen. Ohne Kommission, ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen zusammen, die Lust und Zeit haben, und das Eingelaufene wird verlesen, besprochen und zusammengestellt.

– Deshalb ist der Inhalt aber auch so merkwürdig verschieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte muss eine Persönlichkeit stehen, eine volle, interessante Persönlichkeit –

Trupp unterbrach ihn ungestüm.

– Ja, und dann hätten wir wieder das ‚Führertum’. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer – er sah nicht das beistimmende Nicken Aubans – hier im Kleinen, dort im Großen! Unsere ganze Bewegung hat darunter furchtbar gelitten, unter diesem Zentralismus. Wo im Anfang reine Begeisterung war, ist sie in Selbstgefälligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefühl und Liebe in dem Streben, selbst die Retter zu spielen. So haben wir denn all schon oben und unten, die Herde und den Leithammel, auf der einen Seite den Dünkel, auf der anderen Seite gedankenlose und fanatische Nachbeterei der Parteilehren –.

– Aber du hast mich in der Tat völlig missverstanden. Als ob ich je etwas anderes geglaubt hätte! Ich misstraue überhaupt einem jeden, der sich anmaßt, andere vertreten, für andere sorgen und die Verantwortung für anderer Angelegenheiten auf seine eigenen Schultern nehmen zu wollen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und lass mich für die meinen sorgen – das ist ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus.

– Ich bin auch Anarchist.

– Nein, mein Freund, das bist du nicht. Du vertrittst in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich anarchistischen Ideen. Du bist durch und durch Kommunist, nicht nur deinen Ansichten, sondern deinem ganzen Empfinden und Wünschen nach.

– Wer will mir das Recht bestreiten, meine Ansichten anarchistisch zu nennen?

– Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheilvolle Verwirrung entsteht durch das Zusammenwerfen so völlig verschiedener Begriffe. Indessen, warum jetzt über die alte Frage streiten! Komm' am Sonntag. Wir können wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht?

– Meinetwegen. Du bist und bleibst ja doch der Individualist, zu dem du geworden bist, seitdem du die soziale Frage ‚wissenschaftlich’ studiert hast! Ich wollte, du wärest noch derselbe, der du warst, als ich dich sah in Paris, mein Lieber!

– Nein, ich nicht, Otto! sagte Auban und lachte laut auf.

Trupp war gereizt.

– Du weißt nicht, was du verteidigst! Ist der Individualismus etwa nicht die Entfesselung aller schmutzigen Leidenschaften des Menschen, des Egoismus vor allem, und hat er nicht all' dies Elend geschaffen, – die Freiheit auf der einen – …

Auban blieb stehen und sah den Sprechenden an. – Heute Freiheit des Einzelnen? Heute, wo wir im kompliziertesten und brutalsten Kommunismus stecken, wie nie vorher? Heute, wo der Einzelne von seiner Geburt an bis zu seinem Tode vom Staat, von der Gemeinschaft mit Beschlag belegt wird? – Geh' die Welt zu Ende und sage mir, wo ich diesen Verpflichtungen entgehen und ich sein kann. Ich will hingehen in diese Freiheit, die ich vergebens gesucht habe, so lange ich lebe.

– Aber deine Ansichten geben der Bourgeoisie nur neue Waffen in die Hand. –

– Wenn Ihr die Waffen nicht selbst gebraucht, die einzigen überhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. – Und sicher: Sie, – diese langsam reifenden Ideen des Egoismus (mit Absicht brauche ich dies Wort) – sie sind in gleicher Weise gefährlich den heutigen Zuständen, wie sie es sein werden, wenn wir in den Hafen des alles beglückenden Volksstaates, in den verdichteten Kommunismus, eingelaufen sind – gefährlicher als all' eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleusen der heutigen Machthaber.

– Du hast dich sehr verändert, sagte Trupp ernst.

– Nein, Otto. Ich habe mich nur selbst gefunden.

– Wir müssen darauf zurückkommen. Es muss sich entscheiden. –

– Ob ich noch zu euch gehöre oder nicht? Das ist doch wohl nur eine Redensart. Denn der Freie – und du willst doch die ganze, unbeschränkte Autonomie des Individuums – kann nur sich selbst gehören.

Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Länge und trüben Dunkelheit vor ihnen lag.

Sie bogen in eine der Nebenstraßen ein, in einen der fast menschenleeren und halb hellen Durchgänge, welche sich östlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.

– Wir müssen jetzt deutsch sprechen, sagte Auban in dieser Sprache, die aus seinem Mund ungeübt und fremd klang.

Sie standen still vor einem schmalen, hellangestrichenen Hause. Über der Tür, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe, stand der Name des Klubs.

Trupp stieß schnell die Tür auf und sie traten ein.

* * *

John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

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