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ZWEITES KAPITEL

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Als er Anna an jenem Abend aufsuchte, fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte sagen können. Ihn überraschte das gar nicht – er kannte ihre Gabe, ihn vollkommen verstummen zu lassen, so wie das Rampenlicht einem nervösen Schauspieler die Sprache raubt. Ungewöhnlich war lediglich seine eigene Gleichgültigkeit ihr gegenüber; während er auf der Schreibtischkante saß und mit den Beinen wippte, fühlte er sich unbeteiligt und überlegen wie ein Biologe, der das natürliche Verhalten seiner Versuchstiere beobachtet. Nach einer kurzen, beiläufigen Begrüßung schwieg er; in blasierter Selbstzufriedenheit summte er leise die Melodie eines altmodischen Tanzliedes.

Anna beendete die Stille.

«Warum bist du hergekommen?»

«Ach, nur eine gesellschaftliche Pflichtübung. Manche Leute haben religiöse Verpflichtungen, ich habe gesellschaftliche, und denen komme ich in angemessener Demut nach.»

«Was hatte dein Telegramm denn zu bedeuten?»

«Nichts, überhaupt nichts. Findest du nicht auch, Postämter sollten Schmuckblätter für schlechte Nachrichten bereithalten, ähnlich wie für Grußtelegramme? Die Todesnachrichten aus dem Kriegsministerium kämen dann auf einem Papier in Schwarz und Silber, an den Rändern eine Girlande aus Totenköpfen, Kreuzen, Urnen und geborstenen Säulen. Ich bin mir sicher, Witwen und Waisen wären begeistert über eine künstlerische Wertschätzung ihres Opfers, die sie einrahmen und an die Wohnzimmerwand hängen können.»

Anna unterbrach ihn ungeduldig.

«Wenn du mir etwas zu sagen hast, sag es bitte jetzt. Ich werde in ein paar Tagen ins Ausland reisen und wahrscheinlich nicht zurückkehren.»

«Ins Ausland? Wie schön für dich. Aber bitte nicht mit einer Reisegruppe: Habe ich mal mitgemacht, aber es stellte sich heraus, dass zu viele Hähne im Korb waren und zu wenig Hennen.» Er kicherte aufdringlich.

Anna fuhr scharf dazwischen:

«Wenn du dich weigerst, vernünftig zu reden, tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe jedenfalls gleich einen Termin. Bitte entschuldige, ich muss mich umziehen.»

Er entließ sie mit gnädiger Handbewegung, als sie sich resolut umdrehte und im Schlafzimmer verschwand. Durch einen Spalt im Vorhang über der Tür sah sie sein selbstzufriedenes Lächeln, während er seine Fingernägel begutachtete. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie hatte ihre Erfahrungen mit Männern und glaubte auch Desmond zu durchschauen; in dieser Stimmung hatte sie ihn freilich nie zuvor erlebt. Ihr fiel auf, dass seine Gesten auf eine fast unmerkliche, aber doch spürbare Art außer Kontrolle schienen, als wäre er betrunken. Seine Beine wippten ein klein wenig zu kräftig, er sprach laut, und Kopf oder Hände blieben unablässig in Bewegung. Dabei wusste sie, dass er vollkommen nüchtern war, denn seine Augen blickten kalt und unbeteiligt und etwas angestrengt, als starre er auf einen weit entfernten Punkt. Erneut schaute sie zu ihm herüber, und jetzt erst, zum ersten Mal an diesem Abend, sah auch er sie an, als wolle er sich ihr Gesicht in Erinnerung rufen oder ihr Gewicht abschätzen. Während er zu ihr herüberschaute, knetete er weiterhin seine Hände und tastete seine Fingernägel ab. Das erschien geradezu unnatürlich; sein Körper wirkte auf unangenehme Weise wie ein wachsames Tier, das ein eigenes Leben führt, losgelöst vom Verstand.

Desmond musterte Anna mit jener aufdringlichen Neugierde, die man normalerweise nur Eingeborenen entgegenbringt. Wie sie da halb entblößt vor ihrer Ankleidekommode kauerte, schien sie ihm älter als sonst, und die Struktur ihrer Kehle und der Gesichtshaut wirkten mit einem Mal rau gegenüber der Zartheit ihrer Schultern. Ihr Nacken schien allmählich kräftig zu werden, und Desmond vermutete jetzt sogar, die aufrechte Haltung des Rückens müsse das Ergebnis bewusster Anstrengung sein. Kaum erinnerte er sich noch daran, dass sie zu alledem auch Verstand und Persönlichkeit besaß: Für ihn war sie jetzt eine klug konstruierte Puppe, gekrönt mit einer hübsch glänzenden Perücke. Seine Gedanken nahmen eine Wendung ins Hämische, und er überlegte, wie er sie wohl verletzen könnte.

Es war jetzt acht Uhr abends, die Dunkelheit brach an. Anna trat ins Zimmer. Sie strich sich übers Haar und drängte:

«Ich muss bald aufbrechen. Zum letzten Mal: Hast du mir irgendetwas zu sagen?»

«Nichts, was dich interessieren könnte.»

Sie hob ihre Stimme: «Sag jetzt, was du zu sagen hast; ich werde dich nicht wieder fragen.»

«Sprich nicht so laut. Geh, wenn du willst: Ich halte dich nicht auf.»

Seine Ferse stieß gegen den Rand des Tisches und brach einen Splitter aus dem polierten Holz, aber er schien das nicht zu bemerken. Gegen das schwindende Licht im Fenster nahmen sich seine Konturen mit den hängenden Schultern und dem vorgestreckten Kopf aus wie die Silhouette eines bizarren Vogels. Abermals verspürte Anna eine Unsicherheit, einem Zucken im Körper vergleichbar; sie beschloss, sofort aufzubrechen, früher als geplant. Und so trat sie an den Schreibtisch und schob Desmond zur Seite.

«Entschuldige, ich muss hier etwas einstecken.»

Sie öffnete eine der Schubladen und zog ein kleines, in Leder geschlagenes Büchlein heraus, das mit einem Metallschloss versehen war. Desmond riss es ihr aus der Hand und sprang vom Tisch.

«Ah, ein Tagebuch! Wer hätte gedacht, dass du so etwas führst!»

Er schob es sich in die Tasche und näherte sich demonstrativ der Tür. Anna erbleichte und fauchte ihn an:

«Lass diese Albernheit! Gib es mir auf der Stelle zurück!»

«Nicht, bevor ich gelesen habe, was du über mich schreibst. Ich schicke es dir morgen zurück.»

Ihm war klar, wie kindisch er sich aufführte, und doch schämte er sich nicht. Anna zitterte förmlich vor Wut, und er genoss das – jedenfalls in Bezug auf Anna seltene – Gefühl der Überlegenheit. Dann aber griff sie blitzschnell in ihre Handtasche und zog eine kleine Pistole hervor, die sie auf ihn richtete.

«Nun gib mir das Buch zurück!»

Desmond konnte ein spontanes Lachen nicht unterdrücken. Die Szene wirkte so lächerlich und unwirklich wie in einem schlechten Film, und von der Waffe fühlte er sich so wenig bedroht wie von einer Steinzeitaxt im Museum. Scherzhaft riss er die Hände in die Höhe und schlenderte auf sie zu.

«Meine liebe Anna, jetzt siehst du aber albern aus! Die Rolle des Flintenweibs steht dir überhaupt nicht. Bist du sicher, dass du sie auch geladen hast?»

«Gib mir das Buch, oder ich werde schießen.»

Da überkam ihn Zorn auf dieses melodramatische Getue, mit einem raschen Griff schlug er ihr die Pistole aus der Hand, dann packte er sie an ihrem seidenen Halstuch. Er riss kräftig daran und zischte:

«Sei doch keine verdammte Idiotin!»

Sie presste ihn von sich und rammte ihm ein Knie mit aller Gewalt in die Leisten. Er stolperte und riss Anna mit sich auf den Boden. Blind vor Wut rollte er das Halstuch zusammen, bevor er mit aller Kraft daran zog. Erneut traf ihn Annas Knie. Um den Schmerz zu betäuben, zerrte er an der Seide, bis die Adern seiner Handgelenke hervortraten. Und während ihr Leib sich unter seinem Griff wand, fragte er sich in einem sehr entlegenen Winkel seines Hirns, wie lange ihr Kampf wohl noch andauern würde. Auch als sie sich nicht mehr regte, lag er noch auf ihr und drehte das Halstuch fester und fester. Da wusste er schon, dass sie tot war.

Als Desmond vom Boden aufstand, war es vollkommen finster. Er spürte keinerlei Empfindung, griff zur Pistole und nahm wieder auf der Ecke des Schreibtisches Platz, verharrte dort vollkommen regungslos. Es dauerte ein wenig, dann erfüllte ihn Stolz auf seine eigene Kälte; er wanderte im Zimmer auf und ab, stolperte über Möbelstücke und führte Selbstgespräche. Dabei mied er die Ecke, in welcher der Leichnam lag.

«Gut, gut, wer hätte das gedacht! Ich vermute, dafür wird man mich hängen. Glück gehabt, dass wir nicht in Amerika leben: Beim elektrischen Stuhl dauert es eine halbe Stunde, und am Ende stirbt man bei der Autopsie, heißt es jedenfalls. Wer war das gleich nochmal mit der Vermutung, dass der Kopf nach der Enthauptung noch ein paar Minuten lebt und etwas wahrnimmt? Man hört ja sogar, man könne zu Tode gekitzelt werden oder am Niesen sterben. Ein Tyrann könnte das an seinen Feinden ausprobieren, ihr lächerlicher Todeskampf würde ihre Ansichten öffentlich diskreditieren. Wenn jemand beim Hängen zu tief fällt, wird der Kopf abgerissen – man sagt ja, die Leute fallen zu tief, wenn der Henker zu tief ins Glas geschaut hat … Arme alte Anna! Anna wie? Annabell mit dem Totenglöckchen … Vielleicht sehe ich ganz anders aus, jetzt, da ich ein Mörder bin? Mal nachschauen.»

Er zog den Vorhang zur Seite, schaltete eine Leselampe ein und betrachtete sein Abbild im Spiegel, während er sich wie ein Mannequin verrenkte und posierte.

«Wie immer, fürchte ich – sehe halt nicht aus wie ein grober Kerl. Wenn ich mich präsentiere, sehe ich aus wie ein Römer … der schändlichste Römer von allen: Einer, den man auf seinem Schild nach Hause trägt, das Gesicht nach unten, und alle Wunden auf dem Rücken, dazu ein paar Stiche in die Seite vom Zickzacklaufen.»

Er probierte verschiedene Gesten aus und schnitt passende Grimassen, wobei er Annas Pistole auf imaginäre Gegner richtete oder durch seine Tasche hindurch zielte wie ein amerikanischer Gangster. Dann aber fiel er schlagartig in die Wirklichkeit zurück; vor sich sah er eine bleiche, zerzauste Gestalt, die sich auf groteske Weise im Spiegel eines nur schwach erleuchteten Zimmers angrinste, während ein erstarrender Leib halb verdeckt hinter dem Sofa lag.

«Mein Gott!» stöhnte er und erschrak jetzt wirklich.

Er schaltete sämtliche Lampen ein, nahm vorsichtig Platz und versuchte, seine Lage zu überdenken. Kein Gewissen regte sich, auch kein Mitleid mit Anna – wie erwartet hatte der Tod seine Zuneigung ausgelöscht –, doch er fürchtete sich jetzt vor den schmutzigen und langsam näher rückenden Konsequenzen, die ihm drohten, sobald die Polizei eingeschaltet würde. Einige Minuten lang atmete er tief, um sich zu beruhigen, bis sein Verstand wieder halbwegs normal funktionierte.

Zunächst einmal hatte ihn niemand kommen sehen, und bei der Dunkelheit draußen konnte er nahezu sicher sein, das Haus auch wieder ungesehen verlassen zu können. Tatsächlich war ihm niemals irgendjemand in diesem Haus begegnet, möglicherweise war Annas Etage sogar die einzige bewohnte im gesamten Gebäude. Wenn er es recht bedachte, gab es zudem keinerlei Möglichkeit, Anna mit ihm in Verbindung zu bringen. Er hatte sie keinem seiner Freunde gegenüber erwähnt, denn er schätzte Männer nicht sonderlich, die mit ihren Liebschaften prahlten. Er glaubte ohnehin, dass ein eisernes Schweigen in diesen Dingen ein sehr viel größeres Renommee einbrachte als selbstgefällige Anekdoten, jedenfalls wenn man so töricht war und es darauf anlegte.

Anna, da war er sich sicher, war von ähnlicher Diskretion; und selbst wenn sie eine enge Vertraute besessen haben sollte, schien es unwahrscheinlich, dass die Zeit ausgereicht hätte, dieser von seinem angekündigten Abendbesuch zu erzählen. Er hatte Anna nie geschrieben, ihr nie signierte oder anderweitig zurückverfolgbare Geschenke überreicht, und sie hatte ihn keinem Menschen vorgestellt. Scotland Yard konnte ihn eigentlich gar nicht ausfindig machen. Am besten also, er verließ unverzüglich die Wohnung.

Desmond sprang auf, wischte mit dem Taschentuch über den Türgriff und alle Dinge, die er berührt hatte, soweit er sich erinnerte. Leise trat er auf den Treppenabsatz und zog die Wohnungstür sachte hinter sich zu.

Das Telegramm!

Er drückte gegen die Tür, aber sie gab nicht nach. Verzweifelt versuchte er es mit seinen eigenen Schlüsseln, einen nach dem anderen, doch die Tür besaß ein Sicherheitsschloss, und seine Schlüssel passten dort nicht einmal hinein. Er wühlte in seinen Taschen nach irgendetwas Brauchbarem, fand aber nur Annas Pistole. Ratlos wiegte er sie in der Hand. Irgendwo hatte er gelesen, dass man Türen aufschießen kann, und selbst diese kleine Waffe dürfte das Schloss zerschmettern, falls er einen oder zwei Schüsse direkt auf Schloss und Schlüsselloch abfeuerte. Andererseits war das Haus finster und bedrohlich still: In der Wohnung darunter musste der Knall wie ein Donnerschlag hallen. Sollte er abdrücken, würden die Menschen aus allen Türen herbeiströmen, so wie in den Straßen bei einem Unfall: Machte er sich aber klammheimlich aus dem Staub, würde die Polizei das Telegramm unweigerlich finden, die Rufnummer, von der er es aufgegeben hatte, ermitteln, ihn ausfindig machen und verhören, bis er alles gestand. Vielleicht befand sich aber auch sonst niemand im Haus, und im schlimmsten Fall könnte er versuchen, sich den Weg freizuschießen und als Löwe vor den Henker treten und nicht als Schaf.

Er zog seinen Mantel aus, wickelte ihn um die Waffe, um den Schall zu dämpfen, dann presste er die Mündung wenige Zentimer links vom Schlüsselloch aufs Holz und feuerte zweimal.

Der Schuss donnerte wie ein Erdbeben, und noch bevor das Echo verklungen war, warf er sich mit dem Gewicht seines Körpers gegen die Tür. Beim ersten Versuch zersplitterte der Holzrahmen, beim zweiten gab das Türblatt nach, und er stürzte hinein. Während er sich aufrappelte, vernahm er, wie sich in der Etage darunter eine Tür öffnete und das Licht angeknipst wurde. Lautlos huschte er aus der Wohnung, er legte sich flach auf den Boden und richtete die Pistole, wo die Treppe nach oben eine Kehre machte, durchs Geländer. Sofern niemand nach oben kam, blieb er unsichtbar, und falls Menschen heraufkämen, würde er sie zuerst sehen.

Einen Moment herrschte Stille, dann rief eine nervöse mittelalte Männerstimme:

«Hallo, ist da oben alles in Ordnung?»

Stille. Nun nörgelte eine Frauenstimme:

«Komm endlich herein, Jack, und schließ die Tür. Was oben passiert, geht uns nichts an.»

«Liebes, ich bin mir sicher, einen Knall gehört zu haben. Ich sollte wohl besser einmal nachschauen, was los ist.»

«Du willst also nachschauen, ob es Miss Raven gut geht? Ich kenne dich doch! Glaubst wohl, ich hätte nicht bemerkt, wie du ihr die letzten Monate im Treppenhaus schöne Augen gemacht hast? Komm sofort rein und denk dran: Du bist ein verheirateter älterer Mann.»

«Ich bin kein älterer Mann! Ich bin in den besten Jahren!»

«Beste oder nicht, komm sofort zurück und schließ die Tür; der Durchzug ist unerträglich.»

«Es dauert keine Minute, Liebes, aber ich meine, ich sollte doch kurz nach dem Rechten sehen.»

Desmond hörte, wie Pantoffeln in Richtung Treppenabsatz schlurften. Er lag angespannt da und schob die Waffe nach vorn. Da durchbrach die Frauenstimme sehr entschieden die Stille:

«In Ordnung, wenn du nach oben gehst, komme ich mit! Wir beide können Miss Raven fragen, wie es ihr geht.»

Die Pantoffelschritte hielten inne, und die Männerstimme resignierte:

«Also gut, meine Liebe, ich denke, du hast recht. Ich bin sicher, oben ist alles in Ordnung; in ein paar Minuten beginnen die Nachrichten, und die wollen wir doch nicht verpassen.»

Die Tür fiel ins Schloss. Desmond schlich zurück ins Apartment, er schloss die Tür und schob den Riegel vor. Jetzt erst stand ihm die Gefahr, die er soeben überstanden hatte, in aller schockierenden Deutlichkeit vor Augen, und ihm wurde übel. Er torkelte ins Bad und kniete minutenlang würgend vor der Toilettenschüssel. Sobald er sich wieder besser fühlte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück, er streifte sich die Handschuhe über und begann mit einer systematischen Durchsuchung. Der Papierkorb? Leer. Der Schreibtisch? Die Schubladen waren verschlossen, doch die Schlüssel lagen oben auf der Tischplatte, wo Anna sie hingelegt hatte. Also zog er die Schubladen auf und schaute den Inhalt flüchtig durch, wobei er ihn auf dem Fußboden ausbreitete. Alles war ungemein ordentlich – Bündel mit Briefen, zusammengehalten von Bindfäden in verschiedenen Farben; quittierte Rechnungen, Notizbücher voller Zahlen, offenbar Listen mit Ausgaben. Einige Dinge überraschten Desmond ein wenig: Anna besaß einen amerikanischen Pass; und sie musste polyglott gewesen sein, denn sie verwahrte Dokumente in den verschiedensten Sprachen – aber Desmond fehlte die Zeit, seine Neugierde zu stillen. Einen Augenblick hielt er sich noch bei einer Schublade auf, die mit Buchkatalogen gefüllt war; ihn überraschte, dass eine Dame, deren Buchbestand aus einem halben Dutzend Nachschlagewerken bestand, all diese Kataloge offenbar sehr sorgfältig durchgesehen und mehrere Einträge angestrichen hatte. Nur sein Telegramm fand er nirgends.

Er suchte nach weiteren Verstecken und erinnerte sich an ihre Handtasche. Darin fand er einen Lippenstift, einen Spiegel, eine goldene Puderdose und ein großes Bündel abgenutzter Ein-Pfund-Noten. Grob geschätzt waren es mehrere Hundert, und so weit er das beim hastigen Durchblättern beurteilen konnte, stammten sie alle aus unterschiedlichen Serien; vielleicht waren sie sorgsam ausgewählt worden, damit man einen eventuellen Diebstahl nicht zurückverfolgen konnte. Diesen Schatz stopfte er sich in die eigenen Taschen, und schlagartig fühlte er sich kühner. Nie zuvor hatte er so viel Bargeld besessen, und er verspürte jetzt das gleiche Gefühl von Macht und Sicherheit, das einen Wilden ausfüllen mag, der nach einer gut gearbeiteten Waffe greift. Er dachte: «Ich wüsste doch nur zu gern, was Anna mit all dem anfangen wollte? Vielleicht war sie ja spielsüchtig.»

Er empfand ein seltsames Hochgefühl, und während er seine Suche fortsetzte, summte er vergnügt einige Melodien. Irgendwo hatte er gelesen, dass Frauen ihren geheimsten Besitz gern zwischen der Unterwäsche verstecken, und so durchwühlte er Annas Schlafzimmer besonders gründlich. Unter ihrer unscheinbaren Oberfläche hatte sie einen geradezu exotischen Geschmack kultiviert, und obwohl Desmond sich stets im Stillen über ihre Vorliebe für außergewöhnliche und teure Unterwäsche amüsiert hatte, die eher in ein Pariser Schaufenster gehörte als an einen menschlichen Körper, erstaunte ihn jetzt wieder der Gegensatz zwischen der Strenge ihrer Kleider und dem üppigen Luxus darunter. Ganz zum Schluss ertastete er hinten in ihrer Nachttischschublade etwas Festes und zog es hervor. Es war ein Buch: eine preiswerte lateinische Ausgabe der Aeneis, in der einige Zeilen unterstrichen waren. Irgendwie schien ihm dahinter ein bedeutsames Geheimnis zu stecken, deshalb riss er den Buchblock aus dem Einband und zog das Vorsatzpapier ab, hinter dem etwas versteckt sein mochte. Er fand aber nichts.

Also schlenderte er zurück ins Wohnzimmer. Neben dem Kamin blieb er stehen und kaute an seinen Fingernägeln. Plötzlich überkam ihn eine große Erleichterung, und er lachte hysterisch.

«Da habe ich mir aber etwas Schönes eingebildet», dachte er. «Warum zum Teufel sollte sie mein Telegramm denn überhaupt aufbewahren? Und es womöglich noch im Schreibtisch einschließen oder zu ihrer Unterwäsche legen? Sie wird es gleich nach dem Lesen ins Feuer geworfen haben.»

Desmond kniete nieder und stocherte in den verglimmenden Kohlen, entdeckte aber keine Spur von Papier, sondern nur reichlich Asche. Was immer sie hineingeworfen hatte, musste längst verbrannt sein. Er erhob sich also wieder, um noch ein allerletztes Mal rasch durchs Apartment zu schauen und dann so leise wie möglich zu verschwinden.

Mit lang anhaltendem und unregelmäßigem Summen klingelte das Telefon.

Desmond verharrte regungslos, sein Herz hämmerte, und in seinem Schädel pochte eine Ader. Er hoffte, das Summen werde enden, doch der Ton blieb hartnäckig. Desmond überkam die schreckliche Vorstellung, Anna könne aufstehen und ans Telefon gehen, falls es nur lange genug läutete. Ein unwiderstehlicher Zwang drängte ihn, den Hörer abzuheben, nur um das Läuten zu beenden, und wie unter Hypnose näherte er sich bereits dem Schreibtisch, als der Ton schlagartig verstummte.

Jetzt war keine Zeit mehr zu verschwenden. Er wusste, dass ein unregelmäßiger Ton auf ein Ortsgespräch schließen ließ: Der Anrufer konnte also durchaus in einer Telefonzelle draußen vor dem Haus stehen und hinaufkommen, um nach dem Rechten zu sehen, da niemand an den Apparat ging.

Er löschte das Licht, zog die Wohnungstür hinter sich zu und ging behutsam die Treppe hinab, die Pistole in der Hand. Als er den Treppenabsatz im Erdgeschoss erreicht hatte, klingelte das Telefon wieder. Selbst draußen auf der Straße, eingetaucht in Dunkelheit, glaubte er den Ton noch ganz leise zu hören, immer und immer wieder.

Es gibt keine Wiederkehr

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