Читать книгу Es gibt keine Wiederkehr - John Mair - Страница 7

DRITTES KAPITEL

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Draußen im Dunkeln fühlte Desmond sich mutterseelenallein. Hinter ihm lag die Erinnerung an etwas, das er nicht an sich heranlassen wollte; vor sich sah er nur Angst, quälendes Warten und Rechtfertigungsversuche. Ginge er jetzt nach Hause, fände er dort einen gemütlichen Sessel und allerlei Bücher, die Tröstungen der Schönheit, Vernunft und Philosophie bereithielten. Nach kurzem Zögern schob er sich durch die Pendeltür ins Jolly Conscript.

Die Stimmung in der Kneipe war so heiter wie stets. In einer Ecke verteidigte ein junger Unteroffizier den Wert der Keuschheit gegen den derben Humor einer älteren Dirne, und er sah nicht gut dabei aus. In einer anderen Ecke hockten drei Männer in schwarzen Mänteln, die ihnen bis zu den Knöcheln reichten, sie tranken Whiskey und warfen sich aus den Mundwinkeln bedeutungsschwere Worte zu. Am Flipperautomat redeten ein indischer Student und seine hochschwangere blonde Frau auf einen begriffsstutzigen tschechischen Flüchtling ein und ließen ihn wissen, Freud, Marx und Einstein seien eigentlich nur verschiedene Ausprägungen der einen Lebenskraft – und ein italienischer Bauer sei klüger als alle drei zusammen. Ein Glatzkopf spielte Klavier, und zwei lesbische Frauen würdigten einen bedauernswerten Angestellten keines Blickes, der soeben versucht hatte, sie auf einen Drink einzuladen. Ein Besserwisser dozierte über den entscheidenden Sieg im Krieg: Man müsse lediglich ins Zentrum Chinas vorstoßen und dort die weltweit einzige Lagerstätte eines bestimmten unverzichtbaren Minerals in Besitz nehmen. Für all diese Menschen war die Kneipe Heimat, Wahrheit und Schönheit. Dafür war man bereit, in den Kampf zu ziehen.

Kaum war Desmond eingetreten, geriet er in einen kleinen Strudel bekannter Gesichter.

«Hallo Thane, wo haben Sie nur die ganze Zeit gesteckt?»

«Ach, ich hatte zu arbeiten. Wie geht’s euch? Gibt’s was zum Lästern?»

Die wohlkalkulierte Bitte sollte dem Fragesteller Ruhe verschaffen – und den anderen eine Menge einfacher Vergnügungen bieten. Wie erwartet brach ein Sturm von Gerüchten über Desmond herein.

Offenbar hatte Milly Peter verlassen, und Tony war jetzt mit Susan liiert; Matthew war ins Beschaffungsministerium der Streitkräfte übergewechselt und Paul hatte sich nach Frankreich versetzen lassen; John war bei einem Luftwaffeneinsatz gefallen, und von Nancy hieß es, sie sei in einen Fahrer ihrer Rettungswache verliebt; Mark widersprach irgendeiner Ansicht, weil die Deutschen brutale Bestien seien, er selbst aber Mitglied in der Königlichen Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeiten an Tieren; und irgendjemandes Cousin hatte tatsächlich vor den Schranken des Gerichts ausgerufen: «Ich bin eine Feuersäule!» Und so ging es fort und fort. Desmond, der diesen Tratsch normalerweise goutierte, dachte nur: Stünde mir ein Engel mit Flammenschwert zur Seite, bräuchte er sich nicht über einen Mangel an Aufgaben zu beschweren.

Als endlich Ruhe einkehrte und man sich auf allgemeines Geplauder verlegte, blieb Desmond einsilbig; er suchte nach einem Vorwand, um sich wieder zu entfernen.

Weit hinten in der Kneipe bemerkte er ein großes blondes Mädchen, dessen schrille Stimme und grelle Kleidung die Ansehnlichkeit ihrer Figur ebenso wenig zu beeinträchtigen vermochten, wie die vollendeten Formen den Ausdruck einer großen Leere überspielen konnten. Sie war ein wenig angetrunken und damit ein Problem für ihre dunkelhaarige Freundin und den jungen Unteroffizier mit dem Zahnbürstenschnäuzer, der die beiden offenbar angeschleppt hatte. «Herunter, herunter bis zum Boden», dachte Desmond. «Wer kein Gewissen hat, hat auch kein Recht auf guten Geschmack.» Er entschuldigte sich etwas schroff, trat zu den dreien hinüber und klopfte dem Offizier auf die Schulter.

«Na sowas! Dass wir uns hier wiedertreffen! Schätze, Sie erkennen mich gar nicht mehr – wir sind uns vor dem Krieg in Cowes begegnet. Darf ich Sie und Ihre Freundinnen vielleicht auf einen Drink einladen?»

Nach Desmonds Berechnungen musste gerade dieser snobistische Tonfall den Schnurrbart gefügig machen, der offenbar niemals in Cowes gewesen war und der sich offensichtlich gern vor den Frauen in Szene setzte; etwaige Zweifel zerstreute man am besten mit Großzügigkeit.

«Äh, ja, danke», stotterte der Schnurrbart zögernd.

Desmond setzte nach.

«Lassen Sie doch einfach stehen, was Sie gerade trinken, und gönnen wir uns einen Champagner. Ich glaube, dieses Lokal hat einige sehr anständige Flaschen auf Lager, auch wenn es gar nicht danach aussieht.»

«Oh ja, aber gern», bat die Blonde.

«Das wäre wirklich sehr nett», sagte die Dunkelhaarige.

«Aber hallo», bekräftigte der Schnurrbart.

Geschafft. Während Desmond dem Barkeeper mit den Fingern ein Zeichen gab, spürte er förmlich die erstaunten und missbilligenden Blicke seiner Freunde, und er ahnte den Tadel in ihrem Geflüster. Ihn kümmerte das nicht im Geringsten; er fing an, sich großartig zu amüsieren.


Der Mann, der neben dem Leichnam gekniet hatte, erhob sich wieder. «Sie ist kaum länger als drei Stunden tot», sagte er, «vermutlich weniger.» Er schrieb etwas in sein Notizbuch. Einer der anderen durchsuchte das Zimmer, fachkundig und ohne Hast, während der dritte den Türknauf und glatte Oberflächen auf Fingerabdrücke hin untersuchte.


Alles, was Desmond über seine neuen Bekannten wissen wollte, fand er im Nu heraus. Die Blondine, deren Beitrag zur Konversation vornehmlich aus Kichern bestand, war, so versicherte ihm die Dunkelhaarige, in einer «waaahnsinnig verantwortungsvollen Position – Privatsekretärin bei einem wichtigen Manager in der Werbebranche». Desmond vermutete, das «privat» beziehe sich wohl eher darauf, dass die Frau des Managers von dieser Sekretärin nichts wissen durfte, und das sei dann auch schon alles. Die Dunkelhaarige war Kanadierin und im gleichen Unternehmen beschäftigt, zeichnete sich aber durch ein höheres Streben aus: «Sie machen sich ja überhaupt keine Vorstellung davon, Mr. Tisket» (Desmonds Pseudonym für diesen Abend), «in welch wundervollen Frieden Sie eintauchen, wenn Sie sich erst einmal ins astrale Denken vertiefen.» Der Schnurrbart war auf Wochenendurlaub vom Regiment («Darf nicht sagen, wo wir stationiert sind, oh nein, nein! Der Feind hört mit und so weiter, Sie kennen das ja, alter Knabe!») und sehr darum bemüht, als Offizier und Gentleman zu imponieren – zwei Rollen, die immer weniger miteinander in Einklang zu bringen waren, je betrunkener er wurde.

Ursprünglich hatte Desmond geplant, die Blondine von der Party wegzulotsen, doch schon bald zeigte sich, dass dies äußerst knifflig würde; deshalb beschloss er, stattdessen den Schnurrbart loszuwerden. Die einfachste Methode bestand darin, ihm beim Abfüllen bis zur Bewusstlosigkeit zur Hand zu gehen – beim Blick in seine bereits glasigen Augen vergleichsweise unkompliziert. Leider besaß der Offizier einen robusten Magen, wenn ihm schon der Kopf fehlte, und Desmonds Großzügigkeit steigerte allenfalls seine Streitsucht und sein Misstrauen.

Die Blondine wurde fröhlicher und fröhlicher.

«Tisky, Liebling, ich glaube, ich bin beschwipst! Glaubst du nicht auch, dass ich ein ungezogenes Mädchen bin?»

«Ich werde dich verhauen!» rülpste der Schnurrbart und grabschte ungeschickt nach ihr. Desmond schob ihn beiseite.

«Also bitte, denken Sie immer daran, dass Sie für die Freiheit kämpfen, nicht für die Freizügigkeit. Möchten Sie noch einen Drink?»

Der Schnurrbart schwankte auf ihn zu.

«Ich kämpfe für mein Land, jeder kämpft für sein Land. Was tun Sie denn so?»

«Nun, ich dürfte Ihnen das eigentlich gar nicht verraten, aber ich arbeite in der Propagandaabteilung des Rüstungsministeriums.»

«Oh bitte, verraten Sie mir doch ein Staatsgeheimnis», kreischte die Blondine und schüttete ihm ihr Glas über den Ärmel.

«Tja, das sollte ich wirklich nicht tun, fürchte ich, aber ich weiß ja, dass ich mich auf euch verlassen kann.» Er lehnte sich vertrauensvoll nach vorn. «Ich habe in letzter Zeit an einem eigenen Projekt gearbeitet, einem Propagandageschoss.»

Der Schnurrbart blinzelte misstrauisch.

«Wassndas?»

«Das werden Sie gleich erfahren. Eigentlich eine ganz einfache Konstruktion, sie basiert auf dem Prinzip der Pfeifenorgel. Wir bohren ganz spezielle Löcher in ein Metallgeschoss, und wenn der Luftstrom nach dem Abfeuern durch diese Löcher entweicht, entsteht ein Propaganda-Ton. Gerade haben wir zehn Millionen angefertigt, die ‹Freieieieieieieieieiheit› pfeifen, wenn sie hinter den Linien des Feindes zu Boden gehen. Stellen Sie sich vor, was das für die Moral der Nazis bedeutet, wenn sie beim Klang unserer herrlichen Parole vor die Hunde gehen!»

Die Dunkelhaarige vertiefte sich in diesen Gedanken. «Aber müsste das Wort nicht auf Deutsch erklingen, damit sie es verstehen?»

«Da haben Sie vollkommen recht. Sie haben die Schwachstelle dieses Programms erkannt. Ein Fehler der Bürokratie – keiner im Ministerium hat auf diesen Punkt geachtet, bis die Geschosse fertig waren, und nun möchte man sie den Japanern verkaufen, die sie gegen Amerika einsetzen könnten. Wir bräuchten mehr Leute wie Sie; ich könnte Ihnen eine Stelle in meiner Abteilung besorgen.»

Der Schnurrbart kam ins Grübeln. Beinahe konnte man die schweren Panzerketten seiner Gedanken hören, wie sie der Spur hin zu einer Idee folgten.

«Aber ich meine …», setzte er an.

Desmond fuhr hastig fort.

«Ein weiteres Projekt, das wir kürzlich abgeschlossen haben, betrifft einen Giftgaszylinder, der das Gas in Form von Wörtern ausströmen lässt – so wie Himmelsschreiben mit Rauch. Das Kabinett ist sich aber noch nicht einig; sie können sich nicht entscheiden, ob sie schreiben wollen: ‹Wir lieben die Deutschen, ehrlich› oder ‹Geschieht euch recht, ihr Faschisten-Bande›.»


Einer der Männer sagte: «Ihre Kontaktliste ist verschwunden, Sir, und auch von dem Geld für spezielle Ausgaben ist nichts zu finden. Alles andere scheint am Platz zu sein.» Ein Zweiter ergänzte: «Ich finde keine Fingerabdrücke, aber ich habe eine der Kugeln aus der Tür.» Der Dritte, ein hochgewachsener Mann mit breitem Kreuz in elegantem Anzug, forderte scharf: «Geben Sie mir die Kugel. Durchsuchen Sie die Wohnung gründlicher, und machen Sie weiter, bis Sie etwas Brauchbares gefunden haben. Aber keinen Lärm! Ich berichte an die Zentrale.» Er wandte sich zum Telefon, doch der erste Mann unterbrach ihn, respektvoll, aber bestimmt: «Bitte rühren Sie das Telefon nicht an, Sir, es könnte angezapft sein. Fünfzig Meter die Straße herunter gibt es eine Telefonzelle.» Der große Mann nickte wohlwollend. «Gut. Also machen Sie weiter.» Lautlos wie eine Katze glitt er durch die Wohnungstür.


Das Gespräch hatte sich der Politik zugewandt, und der Schnurrbart reagierte gereizter.

«Die Roten? Kann die Roten nich ausstehn. Hab einen in der Offssiersmesse … Mieser Typ, trinkt nix, liest dauernd Bücher. Will sich bei den Kamraden einschleimen, aber die mögen ihn nich. Oh nein! Sie lieben Offssiere, die sie re…spektieren können … natürliche Autorität … sowas in der Art. Dieser Rote … alles eine Sorte, denkt nur ans Geld. Schwatzt immer von Lohn und Lehmshal…tungskostn, denkt an nix andres.»

Er rülpste, erschöpft von seinem Vortrag. Desmond pflichtete ihm bei.

«Ich weiß. Die Arbeiterklasse ist schlicht und einfach furchtbar. Hätten sie Badezimmer, würden sie darin Kohlen lagern, wenn sie denn Kohlen bekämen. Was haben sie getan, als sie nach dem letzten Krieg im Geld schwammen? Nun, sie kauften sich Konzertflügel, zündeten darunter ein Feuer an und nahmen darin ihr Bad.»

Der Schnurrbart schob sein Gesicht nahe an Desmonds heran, sein Atem war Alkohol.

«Sie sind ein Roter. Ich weiß es. Ich kann sie riechen.»

«Die Roten würden Sie überall riechen, glaube ich.»

«Wollen Sie mich beleidigen, heh? Sie wollen Prügel?»

Er versuchte, sich aufzurichten, und wäre beinahe vornüber gestürzt. Seine Stimme klang breiig und wütend. Der Wirt gab seinem zweiten Barkeeper, einem stämmigen jungen Mann mit der Statur eines versoffenen Bauern, ein Zeichen, und der Mann steuerte ihre Ecke an. Desmond fand, es sei an der Zeit, sich zurückzuziehen.

«Mag keine Roten», wiederholte der Schnurrbart. «Mag Sie nich!» Sein Schluckauf war unüberhörbar.

Desmond fühlte, wie die Dunkelhaarige ihn sanft am Arm zog. Er beugte sich zu ihr.

«Geben Sie ihm einen Stoß», verblüffte sie Desmond, «er kann nichts vertragen, das ist mit ihm los. Er braucht einen kräftigen Stoß.»

Desmond hatte eine bessere Idee. Er fasste den Mann an der Schulter und drehte ihn herum.

«Schauen Sie, da drüben steht einer Ihrer Freunde. Ich glaube, er will Ihnen einen Drink spendieren.»

Der Schnurrbart torkelte und starrte mit glasigen Augen ins Durcheinander, während Desmond die beiden Mädchen an den Armen fasste und nach draußen zog.

«Wo ist Jimmy? Wir haben Jimmy verloren!» kreischte die Blonde.

«Keine Sorge; gehen wir anderswo hin. Taxi!»

«Oh ja, Tisky, gehen wir! Ich hole Jimmy!»

Ein Taxi hielt. Desmond schob die beiden rasch hinein und bat den Fahrer, sie zu einem netten und lauten Ort zu bringen.

«Armer Jimmy! Er wird beleidigt sein», sagte die Blonde.

«Erst durch Ferne wächst die Liebe», entgegnete Desmond.

«Sie hätten ihm einen kräftigen Stoß geben sollen», sagte die Dunkle. «Er denkt nicht kreativ.»

Die Vorstellung des Taxifahrers von etwas Nettem und Lautem entpuppte sich als ein Keller in der Nähe des Leicester Square, der wie ein Münchner Bierpalast aufgemacht war. In Friedenszeiten war man hier stolz aufs deutsche Ambiente, auf den Tisch kamen Frikadellen und zweierlei Arten Gemüse unter dem Namen Königsbürger Klops mit Brat Kart. und Wirsingkohl. Der Name machte das Gericht zwar nicht schmackhafter, rechtfertigte aber offenbar eine Verfünffachung des Preises. Seit dem Krieg jedoch gab man sich alle Mühe, das Dekor als austro-tschechisch durchgehen zu lassen; und das Tiroler Orchester intonierte gelegentlich den Sambre-et-Meuse-Marsch und die Marseillaise als Verneigung vor kontinentaler Feierkultur. Die Speisekarte hatte man ein wenig zu gründlich reformiert, sie enthielt jetzt Delikatessen wie Mitteleuropäische Wurst mit Sauerkraut à la Danubienne. Die Stammgäste des Lokals waren überwiegend sehr junge Offiziere der Luftwaffe, die offenbar gut miteinander bekannt waren.

Die Blonde hatte ihren Jimmy inzwischen vergessen; sie demonstrierte jetzt ihr erstaunliches Vermögen beim Herunterkippen von Bier und beim Flirten mit Gruppen junger Männer aus fünfzehn Meter Entfernung. Ihre Freundin dagegen wollte übers Ewige reden.

«Wissen Sie», erklärte sie sehr ernsthaft, «ich habe eine große Gabe, ins Innere der Menschen vorzustoßen.»

«Mir geht es ähnlich. Mitunter müssen wir in andere Menschen eindringen.»

Sie lehnte sich vor. «Ich spüre das Innere meiner Freundin, sie hat wirklich eine so liebenswerte Seele. Sie weiß, dass das Leben ein Geben ist, kein Nehmen – und sie gibt und gibt und gibt.»

«Das habe ich gleich vermutet, als ich sie sah.»

«Oh, da haben Sie eine Intuition! Sie haben die Augen eines Sehers! Was war denn Ihr erster Eindruck von mir?»

Desmond betrachtete sie nachdenklich.

«Sie sind hochsensibel und musisch veranlagt. Sie hatten eine unglückliche Kindheit, weil Sie vieles intensiver empfunden haben als andere. Sie besitzen ein sehr gesundes Selbstbewusstsein, scheuen sich aber, das zu zeigen aus Sorge, Sie könnten andere verletzen. Und Sie haben eine große Schwäche – manchmal hindert Ihre Großzügigkeit Sie daran, Ihren eigentlichen Zielen im Leben nachzugehen. Mehr habe ich, glaube ich, nicht gesehen.»

Sie starrte ihn an.

«Aber Mr. Tisket, das ist ja wunderbar! Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der mich so gut verstanden hat.»

Er wischte sich die Nase im Taschentuch ab.

«Ich habe bei Duleepsinghi Astrologie studiert. Vielleicht ist das die Erklärung.»

Er zog sich in ein behagliches Wachkoma zurück und lauschte den weitschweifigen und zweifellos hochinteressanten Schilderungen aus dem Leben der Dunkelhaarigen.

Um Mitternacht packten die Tiroler ihre Instrumente zusammen, und Kellner umkreisten die Tische und brachten alle Bierkrüge an sich, die nicht mehr verteidigt wurden. Mittlerweile war Desmond wieder mit sich und der Welt im Allgemeinen versöhnt, und so stimmte er gern zu, als die Blonde vorschlug, man möge noch irgendwo hingehen. Draußen auf der Straße streifte ihn noch ein letzter Gedanke, der zur Vorsicht mahnte: Kaum ratsam, womöglich auf eine Bottle-Party zu gehen – mit mehreren Hundert Ein-Pfund-Noten in der Tasche. Wo konnte er die verstecken? Vergnügt lächelte er über seinen eigenen schlauen Einfall, er dirigierte das Taxi zum Postamt am Leicester Square und bat die Mädchen, im Wagen auf ihn zu warten, weil er noch einen wichtigen Brief abzuschicken hätte. Drinnen besorgte er sich den größten verfügbaren Umschlag, schloss sich in eine Telefonzelle ein und zählte sein Geld. Es waren fast dreihundert Pfund-Noten, zweihundertfünfzig davon steckte er in den Umschlag. In einer seiner Taschen fand er Annas Tagebuch, er schaute flüchtig hinein. Die Seiten – so dünn, dass sie fast beim Umblättern zerrissen – waren mit Ziffern bedeckt, vielleicht eine Art Geheimcode. Beim Betrachten des Buches drängte sich die Erinnerung daran, wie er es an sich gebracht hatte, langsam durch die Schutzfilter seiner künstlichen Heiterkeit. Desmond schüttelte sich und steckte auch das Buch in den Umschlag. Aber wohin sollte er den Brief senden? Nicht an seine eigene Anschrift jedenfalls, denn sollte die Polizei ihn tatsächlich verdächtigen, könnten sie auch seine Korrespondenz abfangen, ja, der Brief käme womöglich – so seine vom Alkohol entflammte Fantasie – genau in dem Moment bei ihm an, da ein Kommissar ihn befragte, und er spürte förmlich, wie seine Hand zitterte, als sie den Umschlag unter den kalten Augen des Verdachts in seine Tasche schob. Besser, dachte er, schicke ich alles postlagernd an einen falschen Namen, und so adressierte er den Umschlag in sorgfältigen Druckbuchstaben an: Walter Tisket, Esq., Poste Restante, Hauptpostamt … in? Ihm fiel ein Dorf ein, wo er als Kind einmal gewohnt hatte und das er gern wiedersehen würde: Missenden, Buckinghamshire.

Erleichtert kehrte er zum Taxi zurück.

«Fahren Sie uns bitte zum besten Nachtclub ohne Dresscode», bat er den Fahrer. So geschah es.

The Snake and Ladder war ein Club, der sich wenig von anderen Partytreffpunkten dieser Art unterschied. John Bull, der Geschäftsmann, versorgte eine Dame mit platinblondem Haar mit Champagner, die so fügsam war, dass sie gehorsam jedem Mann zu jeder Zeit an jeden Ort gefolgt wäre, jedenfalls solange kein zweiter Mann sie am Arm hielt. Neural Gender, der Poet, ließ das alte Athen mittels fünf hübscher junger Männer und einer Papiermütze wiederauferstehen. Ein Fähnrich saß allein für sich und stellte eine gespielte Gleichgültigkeit zur Schau, die nur zu deutlich durchscheinen ließ, dass seine Vergangenheit in der Zukunft lag. Und viele andere Gäste gaben sich alle Mühe, zu vergessen, dass jede Form von Zukunft, die sie haben mochten, längst einer fernen Vergangenheit angehörte. Desmond wünschte, sie wären anderswo hingeraten, und er spendierte allen Umstehenden einen Drink. Die Blonde wurde gesprächig.

«Oh», sagte sie, «Sie sind aber sehr spendabel!»

«Es ist aber auch ein besonderer Anlass. Ich feiere zu Ehren einer sehr lieben Freundin, die mich zu ihrem Todesvollstrecker gemacht hat.»

«Sie meinen Testamentsvollstrecker», warf die Dunkle ein.

«Oh ja, natürlich. Wie auch immer, sie hat Geld für eine Totenfeier zu ihrem Gedenken hinterlassen. Bevor sie einschlief, sagte sie noch, sie könne nicht in Frieden ruhen, wenn sie nicht geweckt würde. Die Arme! Immer diese Paradoxien!»

Desmond seufzte mehrmals tief und bemerkte, wie ein Kellner ihn eigenartig musterte. Offenbar wurde er betrunken; besser gleich etwas nachschütten. Die Band dröhnte, eine Frau sang, ein Mädchen legte einen Striptease hin, ein Herr erzählte schmutzige Geschichten. Vermutlich war das alles sein Geld wert; jedenfalls schienen viele Leute gern bereit zu sein, dafür zu bezahlen. Plötzlich brüllte eine laute, deutliche Stimme fast in sein Ohr:

«Hallo Anna, wo warst du denn nur? Ich dachte schon, du bist tot.»

Desmond fuhr herum und bemerkte zwei Fremde, die sich am Nebentisch unterhielten. Stumm lachte er über sich selbst, und dennoch hatte er all seine Fassung verloren; jetzt fühlte er sich betrunken und elend, sein Atem ging hastig, wie bei einem Asthmatiker. Er wandte sich an die Dunkle.

«Es tut mir sehr leid, aber ich muss sofort aufbrechen. Hier ist das Geld für die Rechnung, es dürfte problemlos reichen. Für den Rest kaufen Sie sich und Ihrer Freundin bitte ein Geschenk. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, aber ich fühle mich gar nicht gut.»

Er schob ihr eine Handvoll Geldscheine zu und eilte nach draußen auf die Straße. Der Vollmond hatte schon seinen halben Weg über den Himmel zurückgelegt, und die flachen Gesichter der Häuser wirkten wie Kulissen eines kubistischen Balletts. In der Ferne schlug eine Turmuhr die halbe Stunde, und ein Zug schob sich über den Fluß. Desmond wusste, dass er sich in einem Netz verfangen hatte, aus dem es kein Entrinnen gab.


Der Mann, der den Aschebehälter in der Küche durchsuchte, erhob sich mit einem zusammengeknüllten Papier in der Hand. «Hier ist etwas», sagte er, «ein Telegramm mit einer Verabredung für den Abend.» Der Große riss es ihm aus der Hand. «Hervorragend! Beenden Sie Ihre Suche so schnell wie möglich und vernichten Sie alle Papiere, die ich nicht mitnehme. Verlassen Sie den Ort leise und einzeln, und sprechen Sie mit niemandem darüber, bis ich es Ihnen gestatte. Bleiben Sie zu den üblichen Zeiten daheim und warten Sie auf meine Anweisungen. Gute Nacht.» Er ging. Eine Stunde später lag die Wohnung still und dunkel da. Das Feuer war heruntergebrannt, und es hatte den Anschein, als habe hier niemals etwas gelebt.


Zu Hause wanderte Desmond vor seinen Bücherregalen auf und ab und quälte sich mit der Berechnung, wie viel Zeit und Geld das Lesen ihn gekostet haben mochte. Selig der Mensch, so dachte er, ohne geistige oder körperliche Leidenschaften, der mit gleicher Verachtung an Buchhandlungen, Bordellen und Reisebüros vorbeizugehen vermochte. Eigentlich schade, dass man sich heutzutage nicht mehr dem Teufel verschreiben konnte; der allgemeine Niedergang des Glaubens hatte diesen Markt ruiniert und den Verderbten lediglich die Rolle des verachteten Proletariats zugewiesen; zu verkaufen blieb denen nichts als ihre ohnehin verlorenen Seelen. Faust hatte Juristerei, Medizin, Logik und Philosophie immerhin noch gegen vierundzwanzig Jahre voller Macht und Herrlichkeit eingetauscht; inzwischen steckten alle Hauptstädte randvoll mit Gelehrten, die diese vier Disziplinen und allerlei weiteres Wissen liebend gern für ein paar Schillinge und gelegentliche Vortragsreisen hingegeben hätten. Laster unterlagen einer Überproduktion, wie anderes auch.

Desmond hielt inne, er schwankte ein wenig und starrte seine Bücher traurig an.

«Ach, Platon! Habe ich früher einmal gelesen. Mal schauen, wie er sich gehalten hat.»

Er zog einen Band aus dem Regal und schlug ihn an irgendeiner Stelle auf:

«Wenn einer umgekehrt die Größe des Abstandes des königlichen Individuums von dem Tyrannen hinsichtlich der gediegenen Wahrheit seines Vergnügens mathematisch ausdrücken wollte, so würde er nach angestellter Multiplikation finden, daß Ersterer siebenhundertundneunundzwanzigmal vergnügter, der Tyrann aber um eben diesen Abstand unglücklicher lebe.»

Glücklicher König Georg! Siebenhundertneunundzwanzigmal glücklicher als ein Diktator. Armer Josef, armer Adolf! Desmond begann weiterzulesen, doch die Buchstaben zerliefen ihm in ein Durcheinander. Außerdem war da noch etwas in seinem Kopf. Was konnte das sein? Nach einigem Nachdenken fiel es ihm wieder ein, und er griff nach einem anderen Band. Was mochte da über Mord geschrieben stehen?

«Gerät jemand aber in einen derart wütenden Zwist mit seinen Eltern, dass er es über sich bringt, in seinem wahnhaften Wüten Vater oder Mutter zu töten, dann verfällt dieser Täter gleich mehreren Gesetzen: Dieser Greueltat wegen treffen ihn die härtesten Strafen, zu denen noch hinzutreten Strafen für Gottlosigkeit und Tempelraub, da er seinen Eltern das Leben raubte.»

Was für ein Haufen Unfug! Warum ihn nicht gleich wegen Brandstiftung anklagen, hat er seine Eltern doch ins Höllenfeuer geschickt, oder wegen Behinderung, da er den Herzschlag der Eltern anhielt, oder wegen betrügerischer Umnutzung, hat er doch die Körper der Eltern in Leichen verwandelt?

«… wenn es also menschenmöglich wäre, hundert Tode zu sterben, so wäre es nur allzu gerecht, denjenigen, der Vater oder Mutter im Zorn erschlug, diese hundert Tode sterben zu lassen.»

Hätte er kaltblütig gehandelt, verdiente er vermutlich zweihundert Tode – oder vielleicht auch nur vierzig; bei diesem Platon wusste man es nie so genau. Sollte es der medizinischen Wissenschaft jemals gelingen, Menschen nach einem unangenehmen Tod, sagen wir durch Ersticken, wiederzubeleben, könnte man den Täter wahrhaftig hundert Tode sterben lassen und ihn nach jeder Hinrichtung wieder aufwecken, außer nach der letzten. So ließe sich eine Art Tarifkatalog erstellen, von einem Tod für Taten im Affekt bis zu fünfhundert Toden für vorsätzlichen Raub, Unzucht und Vatermord, begangen an einem hohen Offizier, der gerade im Feld dem Feind ins Auge blickte; sollte die Berufung scheitern, wäre die Strafe zu verdoppeln.

«Wenn ein Sklave einen freien Mann in Selbstverteidigung tötet, unterliegt er den gleichen Gesetzen wie jener, der seinen Vater erschlägt.»

Desmond wurde zornig. «Verfluchter Platon! Und ich habe Jahre darauf verschwendet, einen ungerechten alten Bastard wie ihn zu bewundern!» Er begann, eine Seite nach der anderen aus dem Buch zu reißen, wobei er auf jeder einen Satz las, dann in ein spöttisches Lachen ausbrach und die Blätter ringsum im Zimmer verstreute. Schließlich stieg Übelkeit in ihm auf wie Blasen im Treibsand, und er stolperte ins Bad und übergab sich. Sobald sein Magen sich beruhigt hatte, warf Desmond sich aufs Bett, um zu schlafen, bevor die Übelkeit wieder einsetzte.

Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich steif und ermattet wie ein gescheiterter Bergsteiger. Nase und Rachen waren verschleimt, und sein Hemdkragen schnürte ihm den Hals zu. Er stand auf, immer noch ein wenig unsicher, und tappte ins Wohnzimmer hinüber, wo Teppiche verrutscht schienen, ein Tintenfass umgestoßen lag und die ausgerissenen Seiten der wunderschönen Platon-Ausgabe den Boden bedeckten. Warum er dies angerichtet hatte, fiel ihm nicht mehr ein, er war noch zu erschöpft; auch an Anna erinnerte er sich erst, als er den Wasserhahn der Badewanne aufdrehte. Die Erinnerung belastete ihn freilich kaum: Sie war fern und bereits verblasst, so als gehörte sie zu einer längst abgetanen Epoche der Geschichte.


Der Tag im Büro verlief rundum unerfreulich. Desmond, kränklich und von heftigen Kopfschmerzen gequält, hielt sich nur mit Mühe wach, und seine Sekretärin war dermaßen erkältet, dass sie unablässig schniefte, da sie es nicht wagte, ihre Nase mit jenem wenig damenhaften Nachdruck freizuputzen, welchen der Grad der Verschleimung erfordert hätte. Alle paar Minuten sammelte sich ein kristallklarer Tropfen am Rand eines Nasenlochs, und jedesmal beobachtete Desmond ihn mit der matten Angespanntheit eines Spielsüchtigen und wettete gegen sich selbst auf das weitere Anwachsen des Tropfens und dessen vermutete Verweildauer. Druckfahnen wurden hereingereicht, das Telefon läutete und die zehn Stockwerke dieses intellektuellen Produktionsbetriebs liefen auf Hochtouren. Desmond dachte sehnsüchtig an seine Reise nach Missenden am kommenden Wochenende; ein wenig spielte er mit dem Gedanken an einen nervösen Zusammenbruch und ein paar herrlich entspannte Wochen in Irland oder Südfrankreich. Schließlich schüttelte er die Träumereien ab und holte sich ein Glas Wasser.

Nach dem Mittagessen fühlte er sich schon besser, und nun durchsuchte er die Morgenzeitungen sehr gründlich nach einer Meldung über Anna. Er fand nichts; und obwohl der gesunde Menschenverstand ihm nahelegte, dass eine Verzögerung keinen Unterschied ausmachte, sagte ihm ein Instinkt, seine Chancen stünden besser, je länger der Leichnam unentdeckte bliebe, und so hob sich seine Stimmung. Die Rückkehr der Lebensgeister erfolgte im rechten Moment, denn um drei Uhr kehrte Mr. Poole aus seinem Club zurück, in sehr pedantischer Laune.

«Also wirklich, Thane, ich wünsche einfach nicht, dass Sie sich sarkastisch über ernsthafte Dinge auslassen! Was sollte dieser alberne Untertitel in Captain Thompsons Beitrag über die Offensivkraft der deutschen Armee?»

Er wühlte in einem Stapel mit Druckfahnen und fischte triumphierend ein Blatt heraus. «Hier ist es! ‹Träumt nicht den Traum von Maginot›. Was soll das heißen? Heute morgen bekam ich einen Aktenvermerk von Mr. Pink, und der ist ganz meiner Meinung: ‹Was soll das heißen?›»

«Ich dachte nur …», begann Desmond, doch er fühlte sich zu müde für eine Debatte. «In Ordnung», lenkte er erschöpft ein, «ich ändere das. Wie wäre es mit ‹Hitlers Militärmaschine: die wahren Fakten›?»

Mr. Pool schien zufrieden. «Das ist besser, das ist ein guter Titel. Ich mache noch einen echten Journalisten aus Ihnen, wenn Sie nur dieses intellektuelle Zeug hinter sich lassen. Als junger Mann war ich genau wie Sie; ich wollte immer besonders clever sein, aber ich war nicht vernünftig. Und dann erkannte ich eines Tages, dass ich mich für ein fröhliches Bohemienleben entscheiden müsste oder für den Neun-Uhr-Zug jeden Morgen und einen anständigen Beruf. Meine Entscheidung habe ich nie bereut. Sie haben das Zeug dazu, Thane; ich weiß, dass Sie tief drinnen ganz vernünftig sind.»

‹Der Morgen und der Morgen und der Morgen … Das Märchen eines Narren voller Lärm und ohne Wut, und es bedeutet nichts›, dachte Desmond.

Mr. Poole schwatzte weiter.

«Ihr jungen Männer seid doch alle gleich – versucht immer clever zu sein. Nehmen wir mal die Rezensionen, die Sie früher geschrieben haben, sehr kluges Zeug natürlich, keine Frage, aber scharf und unausgewogen. Als ich noch Redakteur beim Montreal Chronicle war, sagte ich meinen Rezensenten immer: ‹Ist ein Buch schlecht, rezensieren Sie es nicht. Wenn Ihnen das Buch, das ich Ihnen schicke, keine Freude bereitet, schreiben Sie gar nichts darüber. Denken Sie immer daran: Schweigen ist die stärkste Form von Verachtung.› Ich habe ihnen beigebracht, dass der Rezensent das Bindeglied zwischen Autor und Leser darstellt, und je weniger eigene Vorurteile er zeigt, desto besser.»

«Das schwächste Glied wäre demnach eines, das den Autor und den Verleger nicht in Frieden lässt?» bemerkte Desmond.

«Thane, Thane, was machen wir nur mit Ihnen! Immer zynisch, niemals ernsthaft! Ich denke da an meinen alten Freund Max – Lord Beaverbrook –, der sagte zur mir …» Desmond schaltete ab. Wer wie ein tibetanischer Heiliger oder ein schlechter Soldat im Stehen schlafen konnte, brauchte Langeweile nicht zu fürchten, wenn Mr. Poole in Fahrt kam.

Desmond lehnte sich gegen ein Bücherregal und ignorierte Mr. Pooles Vortrag über die eigene Großartigkeit. Plapperte dieser Mann von den Geisteswissenschaften, schien das so absurd und provokant wie ein kurzsichtiger Professor mit dünnen Ärmchen, der seinen Kollegen das altnordische Schwingen einer Axt demonstriert – oder wie ein offensichtlich im Sterben liegender Schwindsüchtiger, der die politischen Fragen des kommenden Jahres bespricht. Desmond fand Mr. Pooles Unfähigkeit derart offensichtlich, dass Poole selbst sich darüber im Klaren sein musste; jeder Kommentar zu seinen Ausführungen käme daher einer herablassenden Kränkung gleich. Desmond kannte diese Ratlosigkeit von gelegentlichen Versuchen, einer unattraktiven Frau zu schmeicheln; er war dann errötet beim bloßen Gedanken an die Peinlichkeit, falls sie ihn als Heuchler und Lügner zurückgewiesen hätte. Allerdings wissen Menschen dort, wo sie Stärken haben, auch um eigene Grenzen und Unzulänglichkeiten; was ihnen vollkommen abgeht, ist ihnen selten bewusst. Wenn also jemand in ernstem Ton versichert hätte, er, Desmond, besitze die Augen eines Mystikers oder die Waden eines Marathonläufers, hätte Desmond ihm wahrscheinlich geglaubt – und den Schmeichler deshalb besonders geachtet.

Um vier Uhr öffnete ein Junge die Tür und warf die Abendzeitung hinein. Desmond verrenkte seinen Hals, bis er die Überschriften lesen konnte:

DEUTSCHES FLUGZEUG VOR SHETLAND ABGESTÜRZT; VORLÄUFIGES SCHEIDUNGSURTEIL FÜR BARONIN; FRAU TOT IM APARTMENT. Desmond erstarrte und beugte sich vor:

FRAU TOT IM APARTMENT

Am heutigen Morgen wurde der Leichnam einer Frau, deren Name vermutlich Anna Raven lautet, in einem Apartment am Bedford Square aufgefunden. Der Tod trat vermutlich infolge einer Strangulation ein. Der Polizei liegen eine Reihe von Hinweisen vor; im Zusammenhang mit dem Verbrechen bittet man eine männliche Person, sich für eine Befragung bereitzuhalten.

Desmond spürte, wie er erbleichte, und stützte sich mit der Hand auf den Schreibtisch. Natürlich, sie schrieben immer etwas in dieser Art; sie konnten ihn unmöglich aufgespürt haben. Das half aber nichts; der elende Pressetext hatte ihm den Mord wieder vor Augen geführt – die Tat war nun «amtlich», und er wusste, dass sie sich wirklich zugetragen hatte. Er fürchtete plötzlich eine nahende Ohnmacht. Da wurde auch Mr. Poole aufmerksam.

«Fehlt Ihnen etwas, Thane? Sie sind ja bleich wie ein Gespenst.»

«Alles in Ordnung, vielen Dank; ich fühle mich nur ein wenig schwach, ich glaube, ich hole mir etwas Wasser, wenn Sie nichts dagegen haben; es ist wirklich alles in Ordnung.»

«Setzen Sie sich hin, Miss Prestwood wird Ihnen Wasser bringen. Beugen Sie Ihren Kopf nach unten – nein, noch tiefer –, dann werden Sie sich gleich besser fühlen.»

Mr. Poole rang mit sich; seine natürliche Freundlichkeit kämpfte gegen seine Pflichten als Arbeitgeber. Die Freundlichkeit siegte.

«Da, trinken Sie. Sie sollten lieber heimgehen und sich hinlegen; wir werden den Rest des Tages auch ohne Sie schaffen. Schlimmer, falls Sie hinfällig bleiben, wenn der Abgabetermin näher rückt. Ich bitte Miss Prestwood, Ihnen ein Taxi zu rufen.»

Desmond protestierte nur halbherzig, denn zu seinem eigenen Schrecken fühlte er sich tatsächlich krank, und er war froh, als man ihn in ein Taxi setzte. Ein paar Minuten später ging es ihm wieder besser, und als er zu Hause ankam, war er nahezu vollständig wiederhergestellt. Ähnlich wie Anna bewohnte auch er eines von mehreren Apartments in einem umgebauten Wohnhaus. Während er die Treppe hinaufstieg, schien ihm, als sei seine Wohnungstür ins Schloss gefallen. Er eilte die letzten Stufen hinauf und traf auf einen großen, kräftigen Mann, der eine Hand auf den Türklopfer legte.

«Wollen Sie mich sprechen?»

Der Mann wandte sich langsam um. Sein Gesicht wirkte weich, als rasierte er sich dreimal täglich; die Augen spielten ins Grünliche und standen ungewöhnlich weit auseinander. Seine Stimme klang belegt.

«Wohnt hier Mr. George Williamson?»

«Nein, tut mir leid.»

«Dann entschuldigen Sie mich; ich werde mich in der Adresse geirrt haben.»

Der Mann lüftete seinen schwarzen Hut und stieg die Treppe hinab, ohne eine Spur von Enttäuschung. Desmond zuckte die Achseln und trat ein.

Mrs. Fletcher, seine Haushaltshilfe, hatte an diesem Morgen offenbar sehr gründlich geputzt, denn Desmond fiel auf, dass alle Dinge, selbst seine Bücher, ein klein wenig anders standen als sonst. Zum Glück lag Annas Tagebuch an einem sicheren Ort; als Nächstes musste er die Pistole loswerden. Er inspizierte die Taschen des Anzugs, den er am letzten Abend getragen hatte. Ja, sie war immer noch da.

Bei Dunkelheit nahm er die Pistole an sich, er eilte zur Waterloo Bridge und warf sie über die Brüstung. Das war’s, so Gott will!

Es gibt keine Wiederkehr

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