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Dorothea Hauser GELD UND MORAL

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Noch jeder Friedensschluß hat den Charakter des Krieges, der ihm vorausging, in sich getragen. Man kann daher den Friedensvertrag von Versailles, der auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, folgte, auch als die Katastrophe nach der Katastrophe bezeichnen. Zu tief waren die Gräben, die der jahrelange Stellungskrieg auch in den Köpfen der Menschen hinterlassen hatte, zu groß auch die Versprechen, die alle Kriegsparteien für den Fall des Sieges vier Jahre lang ihren Bevölkerungen eingetrichtert hatten, als daß über den Gräbern von zehn Millionen Toten der 1914 begonnenen blutigen Selbstzerstörung Europas mit einem bloßen Federstrich hätte Einhalt geboten werden können. Vieles von dem, was die politische Instabilität jener beiden Jahrzehnte ausmachen sollte, die schon den Zeitgenossen oft düster als Zwischenkriegszeit erschienen, nicht zuletzt die finanzielle und wirtschaftliche Zerrüttung Europas, war weniger Folge des Friedensdebakels als vielmehr des Krieges selber.1 Wenn auch der Mythos vom »Schandvertrag« sich bis heute hält: Versailles allein läßt sich kein deutsches Fatum andichten.

Daß die Aufgabe, die sie sich vorgenommen hatten – nichts weniger als eine Neuordnung der Welt –, ihnen über den Kopf wachsen könnte, daran mochten die Staatsmänner, die 1919 in Paris ein halbes Jahr zusammensaßen, zunächst nicht denken. Und nicht nur sie: Als am 11. November 1918 endlich die Waffen schwiegen, hatte allenthalben große Zuversicht, ja sogar Begeisterung in der Luft gelegen. Denn von jenseits des Atlantiks erklang eine Heilsbotschaft, die dem traumatisierten alten Kontinent verhieß, daß das Massenopfer nicht umsonst gewesen sei: Man habe Krieg geführt, um in der Zukunft den Krieg zu verhindern und zugleich die Welt »safe for democracy« 2 zu machen. Sie wurde ausgegeben von dem Staatsoberhaupt jenes Landes, ohne dessen erst finanzielle, ab 1917 dann auch militärische Unterstützung die Entente den Krieg wohl kaum gewonnen hätte. 1918 schlug die Stunde Amerikas, dessen Aufstieg zur Weltmacht das einzige bleibende Ergebnis des Ersten Weltkriegs sein sollte.

Die Vierzehn Punkte, die US-Präsident Wilson Anfang 1918 in Reaktion auf den bolschewistischen Umsturz in Rußland verkündet hatte, waren seinerzeit nicht weniger revolutionär als die Parolen Lenins. Und die Bereitschaft der Menschen, an den Beginn einer neuen Ära der Weltgeschichte mit Frieden, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Völker zu glauben, war so umfassend wie die faktische Sinnlosigkeit des großen Schlachtens vorher. Nicht nur die Deutschen, die – durch den Schachzug ihrer Militärs, die unvermeidliche Niederlage in einem Moment anzuerkennen, in dem noch kein alliierter Soldat auf deutschem Boden stand – für Illusionen besonders empfänglich waren, wollten den Amerikaner beim Wort nehmen. Man kann die emotionale Verheißung, die die Menschen damals mit den Parolen des amerikanischen Präsidenten verbanden, gar nicht genug betonen: Als Wilson, der sich selber freilich eher als Missionar und moralischer Schiedsrichter verstand, im Dezember 1918 in Paris eintraf, war es, als ob der Messias käme. Der Jubel auf den Straßen wollte kein Ende nehmen und fand sein Echo in der weihevollen Hochgestimmtheit zahlreicher Friedensunterhändler.

»Wir wollten nicht nur den Frieden vorbereiten, sondern den ewigen Frieden. Uns umgab der Glorienschein eines göttlichen Auftrags«3, faßte der Diplomat Harold Nicolson im Rückblick die anfängliche Gefühlslage vieler in der britischen Delegation zusammen. John Maynard Keynes, der ihr als Vertreter des britischen Schatzamts in prominenter Stellung angehörte, teilte derlei Zuversicht nicht. Nicht zuletzt geprägt durch seine Zugehörigkeit zum avantgardistischen Londoner Künstlerkreis von Bloomsbury, ließ ihn seine schon den ganzen Krieg über skeptische Haltung, was staatsmännische Vernunft und Kompromißbereitschaft angeht, von vornherein auch für danach wenig Gutes erwarten. Zwar entlarvte auch Keynes, wie er Mitte April 1919 an einen Bloomsbury-Freund schrieb, Wilson umstandslos als »den größten Betrüger auf Erden«4. Doch im Vergleich zu dem Ton enttäuschter Hoffnung, den der gar nicht kleine Chor anglo-amerikanischer Versailles-Kritiker bald anstimmte, war Keynes’ bereits im Dezember 1919 veröffentlichte Philippika Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages in weit geringerem Maße ein Produkt überzogener Erwartungen an die Friedensmacher. Im Gegenteil: Seine Polemik war von der Überzeugung getragen, daß auf den Trümmern des Weltkriegs die Zukunft nicht im Treibsand politischer Ideen und Leidenschaften, sondern zuallererst in der grenzüberschreitenden Rationalität der ökonomischen Sphäre liege. Eben dieses letzte Residuum der Vernunft aber, so sah es Keynes, drohte mit den in Versailles festgelegten wirtschaftlichen Friedensbedingungen dem Irrsinn einer politischen Zivilisation in extremis anheimzufallen, die nach Deutschlands kalkulierter Aggression gegen das neutrale Belgien vom August 1914 einen Weltenbrand entfesselt und ein Goldenes Zeitalter des Wohlstands beendet hatte.

Hiermit formulierte Keynes, der seit seinen Cambridger Studientagen als Allround-Genie galt, nicht nur einen beispiellosen Überlegenheitsanspruch des Ökonomischen über die Politik. In seinen Augen drohten die finanziellen Klauseln des Versailler Vertrags durch eine wirtschaftliche Schwächung Deutschlands nicht allein die Verlierernation, sondern den ganzen Kontinent auch politisch zu ruinieren. Seine beißenden, nicht immer fairen Porträts der alliierten Friedenshäuptlinge gaben den Hintergrund für einen finsteren Ausblick: Keynes prophezeite nichts weniger als »einen langen Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution, vor dem die Schrecken des vergangenen Deutschen Krieges verblassen werden und der, gleichgültig wer Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird«.5 Freilich beließ es der Ökonom nicht bei diesem abgründigen Szenario. Vielmehr lieferte er seine Rettungsvorschläge, die er 1922 in einem Folgeband unter dem Titel Revision des Friedensvertrages noch weiter ausarbeiten sollte, gleich mit. Obwohl, wie das ganze Traktat, brillant und mit Herzblut geschrieben, waren sie angesichts des Völkerhasses und der politischen Evangelien, die nach dem Ersten Weltkrieg im Schwange waren, mit ihrem Beharren auf einem Frieden der ökonomischen Vernunft von großer Nüchternheit. Tatsächlich waren sie zu nüchtern. Denn für die Qualen und die Ängste des Hauptleidtragenden des Krieges, nämlich Frankreich, dessen Nordteil die Deutschen systematisch verwüstet und demontiert hatten, zeigte Keynes bemerkenswert wenig Empathie. Mehr noch: Das von ihm geforderte und für Europas Erholung unentbehrliche finanzielle Engagement der USA, die als Wirtschafts- und Handelsmacht fortan weltweit unangefochten blieben, ließ sich vorerst kaum erzwingen. Schließlich hatten die Amerikaner, obgleich durch den Krieg reich geworden und durch den späten Kriegseintritt relativ unverschlissen, selbst ihren ausgezehrten Koalitionären jeglichen Schuldenerlaß verweigert. Gleichwohl lag Keynes’ Entwurf zu Recht die Erkenntnis zugrunde, daß allein Europas wirtschaftliche Verschränkung, notwendig angetrieben von der Wirtschaftslokomotive Deutschland, der Schlüssel für den Wiederaufbau wie auch die politische Aussöhnung des kriegsversehrten Kontinents sei. Sein furioses Pamphlet ist, was allzuoft übersehen wird, gleichermaßen eine Kampfansage gegen Versailles wie eine frühe Werbeschrift für das Programm einer europäischen Integration. Man kann es mit Blick auf den weiteren Fortgang des 20. Jahrhunderts nicht ohne Erschütterung lesen.

So entwickelte Keynes mit seinem Vorschlag einer amerikanischen Anleihe für den europäischen Wiederaufbau nicht nur den blueprint für einen Marshallplan, wie er dann unter seinem wesentlichen Einfluß nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest dem westlichen Teil Europas zugute kommen sollte. Im Vorgriff auf das, was 1955 eine grundlegende Doktrin der Nato wurde, formulierte er zugleich das Postulat, daß Sicherheit vor Deutschland nur Sicherheit mit Deutschland sein könne. Vor allem aber plädierte er für die Gründung einer europäischen Freihandelsregion, der neben Deutschland und den anderen Staaten Zentral- und Osteuropas auch die Türkei angehören sollte. Tatsächlich erschien Keynes dieses Projekt derart dringlich, daß er in einer Passage, die den Artikel 23 des EWG-Vertrags von 1957 gleichsam vorwegnahm, für Deutschland sowie die 1919 neu geschaffenen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs eigens eine zehnjährige Mitgliedspflicht unter Aufsicht des Völkerbunds vorsah. Für alle anderen Länder hingegen, Frankreich und Italien zumal, sollte der Beitritt zur europäischen Wirtschaftsunion freiwillig sein. Dabei hielt Keynes die Beteiligung Großbritanniens von Anfang an zwar für sinnvoll und wünschenswert. Doch er ging gleichzeitig davon aus, daß England, dessen Zwischenkriegsjahre heute als »Zeitalter der Illusionen«6 gelten, sich in einem »Übergangzustand«7 befinde und deshalb »immer noch außerhalb Europas«8 stehe. Keynes’ Lehre aus Versailles – »jedenfalls mußte ich als Engländer, der an der Pariser Konferenz […] teilnahm, […] zum Europäer werden«9 – blieb allerdings nicht nur in seinem Heimatland weitgehend ungehört. Statt dessen sollte mit der Verwirklichung seiner Ideen erst rund vierzig Jahre später, nach einem weiteren Weltkrieg, durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begonnen werden. Und bis zur Teilhabe der 1919 neu entstandenen Staaten Osteuropas an einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, von der Keynes in seinem Entwurf ganz selbstverständlich ausgegangen war, mußten gar noch einmal fast fünfzig Jahre vergehen. Das Drama Europas mag seit den Tagen Keynes’ nicht zuletzt darin bestehen, daß sein Zusammenhalt eben nicht am lodernden Feuer verheißungsvoller Utopien erdacht und beschlossen, sondern im Gegenteil gegen sie erkämpft werden mußte, weil er – ganz ohne Fanfaren – schlicht eine zwingende Tatsache darstellt. Vernunft allein wärmt damals wie heute nicht jeden. Gerade Europas unentrinnbare Zweckmäßigkeit, mithin die Gefahr seiner Verunglimpfung als bloßer Zweckverband, wird seine Schwäche bleiben.

Was 1919 in Paris geschah, war ein Schauspiel, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte, und ein vergleichbares diplomatisches Massenspektakel hat es auch nie wieder gegeben. Paris, wo nicht nur die leeren Fensterhöhlen von Notre Dame, die schwarzgekleideten Frauen in den Straßen und die vielen Lazarette an den eben erst beendeten Krieg erinnerten, war damals sechs Monate lang nichts weniger als die Hauptstadt der Welt. In einer Zeit, in der der größte Teil des Globus keine eigene Staatlichkeit, sondern Kolonialstatus besaß, war außer dem revolutionären Rußland quasi die gesamte Menschheit vertreten. Während die Kriegsverlierer – Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei – mehr oder minder nur am Katzentisch saßen, waren 30 Länder aus allen fünf Kontinenten von den Siegermächten offiziell geladen. Und mit den Regierungschefs und ihren Ministern kamen nicht nur die Journalisten und Lobbyisten, sondern mehrere tausend Staatsbeamte und Unterhändler, Sachverständige und Berater, die sich tagaus, tagein in Gremien und Stäben, Kommissionen und Unterkommissionen zusammenfanden. Im Gefolge des amerikanischen Präsidenten sollen sich allein 1300 Bürokräfte befunden haben, die eigens aus den USA herübergeschifft worden waren. Hinzu gesellten sich zahllose politische Bittsteller jeglicher Couleur sowie ernannte und selbsternannte Fürsprecher all jener, die den Ruf Wilsons nach Freiheit und Selbstbestimmung für alle Völker persönlich nahmen. Die Kunde von den Vierzehn Punkten setzte noch in der entferntesten Erdengegend die Leute in Bewegung. Nicht alle kamen rechtzeitig: Die Vertreter der koreanischen Minderheit in Sibirien, die den weiten Weg nach Paris zu Fuß antraten, hatten zum Schluß der Hauptkonferenz Ende Juni 1919 nach monatelangen Märschen erst den Eismeerhafen Archangelsk erreicht. Andere wurden bitter enttäuscht. Ho Chi Minh etwa, der spätere Vietkong-Führer, der während der Konferenz als Küchengehilfe im Hotel Ritz arbeitete, stieß mit seinem Appell für das vietnamesische Volk auf ebenso taube Ohren wie der Schwarzenführer DuBois mit seiner Forderung nach der Unabhängigkeit Afrikas. Kein Gehör zu finden sollte 1919 nicht nur das Schicksal der Deutschen sein.

Versailles und die anderen Pariser Vorortverträge – Trianon, Saint-Germain, Sèvres und Neuilly – sind in vielerlei Hinsicht Dokumente des Übergangs. Denn mit dem Ersten Weltkrieg, dem Untergang des Zaren-, des Habsburger- und des Osmanischen Reiches sowie dem Eintritt der USA in die Weltpolitik war es nicht nur um das sogenannte Konzert der fünf europäischen Großmächte geschehen. Vorbei war es auch mit der aristokratischen Überschaubarkeit der diplomatischen Sphäre und somit der Institution des feierlichen Friedenskongresses, mit dem in Zeiten der klassischen »Großen Politik« die europäischen Kabinette das Mächtegleichgewicht nach jedem Waffengang neu austariert hatten. Für den völligen Strukturwandel der internationalen Beziehungen nach 1918 haben Historiker denn auch den Begriff der »Diplomatischen Revolution« geprägt. Gemeint ist die rapide Zunahme der auf der internationalen Bühne handelnden Staaten, das explosionsartige Anwachsen der Zahl außenpolitischer Akteure, die Konferenzdiplomatie und das Sondermissionswesen, die Völkerbundsidee und der Schiedsgerichtsgedanke, die Deklarationsdiplomatie und die Anerkennung der öffentlichen Meinung durch das Bemühen um demokratisch legitimierte public diplomacy statt der zuvor gepflegten Geheimpolitik. Der Pariser Konferenz mag eine dauerhafte Friedensordnung nicht gelungen sein; eine Epochengrenze der Völkerrechtsgeschichte und der internationalen Beziehungen bleibt sie allemal.

Indessen geriet 1919 der Konferenzmarathon schon seines schieren Ausmaßes und seiner Dauer wegen zur Karikatur der alten Kongreßidee. Nachdem in den ersten zwei Monaten mehr über die Beratungen in den Zeitungen gestanden hatte, als an Ergebnissen vorzuweisen war, hatten die Hauptsiegermächte vorerst genug von den Segnungen ihrer »Neuen Diplomatie« und zogen im März 1919 die Notbremse. So waren es am Ende doch wieder nur drei Männer, die über die Geschicke der Menschheit befanden: Wilson, der französische Premier Clemenceau und sein britisches Gegenüber Lloyd George. Der neue hohe Ton, mit dem Interessenpolitik zumindest öffentlich auch zu einer Frage der überlegenen Moral erklärt werden mußte, gab die Begleitmusik, derweil in recht herkömmlicher Großmachtmanier die Aufteilung gefallener Reiche und die neuen Grenzen Europas beschlossen wurden. Im Unterschied zum staatsmännischen Herrenclub alter Schule aber, wo man, wie Metternich 1814 meinte, »als Freunde«10 zusammengesessen hatte, war das Trio von 1919 binnen Kürze überkreuz. Clemenceau fand sich nach eigenem Dafürhalten »zwischen Jesus Christus auf der einen und Napoleon Bonaparte auf der anderen Seite«11. Es war denn auch vor allem dem heillosen Auseinanderdriften der Siegerkoalition geschuldet, daß die Deutschen allen diplomatischen Gepflogenheiten zum Trotz von einer gemeinsamen Diskussion ihres Friedensverdikts ausgeschlossen blieben. Das Vorbild für ein derartiges Diktat hatten sie ein Jahr zuvor im Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit den russischen Bolschewiki selber geliefert.

Das Büßerhemd, das man den Deutschen in Versailles überstreifen wollte, mochten sie freilich nicht anziehen. Die Empörung des deutschen Delegationschefs Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau war echt, als er – entgegen dem Rat sämtlicher Kollegen – die Alliierten bewußt brüskierte und bei der Übergabe der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 sitzen blieb. »Sie taten uns leid, als sie hereinkamen, und wir waren außer uns vor Wut, als sie gingen«12, beschrieb der französische Diplomat Paul Cambon die Reaktion der Alliierten auf Brockdorffs förmlichen Affront. Der durchaus konziliante Inhalt seiner Rede ging im allgemeinen Aufruhr unter. Die ohnehin geringen Chancen der im Château de Villette regelrecht internierten deutschen Delegation, doch noch an den Verhandlungstisch zu kommen, waren nun erst recht geschmälert. Dabei kamen nicht nur ihr die Friedensbedingungen einem vernichtenden Urteilsspruch gleich. So mancher Vertreter der Siegermächte reagierte schockiert, als er den riesenhaften Korpus des Friedenswerks am selben Tag wie die Deutschen erstmals in Gänze zu Gesicht bekam. Immerhin sollten die hernach nur schriftlich eingereichten deutschen Gegenvorschläge, trotz ihrer legalistischen Bleifüßigkeit, im Lager der Alliierten besonders die Finanzexperten in der britischen und amerikanischen Delegation tief beeindrucken. Dies beschränkte sich nicht auf das deutsche Reparationsangebot über 100 Milliarden Goldmark, das bei näherem Hinschauen zwar nominal weit geringer ausfiel, den Siegermächten aber mehr eingebracht hätte, als sie je bekommen sollten. Es darf nicht übersehen werden, daß die in Versailles formulierten deutschen Friedensvorschläge dem Geist von Wilsons Vierzehn Punkten tatsächlich am nächsten kamen. Und das »Traumland der Waffenstillstandszeit« 13, wie die Illusionen der deutschen Friedensstrategie im Vorfeld von Versailles bezeichnet worden sind, hatte auch viele auswärtige Bewohner.

Gleichwohl wollte sogar John Maynard Keynes in den Mitgliedern der deutschen Delegation weithin das populäre »Hunnen«-Klischee bestätigt sehen. Doch wer da die Weimarer Republik in Versailles als Delegierter und Sachverständiger vertrat – sei es der Pazifist Walther Schücking, die Privatbankiers Carl Melchior und Max Warburg, der Soziologe Max Weber oder der Völkerrechtler Albrecht von Mendelssohn-Bartholdy –, gehörte nicht unbedingt zum Schlechtesten, was die junge Demokratie aufzubieten hatte. Sie haben sich jedoch in Paris ebenso vergeblich bemüht wie später in Weimar, wo sie geschlossen dafür eintraten, die Unterschrift unter den Versailler Frieden zu verweigern. In der rachsüchtigen Pariser Atmosphäre empfanden die Sieger in ihrer »Gottgeschlagenheit«14, wie Thomas Mann es nannte, ohnehin selbst die Errungenschaften des neuen Deutschland als Provokation. Ihnen war es, so formulierte der Publizist Theodor Wolff seinerzeit treffend, »als zeige eine Familie von Neureichen mit übertriebenem Eifer den erst frisch erworbenen Schmuck«15. Andererseits ist das Unvermögen, sich beliebt zu machen, wie auch das kleinlich Nachtragende während der Weimarer Republik ein Charakterzug der deutschen Diplomatie geblieben. Als Wilson 1924 starb, weigerte sich die deutsche Botschaft in Washington als einzige Außenvertretung, ihre Flagge auf Halbmast zu setzen.

Ein vernichtender karthagischer Friede, wie Keynes im Juni 1919 nach seinem demonstrativen Rücktritt von der britischen Delegation zunächst meinte und im Dezember darauf in seinem Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages aller Welt verkündete, ist Versailles nicht gewesen. Sicher: Die Abtrennung von dreizehn Prozent des deutschen Staatsgebiets mit zehn Prozent seiner Einwohner war schmerzlich, besonders für eine Bevölkerung, der – anders als nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz der drastischen Auswirkungen der alliierten Hungerblockade die physische Erfahrung der Niederlage auf eigenem Boden erspart geblieben war. Die von zynischen Militärs aufgebrachte Dolchstoßlegende schien so manchem sehr viel einfacher zu akzeptieren. Der Verlust war aber, auch eingedenk der eigenen kaiserzeitlichen Siegfriedenspläne, zu verkraften, zumal es dem noch nicht einmal fünfzig Jahre alten Reich in Versailles womöglich sehr viel schlechter hätte ergehen können. Für seine Auflösung oder Zerschlagung haben sich 1919 nicht nur die Franzosen, sondern auch die Bayern interessiert. Aufgrund des Kollaps des Zarenreichs und der breiten Schütterzone ungefestigter neuer Klein- und Mittelstaaten im Osten war Deutschlands geopolitische Position nach Versailles sogar günstiger als vor dem Ersten Weltkrieg. Genau hierin lag freilich die Krux einer Friedensschikane, die in ihrem moralischen Triumphalismus die Warnung Machiavellis – »Demütige niemanden, den du nicht vernichten kannst«16 – außer acht gelassen hatte. Statt dessen lieferte die Entente Anreiz wie Legitimation für einen langfristigen militärischen Wiederaufstieg Deutschlands gleich mit, indem seine Entwaffnung, anders als proklamiert, nicht zum Auftakt einer allseitigen Abrüstung wurde. Mehr noch aber als die fragwürdigen Friedensbedingungen selber, und mehr auch als der wenig überraschende Unwillen der Deutschen, diese rückhaltlos zu akzeptieren, ist es die fatale Halbherzigkeit seiner Ausführung gewesen, die den Versailler Vertrag zum Menetekel der Epoche nach 1919 machen sollte.

Tatsächlich ist es den Friedensmachern von Paris noch nicht einmal gelungen, die Tatsache ihres Sieges im Ersten Weltkrieg zu konservieren. Dieses paradoxe Ergebnis stand schon 1919 fest, also noch bevor der amerikanische Kongreß die Ratifizierung des Versailler Vertrags auch im dritten Anlauf verweigerte und die USA sich in den Isolationismus zurückzogen. Denn der Völkerbund war schon wegen seiner militärisch zahnlosen Konzeption von Anfang an nicht geeignet, die zusammengebrochene Gleichgewichtsordnung der europäischen Mächte zu ersetzen. Und die beiden Parias der Weltpolitik, Deutschland und die Sowjetunion, blieben von diesem bloß ansatzweise konstruierten System kollektiver Sicherheit zunächst ohnehin ausgeschlossen. Schon 1922 fanden sie in Rapallo zusammen.

Während die USA sich davor scheuten, der Verantwortung ihrer neuen Weltmachtrolle gerecht zu werden, erwies sich Großbritannien als unfähig, den durch den Weltkrieg herbeigeführten Verlust seiner Vormachtstellung durch ein Konzept der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Konsolidierung des Kontinents abzufedern. Statt dessen war Lloyd George bald von der eifersüchtigen Sorge einer zu deutlichen Stärkung Frankreichs gegenüber Deutschland besessen. So wurde der »Frieden ohne Sieg«, den Wilson Anfang 1918 den im Weltkrieg Unterlegenen großherzig angekündigt hatte, vor allem für Frankreich Wirklichkeit, freilich in einem ganz anderen, tragischen Sinne. Denn mit dem Scheitern der in Paris bloß zaudernd versprochenen Sicherheitsgarantie durch Großbritannien und die USA stand fest, daß das wirtschaftlich wie bevölkerungsmäßig seinem Ostnachbarn weit unterlegene Land einem erneuten Angriff Deutschlands so gut wie hilflos ausgeliefert sein würde. Lloyd George freilich wußte Frankreichs Katastrophe im Juni 1940 nur mit den Worten zu kommentieren, Hitler sei »die größte Persönlichkeit in Europa seit Napoleon« – »und womöglich sogar größer als er«17.

Niemand hat nach dem Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung der immensen Kriegsschäden in Frankreich und Belgien bezweifelt. Auch die Deutschen nicht – trotz der rechenhaften Mitleidlosigkeit, mit der sie zuweilen den von ihnen angerichteten Verwüstungen die eigenen Verluste an Soldaten und die vielen Zivilopfer der alliierten Hungerblockade entgegensetzten. Durch die mangelnde Bereitschaft der Angelsachsen, sich auf dem Kontinent zu engagieren, und den Unwillen der USA zum finanziellen burdensharing mit seinen Kriegskoalitionären wuchs sich die Reparationsregelung allerdings von einem Entschädigungsproblem zum zentralen Ordnungsinstrument des Versailler Nachkriegssystems aus. Das Deutschland auferlegte Reparationsregime wurde gleichsam zum Substitut der unterbliebenen machtpolitischen Justierung Europas. Doch dieser Versuch, ein originär geo- und sicherheitspolitisches Problem, nämlich Deutschlands Übermacht auf dem Kontinent, durch wirtschaftliche Pressionen zu lösen, war – das sah Keynes ganz richtig – ebenso unvernünftig wie untauglich. Mit der Fesselung der größten europäischen Volkswirtschaft konnte der Wiederaufbau Europas, geschweige denn das Anknüpfen an die wirtschaftliche Vorkriegsherrlichkeit, kaum gelingen.

Als die deutsche Delegation nach dem Erhalt der Friedensbedingungen im Mai 1919 beklagte, das zarte Pflänzchen der Weimarer Demokratie könne nicht für die Taten des Kaiserreichs haftbar gemacht werden, hielt ihnen Clemenceau die Verträge von Frankfurt 1871 und Brest-Litowsk 1918 entgegen, die ebenfalls jeweils nach Revolutionen den französischen respektive russischen Nachfolgeregierungen vom Deutschen Reich auferlegt worden waren. In Brest-Litowsk hatten die Deutschen allerdings klug auf Reparationen verzichtet. Und ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen den Reparationen des Jahres 1871 und denen von Versailles war die Tatsache der durch den Weltkrieg bloß zeitweise unterbrochenen enormen wirtschaftlichen Verflechtung der europäischen Industrienationen. Von dem Ausmaß der industriellen Grenzüberschreitung und des ökonomischen Internationalismus in der Welt vor 1914 macht man sich gemeinhin keine Vorstellung: Tatsächlich ist der weltwirtschaftliche Globalisierungsgrad, der die europäisch dominierte Wohlstandsepoche in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auszeichnete, bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, also in unseren Tagen, noch nicht wieder erreicht worden.

Zwar hatte schon 1873 die von Frankreich unter dem Druck der deutschen Besatzung bewerkstelligte vorzeitige Rückzahlung seiner Kriegsreparationen in Deutschland eine Wirtschaftskrise ausgelöst, den sogenannten Gründerkrach. Das Reparationsregime der zwanziger und dreißiger Jahren aber sollte weitaus komplexere Wechselwirkungen hervorrufen. Insbesondere im industriellen Herzland Europas, vom Ruhrgebiet über Luxemburg bis nach Lothringen und an die Saar reichend, wurde dies nicht erst während der Ruhrkrise von 1923 deutlich, als die von der Ruhrkohle abhängigen belgischen und französischen Stahlwerke mangels Lieferungen aus Deutschland schließen mußten. Der ökonomische Zwangszusammenhang, das war Keynes’ zentraler Punkt, unterschied nicht zwischen Siegern und Besiegten und scherte sich auch sonst nicht um politische Ziele und Wunschvorstellungen. So waren etwa die im Reparationsplan festgelegten deutschen Kohlelieferungen für das kriegsversehrte Frankreich und Belgien zwar notwendig, sie bedeuteten aber zugleich eine unliebsame Konkurrenz für die britische Exportkohle. Und die Konfiszierung deutscher Handelsschiffe brachte Großbritannien und den USA im Sommer 1919 zwar einen gewissen Ausgleich ihrer Kriegsverluste durch den deutschen U-Boot-Krieg. Mittelfristig aber trug der Zwang zum Neuaufbau der Tonnage in Deutschland selbst mit zu jenem industriellen Wiedererstarken bei, das Großbritannien und Frankreich durch die Reparationen just hatten verhindern wollen.

Daß mit den Reparationen tief und störend in die europäischen Wirtschaftskreisläufe eingegriffen würde, war auch den Siegermächten schon 1919 deutlich. Und ihnen war ferner klar, daß Deutschland größere Zahlungen nur erwirtschaften konnte, indem es die anderen Länder mit Billigexporten überfluten und zugleich die eigenen Importe stark reduzieren, als Absatzmarkt also weitgehend ausfallen würde. »Das Problem«, faßte der amerikanische Vertreter in der Reparationskommission ein inter-alliiertes Spitzengespräch im Juli 1919 zusammen, »ist daher nicht so sehr, was Deutschland bezahlen kann, sondern inwieweit sich die Alliierten Deutschlands Zahlungen überhaupt leisten können«18. Doch das Versprechen an ihr Wahlvolk, daß Deutschland die Zeche bezahle, konnten Großbritannien und Frankreich ebenfalls nicht ignorieren. In der Presse wie in den Kommissionen wurden astronomische Tributhöhen diskutiert. Aus diesem Dilemma heraus entstand mit Artikel 231 des Versailler Vertrags der fatale »Kriegsschuldparagraph«, um das Vergeltungsbedürfnis vor allem der britischen homefront zu bedienen. Die Schadenersatzforderungen an die Verlierernation wurden nicht, wie seit jeher üblich, mit ihrer Niederlage begründet, sondern zur gerechten Strafe für einen Schurkenstaat erklärt. In der deutschen Übersetzung noch schärfer formuliert als im Original, sollte die Kriegsschuldfrage die innenpolitische Atmosphäre der Weimarer Republik dauerhaft vergiften. Das Geld kam erst nach der Moral: Im Folgeartikel 232 wurde die zuvor umfassend formulierte, mithin theoretisch unbegrenzte Reparationspflicht Deutschlands in einem ausführlichen Annex tatsächlich nur für Zivilschäden spezifiziert.

Am Ende blieb die Summe offen. Dies war vor allem der Eifersucht zwischen den beiden Alliierten geschuldet, die sich untereinander weder über den Umfang noch über den Verteilungsschlüssel künftiger Reparationszahlungen einigen mochten. Dabei sprach, auch angesichts der Waffenstillstandsbedingungen, für die französische Forderung, dem Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Gebiete Vorrang zu geben, weitaus mehr als für das Bemühen Lloyd Georges, den britischen Anteil am Reparationskuchen durch die Hereinnahme von Pensions- und Unterhaltsansprüchen von Kriegswitwen und Soldatenfamilien künstlich aufzublähen. Angeregt zu diesem mehr als fragwürdigen Schritt wurde Lloyd George vom südafrikanischen General Smuts. Ironischerweise machte Smuts wenig später vor allem durch seine lautstarke Mißbilligung des Friedenswerks, das er gleichwohl unterschrieb, von sich reden. Ihm, der Keynes hartnäckig drängte, seine kritischen Gedanken publik zu machen, verdankt sich auch die Entstehung von Keynes’ Versailles-Buch.

Kam man in Paris aus der Klemme zwischen wirtschaftlichen Zwängen und dem Druck der öffentlichen Meinung schon nicht heraus, entschied man sich nun für die schlechteste aller Lösungen, den Aufschub des Problems. Zusätzlich zu einer anfänglichen Zahlungsverpflichtung über 20 Milliarden Goldmark unterschrieb Deutschland mit dem Versailler Vertrag gewissermaßen einen Blankoscheck. Der Vorschlag stammte ausgerechnet von Keynes, der angesichts der bizarren Höhe der von seinen Erzfeinden in der britischen Delegation vorgelegten Zahlen hoffte, daß den Politikern später ökonomischer Verstand zuwachsen würde. Sein Versailles-Buch, in dem er Deutschlands Zahlungsfähigkeit auf allenfalls 40 Milliarden Goldmark bezifferte, verstand sich nicht zuletzt als Argumentationshilfe. Aber er wurde enttäuscht: Im Mai 1921 wurde die deutsche Reparationsschuld schließlich auf 132 Milliarden Goldmark festgelegt – etwa das Dreifache des Bruttosozialprodukts, das ein größeres und reiches Deutschland einschließlich seiner Kolonien im Vorkriegsjahr 1913 erzielt hatte.

In der Zwischenzeit aber schwanden dem Land, das man später melken wollte, sowohl die Kreditwürdigkeit als auch der Glaube an sich selbst. Die deutsche Inflation, die 1923 in Hyperinflation und Währungszusammenbruch endete und als existentielle Entwertungserfahrung die Bevölkerung nachhaltig traumatisierte, war zwar zum Teil hausgemacht und politisch gewollt, da sie das Abschreiben der Kriegsschulden und den Export unterstützte, aber eben nur zum Teil. Denn daß der Dollar schon bis Ende 1919 gegenüber der Mark rund 465 Prozent zugelegt hatte, spiegelte vor allem den Pessimismus der Währungsspekulanten hinsichtlich Deutschlands Zukunft im Gefolge des Versailler Vertrags. Im Ausland hingegen überwog zunächst noch ein fester Glaube an deutschen Fleiß und deutsche Tatkraft. Im März 1920 stabilisierte sich die Mark vorübergehend gegenüber dem Dollar, nachdem Millionen von Kleinanlegern in Europa und den USA über Monate Milliarden von deutscher Papiermark erworben hatten. »Wir leben vom Kredit früherer Jahrzehnte«19, versuchte sich der Hamburger Privatbankier Max Warburg das seltsame Phänomen zu erklären. John Maynard Keynes hatte denn auch in der Annahme, daß die ökonomischen Folgen des Friedensvertrages sofort und durchgehend seiner Vorhersage entsprechen würden, in Währungstermingeschäften konsequent gegen die Mark und auf den Dollar gesetzt. Durch die abweichende Spekulationsblase aber verlor er die seinerzeit gewaltige Summe von mehr als 13000 Pfund Sterling eigenen Geldes sowie weitere 8500 Pfund, die er für Freunde investiert hatte. »So wenig verstehen Banker und Dienstmädchen von Geschichte und Wirtschaft«20, seufzte Keynes im Rückblick. Tatsächlich sollte er sich mit seiner Prognose nur kurzfristig verspekuliert haben.

Die Siegermächte haben 1919 in Paris sechs Monate lang ununterbrochen neben ihren Reparationsansprüchen auch Deutschlands Zahlungsfähigkeit diskutiert. Die Frage nach der Zahlungswilligkeit des Schuldners stellten sie sich dagegen kaum. Eingedenk der Tatsache, daß die Abwicklung der Reparationszahlungen aufgrund des Mangels an Pfändern in der Hand der Alliierten in hohem Maße von der Kooperation Deutschlands abhängen würde, war dies eine bemerkenswerte Unterlassung. Mit anderen Worten: Die Reparationen ließen sich, wie Frankreich 1923 nach der Besetzung des Ruhrgebiets erfuhr, nicht in beliebiger Höhe durchsetzen, wenn der Schuldner nicht wollte. Mit dem militärischen und bündnispolitischen Rückzug der USA aus Europa sollte dies erst recht gelten. Denn der ökonomische Rahmen des internationalen Systems, dessen Konturen zwischen November 1918 und Juni 1919 gezogen worden waren, hing weitgehend von Amerika ab.

Bei den Pariser Beratungen hatte der italienische Premier Orlando bereits nachdrücklich auf das entscheidende Problem der Durchsetzung alliierter Reparationsforderungen hingewiesen. »Es wäre gefährlich«, hatte er hellsichtig hinzugefügt, »ein Verfahren festzulegen, das letztlich böse Absichten und Verweigerung belohnt«21. Eben solch ein widersinniger, mithin negativer Anreiz war dem alliierten Reparationsschema aber von Anfang an immanent. Denn es sah eine Staffelung der Reparationen in verschiedene Tranchen vor, die erst im Erfüllungsfall nach und nach aktiviert werden sollten. Die Deutschen beklagten sich denn auch darüber, daß jede Anstrengung ihrerseits, die erste Reparationstranche abzulösen, mit einer erneuten Reparationsschuld bestraft werden würde. Allerdings war auch das Gegenteil wahr: Die Nichterfüllung der Reparationspflichten würde eine Senkung der deutschen Reparationslast zur Folge haben. Genau dies ist mit den unterschiedlichen Reparationsregimen, die mit amerikanischer Hilfe 1924 im Dawes- und 1929 im Young-Plan etabliert wurden, dann auch sukzessive geschehen. Bis zum endgültigen Ende der Reparationen 1932 in Lausanne zahlte Deutschland unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 22 und 30 Milliarden Goldmark, davon lediglich ein Drittel in Barleistungen. Dies lag nur unwesentlich über der Summe, die laut Versailler Vertrag allein bis zum Mai 1921 hätte geleistet werden müssen.

Die unerquickliche Reparationsfrage ist so bis zu einem gewissen Grade auch ein Reparationstheater gewesen. Denn unter dem Druck ihrer jeweiligen Heimatfronten hatten Deutsche wie Alliierte, freilich aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, ein politisches Interesse daran, das ganze Problem propagandistisch hochzuspielen und die Belastung durch die Reparationen als schwerwiegender darzustellen, als sie tatsächlich war. Schon die phantastische Londoner Reparationssumme von 132 Milliarden Goldmark entsprach aufgrund der Aufteilung in ein kompliziertes System unterschiedlicher Schuldenklassen mit zum Teil weit aufgeschobenen Laufzeiten bei näherem Hinsehen einer viel geringeren Schuld.

Die Einsicht in derlei Übertreibungen hat indes in der Geschichtswissenschaft neue Verstiegenheiten hervorgebracht. Dazu gehört eine gewisse Tendenz einiger Historiker, die Reparationen gleich rundum als Kleinigkeit abzutun. Die Tribute, so die These, hätten mit strikter Haushaltsführung und höheren Steuern kraft eigener Anstrengung von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg voll geleistet werden können, wenn die Deutschen nicht aggressiv vom Bazillus des Revisionismus befallen gewesen wären. Statt dessen hätte die Weimarer Republik ohne Mitleid für die Nöte der Alliierten eine »Zahlungsfähigkeit ohne Schmerzen«22 vorgezogen, erst zynisch die Inflation angeheizt, später allenfalls auf Pump gezahlt und sich zu viele soziale Aufwendungen und zu höhe Löhne geleistet. Freilich läßt sich die Belastbarkeit der fragilen Weimarer Demokratie nicht nur am Bruttosozialprodukt, sozusagen unter politischen ceteris paribus-Bedingungen messen. Dies empfand nicht nur der politische Ökonom John Maynard Keynes als eine selbstverständliche Tatsache; sie war allen am Reparationsgeschäft Beteiligten bewußt. »Die einzigen, die jemals geglaubt haben, daß die Deutschen ihre Reparationsverpflichtungen erfüllen konnten«, hat der verstorbene Doyen der Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, der Amerikaner Gerald D. Feldman, daher ironisch bemerkt, »sind einige Historiker«23. Die Wahrheit ist, daß auch jenseits des reparationspolitischen Theaterdonners weder Deutschland die ihm abverlangten Tribute in voller Höhe je hätte zahlen können noch die Alliierten dies je gewollt hätten. Der Revisionismus nach Versailles ist nicht nur ein deutsches Syndrom gewesen.

Gegenteiligen Behauptungen zum Trotz sind die anfänglichen Bemühungen Deutschlands, seinen Reparationspflichten nachzukommen, tatsächlich sehr ernsthaft und substantiell gewesen. Doch der soziale und ökonomische Druck, den sie im Innern produzierten, war ebenfalls enorm. Eine solche Anstrengung hätte angesichts des innenpolitischen Belagerungszustands der Weimarer Republik, die bis 1923 mehrere links- und rechtsradikale Putschversuche erlebte, keine deutsche Regierung über längere Zeit durchhalten können. Die Wirtschaft war, wie der 1922 ermordete Walther Rathenau als Wiederaufbauminister im September 1921 meinte, in der Tat das Schicksal. Denn die Alliierten, auch die USA, weigerten sich strikt, die großen Handelsbilanzdefizite mit Deutschland zu akzeptieren, die für erfolgreiche Reparationszahlungen in Gold und ausländischen Währungen notwendig gewesen wären. Es war ihnen nicht zu verdenken: Um einen anhaltenden Reparationsfluß zu ermöglichen, hätten sie ihre Märkte für deutsche Billigexporte öffnen müssen; sie zogen protektionistische Maßnahmen vor, um ihre Bevölkerung vor der Arbeitslosigkeit zu schützen, die mit der Warenflut aus Deutschland einherging. Dies bedeutete aber, daß Deutschland die Exportüberschüsse, die es zur Reparationstilgung gebraucht hätte, gar nicht aktiv erwirtschaften konnte. Sie wären alternativ nur über eine radikale Rückführung der deutschen Wirtschaftstätigkeit zu erreichen gewesen, eine Drosselung von Importen und Volkseinkommen bei gleichzeitiger hoher Arbeitslosigkeit, die durchgehend um die 20 Prozent hätte liegen müssen. Höchstens eine Besetzung durch alliierte Siegertruppen oder aber eine pro-französische Diktatur hätte derlei soziale Kosten auf Dauer durchsetzen können. Statt dessen hat die Weimarer Republik in den zwanziger Jahren nur ein einziges Mal einen signifikanten Exportüberschuß erzielt: als nämlich während der Rezession im Winter 1925/26 bei einer Arbeitslosenquote von fast 23 Prozent sowohl das deutsche Volkseinkommen als auch die Importe nach Deutschland einbrachen. Zu den vielen Paradoxien der Reparationsfrage gehört denn auch diese: Der Revisionismus war über alle politischen Lager hinweg der politische Kitt, der die Weimarer Republik zusammenhielt, während er sie zugleich von innen aushöhlte; er war eine demokratische Überlebensfrage, bevor er Deutschland in die politische Irrationalität trieb.

Die Auswirkungen der Mitte der zwanziger Jahre einsetzenden amerikanischen Stabilisierungspolitik in Deutschland sind nicht minder widersprüchlich gewesen. Obschon es die Ruhrkrise war, die das neuerliche Engagement der USA in Europa erzwungen hatte, lief dieses bloß informell über amerikanische Finanzexperten und hielt überdies die Leugnung einer Verbindung zwischen den Reparationen und den inter-alliierten Schulden aufrecht. Zugleich brachten die erst im Dawes- und hernach im Young-Plan von den USA etablierten Reparationsregime neben Erleichterung neue Kalamitäten. Einerseits wäre ohne die wirtschaftliche Sicherung durch den Dawes-Plan die Verständigungspolitik von Locarno, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund und die Räumung des Rheinlandes kaum möglich gewesen. Andererseits war die kurzzeitige ökonomische Erholung der Weimarer Republik – ohnehin geringer, als es das Schlagwort von den goldenen zwanziger Jahren vermuten läßt – wahrlich trügerisch. Denn die Seniorität, die kommerziellen Schulden im Dawes-Schema vor den Reparationen eingeräumt worden war, lockte im Gefolge der Dawes-Anleihe Riesenmengen ausländischen, mehrheitlich amerikanischen Kapitals in das eigentlich bankrotte Land. In der Folge bezahlte Deutschland nicht nur neue Schulen und Krankenhäuser, sondern allzu gern auch seine Reparationen auf Pump. Der Dawes-Plan setzte einen gewaltigen Schuldenkreislauf in Gang, in dem die USA mit Krediten die deutschen Reparationen finanzierten, mit welchen wiederum die europäischen Alliierten ihre Kriegsschulden bei den Amerikanern abstotterten. Deutschlands Interesse an diesem Spiel war ganz offensichtlich, die Reparationen auf Kredit zu bezahlen, um sie dann ganz loszuwerden. Seitens der Geldgeber funktionierte das ingeniöse Schema allerdings nur aufgrund der weithin geteilten optimistischen Annahme, daß sich die USA in absehbarer Zeit zur Streichung der inter-alliierten Schulden durchringen würden. Statt dessen trat Ende 1928 das Gegenteil ein: Der amerikanische Kongreß lies sich nicht erweichen; Frankreich und die USA unterzeichneten vielmehr eine Vereinbarung über die volle Wiederaufnahme des französischen Schuldendienstes innerhalb eines Jahres. Nun trat alsbald ein, wovor der Gouverneur der amerikanischen Zentralbank schon im Juli 1927 gewarnt hatte. Die deutsch-amerikanische Kreditrecyclingmaschinerie, hatte er vorhergesagt, werde innerhalb von ein oder zwei Jahren zusammenbrechen und die schlimmste Weltwirtschaftskrise der Geschichte hervorrufen. In Deutschland, das neben den Reparationsschulden nun zusätzlich einen Berg kommerzieller Schulden aufgetürmt hatte, sollte sie nicht nur in eine Bankenkrise, sondern auch in eine Staatskrise übergehen. Die Republik war schon im Ausnahmezustand, als der Hamburger Privatbankier Carl Melchior – John Maynard Keynes hat ihn noch postum in einem Erinnerungsstück an gemeinsame Tage in Versailles gewürdigt24 – 1932 in Lausanne für Deutschland das Ende der Reparationen aushandelte. Zins und Tilgung auf die Dollar-Anleihen, mit denen man sie zuletzt finanziert hatte, freilich blieben. Die »Fesseln von Versailles«, von denen Hitler kurz darauf das deutsche Volk zu befreien vorgab, bestanden nur noch aus Papier. Daß der Mythos vom »Schanddiktat« ihm dennoch die Leute zutrieb, gehört durchaus zu den ökonomischen Folgen des Friedensvertrages.

Keynes’ Streitschrift zu den wirtschaftlichen Folgen von Versailles ist im Dezember 1919 als erste einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen erschienen, in denen sich selbst hochrangige Vertreter aus den Reihen der britischen und amerikanischen Delegation, bis hin zum amerikanischen Außenminister Lansing, von dem Friedensvertrag aus moralischen oder inhaltlichen Gründen nachträglich distanzierten. Allerdings hat keine von ihnen auch nur annähernd die Wirkung erzielt, die Keynes’ ebenso meisterhafter wie maliziöser Darstellung beschieden sein sollte. Zwar hatte die britische Bevölkerung im Winter 1918 Lloyd Georges Ankündigung, die Deutschen wie eine Zitrone auszuquetschen, noch johlend begrüßt. Doch nach den schier endlosen Pariser Verhandlungen traf Keynes’ Buch auf den Resonanzboden eines liberalen Establishments, das durch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Friedensordnung gründlich desillusioniert war. Die Versailles-Kritik wurde zu einem Bestseller, der den Cambridger Wirtschaftsprofessor schlagartig weltweit berühmt machte. Innerhalb von sechs Monaten lagen Übersetzungen in vierzehn Sprachen vor. In Deutschland freilich nahm man das Buch gleichsam als Gütesiegel für den vorherrschenden Eindruck vom »Schandvertrag«. Und der Erfolg hält noch immer an. In Großbritannien sind die Economic Consequences seit der ersten Auflage im Dezember 1919 bis heute ohne Unterbrechung nachgedruckt worden.

Die Kritik, die die akademische Historiographie Keynes’ Polemik angedeihen läßt, hat vor allem zwei durchaus zusammenhängende Themen: Frankreich und die Reparationen. Was letztere betrifft, läßt sich trefflich streiten, zumal Keynes’ Zahlenmaterial seinerzeit auf den Schätzungen des britischen Schatzamts beruhte und in vielem überholt ist. Im Grundsatz aber lag er richtig. Was Frankreich angeht, irrte Keynes hingegen in der Tat. Denn in der historischen Forschung besteht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, daß es weniger die vermeintlich rachedurstigen Franzosen waren, die in Versailles eine moderate Reparationslösung verhinderten, als vielmehr der britische Premier Lloyd George. Zweifellos sollten sich die Franzosen mangels anderer Möglichkeiten an den Klauseln des Versailler Vertrags zumeist wie Ertrinkende festhalten. Aber in der Enttäuschung über ihre alliierten Partner hatten sie schon unmittelbar nach Versailles eine enge ökonomische Kooperation mit Deutschland als alternative Lösung ihres Sicherheitsdilemmas erkannt. Nachdem der französische Wirtschaftsminister Etienne Clémentel auf der Pariser Konferenz vergebens für einen alliierten Wirtschaftsverbund geworben hatte, galten vernünftige Vorschläge nun vor allem der deutschfranzösischen Kooperation. Die meisten von ihnen scheiterten allerdings am Einspruch Englands. Das Zwingende solcher Gedanken, das Keynes schon 1919 gesehen hatte, ließ sich auf Dauer aber nicht abweisen. Bezeichnenderweise ist es mit Jean Monnet ein enger Mitarbeiter Clémentels gewesen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gründungsvater erst der Montanunion und dann der Europäischen Gemeinschaft wurde.

Ihre prekärste Erbschaft haben die Siegermächte 1919 merkwürdigerweise in großer Eintracht in die Welt gesetzt und, anders als die Reparationen, nie in Frage gestellt. Die Annahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker als Grundsatz des Friedensschlusses war nie umstritten. Voraussetzung dafür war eine furchtbare Mißachtung der komplexen Völkerwirklichkeit Zentral-, Ost- und Südeuropas und ein gerütteltes Maß an Heuchelei und Inkonsequenz. Denn die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auf die mindestens neuneinhalb Millionen Deutschen, die am Ende des Ersten Weltkriegs außerhalb Deutschlands lebten, verbot sich von vornherein, wollte man nicht das Ergebnis des Krieges auf den Kopf stellen. Voraussetzung war aber auch eine rassistisch fundierte Blindheit für die Sprengkraft des neuen Prinzips. Weder Lloyd George noch Clemenceau wäre im Traum eingefallen, der Friedensgrundsatz könnte auch für Irland oder ihre Kolonialreiche gelten. Ungehört blieben auch die Unabhängigkeitsforderungen der Araber. Die Einigung, die deren Gesandtschaftsleiter Emir Faisal mit dem zionistischen Vertreter Chaim Weizmann im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz hinsichtlich des Status Palästinas gefunden hatte, blieb somit null und nichtig. Und der Südstaatler Wilson, der als Präsident der Universität Princeton wie als Staatschef die Bestimmungen zur Rassentrennung in den USA erheblich verschärft hatte, verspürte ebenfalls keinen Drang, die von ihm propagierte Selbstbestimmung allen Menschen gleichmäßig zugute kommen zu lassen. Eine auf der Friedenskonferenz eingebrachte Anti-Diskriminierungsklausel wurde flugs gekippt und ihr Urheber, Japan, mit der chinesischen Provinz Shantung abgespeist.

Die Bindung der Idee der Selbstbestimmung an ethnische Kategorien, seinerzeit auch »nationale Idee« genannt, bescherte Wilson 1919 kurzzeitig weltweiten Ruhm. In Mittelamerika und der Karibik, von Mexiko über Nicaragua bis Kuba, wollte man allerdings nach den wiederholten kriegerischen Interventionen der USA im Namen der Freiheit vom demokratischen regime change à la Wilson schon damals nichts mehr hören. Und in Europa mußte der Versuch an der gemischten Bevölkerungswirklichkeit des alten Kontinents scheitern. Die neuen Staaten, deren Grenzen nach ethnischen Gesichtspunkten auf dem Boden der gestürzten Vielvölkerreiche gezogen wurden, waren nicht weniger multinational als zuvor. Als Marschall Piłsudski 1926 in Polen die vierzehnte Regierung seit der Neugründung des Staates im Winter 1918/19 wegputschte, hatte das Land 33 ethnische und 26 polnische Parteien, von denen 31 im Parlament saßen. Langfristig setzte die Zerschlagung der alten »Völkerkerker« in Europa einen Prozeß der vielfach blutig durchgesetzten ethnischen Homogenisierung auf Kosten der historisch gewachsenen heterogenen Strukturen in Gang. Der Preis dafür war mit der kulturellen Selbstzerstörung noch lange nicht bezahlt. Welche Drachensaat hier aufgehen sollte, deutete sich vielmehr 1923 an, als der unter Führung Frankreichs und Großbritanniens ausgehandelte Lausanner Vertrag den griechisch-türkischen Krieg mit der zwangsweisen gegenseitigen Bevölkerungsvertreibung beendete.

Es ist irreführend, so weit zu gehen wie der britische Historiker Eric Hobsbawm, der Hitler »einen konsequenten Wilsonschen Nationalisten«25 genannt hat. Schließlich ist nur den Deutschen eingefallen, ihren völkischen Furor in fabrikmäßigen Vernichtungslagern auszuleben. Außer Frage steht aber, daß die Einführung ethnischer Landkarten durch die Pariser Friedensmacher in Europa einen gewalttätigen Wettstreit konkurrierender Nationalismen und Irredentismen hervorrief, der die jeweiligen Minoritäten schon 1919 in Lebensgefahr brachte. Noch während in Paris über die Hinterlassenschaft des Weltkriegs getagt wurde, fanden zahlreiche neue kriegerische Auseinandersetzungen sowie in Lwów und Pińsk Pogrome statt. Und unbestritten ist auch, daß der Minderheitenschutz erst ganz am Ende mit dem Eintreffen der deutschen Delegation auf die Pariser Konferenzagenda kam. Denn die Bilanz der deutschen Politik in dieser Hinsicht war im internationalen Vergleich schon am Ende des Kaiserreichs durchaus ansehnlich. Dazu gehörte etwa, daß die Deutschen im Frieden von Bukarest 1918 Rumänien zur Aufhebung seiner Diskriminierungsgesetze gegen die jüdische Minderheit gezwungen hatten.

Den Siegermächten hat so in Paris nicht nur, was Deutschland betrifft, das Verständnis für die Grundlagen wie die Querverbindungen zwischen ökonomischen und sozialen Bedingungen und demokratischer Politik gefehlt. Keynes’ dunkle Prophezeiung sollte sich bewahrheiten: Aus den Demokratien, die sich 1919/20 in Mittel- und Ost- und Südeuropa etabliert hatten, waren schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs allerorten autoritäre und diktatorische Systeme geworden. 1938 schließlich wurde die Tschechoslowakei regelrecht dafür abgestraft, die letzte funktionierende Demokratie in Zentraleuropa zu sein.

Die Geschichte der in Versailles den Deutschen auferlegten Tribute ist erst seit kurzem zu Ende. Der Grund waren die Restzahlungen für Auslandsschulden nach der Londoner Schuldenkonferenz von 1953, die sogenannte Schattenquote. Die Schattenquote wurde in London für den, wie es damals schien, eher unwahrscheinlichen Fall einer deutschen Wiedervereinigung festgelegt. Die Bundesrepublik, so befanden seinerzeit die westlichen Gläubiger, solle als Teilstaat nicht über Gebühr für jene öffentlichen Schuldtitel aufkommen, die ihr das Deutsche Reich auch in Form von Reparationsanleihen hinterlassen hatte. Zwar zahlte Westdeutschland bis ins Jahr 1980 rund 14 Milliarden D-Mark für Zins und Tilgung auf diese Papiere. Doch im Schatten der deutschen Teilung gab es zumindest für die zwischen 1945 und 1953 angefallenen Zinsen einen Rabatt. Als die Wiedervereinigung 1990 unverhofft Wirklichkeit wurde, lebte auch die Schattenquote auf: 251 Millionen D-Mark, davon rund drei Viertel aus reparationsbezogenen Anleihen. Es war ein kaum nennenswerter Posten, der im Bundeshaushalt 2002 weniger als vier Millionen Euro betrug.26 Fast hundert Jahre nach Versailles, im Oktober 2010, ist die letzte Schuld beglichen worden.

Weitaus mehr als dieses Reparationskuriosum, das wie ein rostiger Nagel bis in unsere Tage an die Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs erinnerte, kann indes die demokratische Euphorie zur Jahrtausendwende als ein spätes Echo des Jahres 1919 gelten. Nicht zufällig ist sowohl 1919 wie 1990 das Ende der Geschichte ausgerufen worden. Und seitdem der Presbyterianer Wilson 1917 den Krieg gegen Deutschland als Kreuzzug gegen »den natürlichen Feind der Freiheit« aufnahm, ist Amerikas civilizing mission selten, auch während der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs nicht, so emphatisch artikuliert worden wie unter der Präsidentschaft von George W. Bush. Trotz ihrer Verachtung völkerrechtlicher Institutionen beriefen sich denn auch nicht nur die akademischen Vordenker des martialischen Demokratie-Exports in den Irak durch den Dritten Golfkrieg ausdrücklich auf Wilson, der seine zahlreichen militärischen Interventionen in Mittelamerika und der Karibik »moralische Diplomatie« nannte. Und tatsächlich ist dem amerikanischen Selbstbestimmungspostulat damals wie heute sowohl die religiöse Fundierung und der Anspruch einer höheren Moralität als auch der schwache Sinn für die Mühen der Ebene des nation-building eigen.

Wie 1919 zeigen sich deren Schwierigkeiten vom Balkan bis zur Ukraine auch wieder mitten in Europa. Daß die nationalen Entflechtungskriege der 1990er Jahre in Südosteuropa wieder die Verwerfungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar werden ließen, stellte noch achtzig Jahre später der in den Pariser Vorortverträgen niedergelegten Friedensordnung kein gutes Zeugnis aus. Aber auch der Friedensschluß von Dayton hat 1995 Grenzen gezogen, mit denen auf dem Balkan kaum jemand zufrieden ist. Vielleicht gibt es sie heute so wenig, wie es sie 1919 geben konnte. Dies gilt auch für die Ukraine, was übersetzt Grenzland bedeutet. Dort haben sich zwischen Krim und Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, in der Ostorientierung der einen und der Westorientierung der anderen nur scheinbar unvermutet die alten Grenzen der vor rund hundert Jahren untergegangenen Vielvölkerreiche Rußland und Österreich-Ungarn aufgetan. Derweil träufelt das Gift des von Wilson (und Lenin) propagierten Prinzips der Selbstbestimmung der Völker weiter, das ethnische Kollektive über individuelle Menschenrechte und Minderheitenrechte setzt. Ungarn, das nach dem Ersten Weltkrieg als Kriegsverlierer mit dem Verlust von zwei Dritteln seines Staatsgebiets territorial weitaus härter beschnitten wurde als der Bündnispartner Deutschland, fordert im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker die Heimholung der ungarischen Minderheiten in der Westukraine und anderswo. Im Jahr 2010 führte die ungarische Regierung einen nationalen Gedenktag ein, der an die Unterzeichnung des Vertrags von Trianon im Juni 1920 als aktuelles Trauma erinnert. In einer Phase, in der Europa erneut auch finanziell zusammenstehen muß, sind die Europaverächter in den EU-Gründungsstaaten hingegen mit einem immer kürzeren Gedächtnis geschlagen. Kurzum: Versailles ist uns heute näher, als man denkt, und wohl auch näher, als uns lieb ist. Man sollte die nachfolgende Streitschrift eines klugen Engländers, der gegen die neue Weltordnung von 1919 die Notwendigkeit des wirtschaftlichen und politischen Zusammenhalts Europas darlegte, mit Demut lesen.

Krieg und Frieden

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