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Berlin – Sommer 2016

„Die Nachricht aus London schlug in Berlin ein, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Im Mai beendete ich ein umfangreiches Projekt. Ein erfreulicher Gewinn für das Unternehmen kam dabei heraus. Zugegeben, mein Preis, den ich dafür zahlte, bestand aus vielen Tagen, Wochen und Monaten der Entbehrungen. 16 bis 20 Stunden täglich im Büro, auf Baustellen und Autobahnen in Deutschland. Orte, die ich vorher nicht kannte, prägten sich ein. Wochenenden inklusive.“

Beim Erzählen merke ich den Enthusiasmus von früher.

„Obwohl ich für meine Arbeit brannte, hatte ich mit dem Abschluss des Projektes ein wenig Hoffnung auf eine geregeltere Arbeitszeit. Bis zu dem Tag, an dem eine kurze Mitteilung aus London eintraf. Dort war der Sitz der Konzernzentrale.“

Mit einem Ruck stehe ich auf, gehe mehrere Schritte, drehe mich abrupt zu Maria.

„Stell dir vor“, rufe ich in die Stille zu ihr, „alle Gesellschaften sind zu verkaufen, sofort!“

Dabei schwingt mein Arm durch die Luft, als wollte er die Bedeutung der Worte unterstreichen.

„Vor wem oder was?“, fragt Maria erstaunt.

Zynisches Lachen presse ich aus mir heraus.

„Anfangs vermuteten wir, das sei eine Falschmeldung, wie oft geschehen und die wird bald revidiert“, beruhige ich mich.

„Als die ersten Unternehmensteile in Österreich, Skandinavien, Spanien, Italien und Rumänien verschwanden, brach Hektik bei uns aus. Es ging um Posten, Einfluss und Autorität. Aktionismus in vermeintlicher Neuorganisation. Vor allem, das Festhalten an gewohnten Besitzständen, beherrschte das Tagesgeschehen. Unsicherheit ergriff viele meiner Kollegen. Mich ebenso.“

Maria notiert mehrere Punkte auf dem Papier, das sie zwischen den auf dem Tisch liegenden Zeitschriften findet.

Unterdessen ihr Stift quietschend über das Blatt rennt, fragt sie dezent: „Wie war dir zumute, in dieser Lage?“

Grübelnd trinke ich einen kräftigen Schluck ihres würzigen Kaffees.

„Wie eine Biene, die im Regen mit nassen Flügeln kaum nach Hause fliegen kann“, antworte ich ihr.

Sie schaut mich auffordernd an fortzufahren.

„In jenen Tagen lief mir John im Treppenhaus unserer Niederlassung über den Weg. John, ein stattlicher und kräftiger, nicht geiziger Schotte. Er gehörte zur Londoner Zentrale. Verantwortlich für das Europageschäft des Konzerns hatte er genauere Informationen zu den Vorgängen. Er war ein pragmatischer Verhandlungsführer. Ein Naturtalent. In einigen Verhandlungen saß ich neben ihm. Er für den vertraglichen, ich für den technischen Part. Im Treppenhaus riefen wir uns eine kurze Begrüßung zu und verabredeten uns für den Abend auf ein Bier. Die langen Berliner Nächte waren meist von Ausgelassenheit geprägt. Nicht diese.“

„Wie war dieser Abend? Was habt ihr besprochen?“, fragt Maria gespannt.

„Als ich mich unserer Stammgaststätte auf dem Ku`Damm näherte, sah ich John von Weitem draußen an einem Tisch sitzen. Er sah aus wie ein Geheimagent. Schwarze Sonnenbrille, seine Anzugjacke cool über die Schultern gehängt, beobachtete er die Parade der vorbeiziehenden Damen. Mit einem kurzen ‚Hi‘ begrüßten wir uns.

„Ist es behaglich hier?“, fragte ich rein rhetorisch.

„Ja, wie du siehst!“, antwortete mir John genüsslich lächelnd, dabei mit dem Kopf Richtung Fußweg deutend.

„Schade, dass ich kein Chrom-Fahrrad fahre“, fügte er lachend hinzu.

„Dann würde ich ein Babe auf eine Spritztour durch den Park einladen. Ein solches Girl wäre mir zurzeit willkommener als du in deinem besten Anzug“, scherzte er.

Sprach es und wir lachten schallend los. Eine verlockend braun gebrannte Kellnerin mit schwarzen Augen unterbrach unsere Heiterkeit. John trug ihr auf, dass sie uns Cocktails und eine Flasche Wasser bringen möge.

„Was ist los mit euch auf der Insel?“, begann ich das Gespräch, nahezu vor Neugier zerplatzend. Als wolle John sein in mir erzeugtes Bild eines Geheimagenten vervollständigen, zog er entspannt eine Schachtel Marlboro aus seinem Jackett. Entnahm ihr eine Zigarette, zündete sie an und blies den würzigen Tabakrauch in den Berliner Abendhimmel.

„Nicht einzig bei uns ist was los, auf der ganzen Welt ist was los“, antwortete mir John deutlich gedankenvoller.

„Wie meinst du das?“, forderte ich eine Antwort.

„Die Entscheidung zum Rückzug aus Zentraleuropa war lange vorbereitet. Sie folgte finanzpolitischen Analysen“, begann John zu erzählen.

„Es war an einem späten Abend im November 2015 als der Premierminister einen brisanten Anruf aus Washington D.C., vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika erhielt. Jener teilte ihm mit, eine dringende Angelegenheit mit allen Verbündeten besprechen zu müssen. Zur Vorbereitung auf das Treffen übermittelte man ihm und den anderen Bündnispartnern der USA ein diplomatisches Papier mit dem Titel Die Zerschlagung der EU. Daraufhin reiste der Premier prompt Richtung Washington. Kurz nach Ankunft und Empfang durch den Präsidenten fingen die Beratungen an. Teilgenommen haben die Außenminister, die Chefs der CIA, FED; NSA, Vertreter des mächtigsten Vermögensverwalters Black Rock. Alles, was Rang und Namen hatte, war versammelt.

„Worum ging es?“, fragte ich John.

Kopfschüttelnd nippte er an seinem Cocktail.

. „Die Amis brauchen einen Krieg.“

Sein Gesichtsausdruck spiegelte Besorgnis wieder.

„Am liebsten einen Krieg in Europa“, fügte er hinzu.

Mit erhöhtem Blutdruck ergänzte ich „... und wir sollen die Kastanien aus dem Feuer holen?“

„Weit mehr“, entgegnete John, die Marlboro im Aschenbecher ausdrückend.

„Wir sind der Spielball und gleichzeitig das Spielfeld“

„Bei dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis in der Welt riskieren die Amis weiter nichts als den eigenen Untergang“, ergänzte ich seine Äußerungen.

Eine der, an unserem Tisch, vorbei laufenden Damen sah mich bei diesen Sätzen lächelnd an. Wie dicht Freud und Leid beieinanderliegen, fand ich.

Mit den Worten: „... der Plan ist nahezu ein teuflischer Plan“, unterbrach John meine abschweifenden Gedanken.

Unterdessen positionierten sich auf dem Bürgersteig acht Trommler, um den Gästen ihre Trommelshow zu präsentieren. Erst im Block marschierend, später tanzend, sich die Trommelstöcke zuwerfend, erinnerten sie mich an Top Secret, eine Schweizer Formation von Profitrommlern.

„Marschmusik zur Kriegsplanung, welch ein Zufall“, entfuhr es mir ungewollt.

Wegen der Lautstärke der Trommeln sprach John aus voller Kehle: „Sie planen keinen Atomkrieg.“

„Die neu erdachte Strategie lautet systemischer Krieg, statt totale Vernichtung durch Atomschläge. Nach denen nichts mehr brauchbar ist. Weder Menschen noch Material.“

Ohne eine Frage von mir zuzulassen, erläuterte er: „... Der innere Frieden in den USA, scheint massiv gestört zu sein. Soziale Ungleichheit wächst, die Verschuldung der Unternehmen und der privaten Haushalte steigt und steigt. Der Finanzmarkt hat sich festgefahren. Wie bei einem Motor. Es droht der Kolbenfresser. Der Wirtschaftsmotor kann nicht mehr auf Hochtouren arbeiten. Eine Inflation steht bevor. Die Leitzinsen bedürfen einer Erhöhung. Damit schaffen sich die Amis das nächste Problem. Die Schulden wachsen weiter. Begreifst du? Es folgt der Zusammenbruch der Finanzmärkte, da ein Zufluss neuen Geldes nicht stattfindet. Die Finanzkrise ist lange nicht überstanden, wie man uns einredet, alleinig beruhigt.“

„Da ist Krieg keine Lösung“, warf ich ein.

„Dieser treibt die Verschuldung weiter in die Höhe.“

„Genau, so ist es“, pflichtete mir, der inzwischen seine dritte Zigarette rauchende, John bei.

„Bedenke, die Amis brauchen rasche Ergebnisse. Der Krieg schafft Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie. Treibt die Anleihemärkte in die Höhe. Die inneren Verhältnisse stabilisieren sich. Und, man hat einen ausländischen Sündenbock für die von den Bankern angerichtete Misere.“

Zu mir vorgebeugt, ringsum alles vergessend, erzählte er weiter: „Der letzte Krieg ist der Banker-Krieg. Den Plan hat die Wall- Street seit langem in der Schublade. Denk an das misslungene Fracking. Billionen Dollar haben Investoren versenkt. Ohne Gewinne. Zumindest keine nennenswerten. Bis heute. Diese Clique von Spekulanten ...“

Dabei zeigte er mit dem Arm imaginär in eine beliebige Richtung. John war aufgebracht.

„Hat sich obendrein Geld geliehen. Wahnsinn!“

John machte eine Pause und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Und“, fragte er rhetorisch, um gleichzeitig mit leiserer Stimme die Antwort zu liefern.

„Fracking braucht unverzichtbar, und auf Teufel komm raus, die Gewinnzone. Wie? Durch einen hohen Ölpreis. Wann ist der gehörig oben?“

„Korrekt!“, beantwortete er seine Frage im Alleingang.

Langsam, wieder auf Touren kommend.

„Im Kriegsfall. Banker und die Politiker ließen ihre Generäle von der Leine und zerbombten den ganzen Nahen Osten. Die Amis verlieren ihre Kriege absichtlich. Die Region dagegen bleibt auf lange Zeit destabilisiert. Aus dem Ölimporteur USA wird nebenbei, mithilfe von Fracking gewonnenem Schieferöl, der Ölexporteur USA. Für den Fall, dass sie im Kriegsfall ihr Öl nach Westeuropa pumpen, schneiden sie Russland von seinem wichtigsten Markt ab. Ein Super GAU für die Russen ist die Folge. Kommen die Chinesen als Verbündete Russlands ins Spiel, bedeutet das ein Ende der Weltwährung Dollar und den Zusammenbruch des weltweiten Finanzsystems. Nicht, ohne vorher zusätzliche bewaffnete Konflikte zu entfesseln.“

Die Trommler auf dem Bürgersteig haben sich verzogen. Ausgelassenes Treiben um uns herum. Wir sahen uns an. John nickte mit zusammengepressten Lippen in meine Richtung.

„An jenem Tag in Washington haben die Amerikaner ihren Verbündeten zur Mitarbeit und zum Verlassen des EU Marktes aufgefordert. Angeboten haben sie den Unternehmen jener Staaten einen erleichterten Zugang zum gesamten amerikanischen Wirtschaftsraum.“

John war mürrisch.

Nahezu entschuldigend meinte er weiter: „Und unsere Konzernspitze verfiel, nachdem sie der Premierminister informierte, in blinden Aktionismus. Das ist die Lage. Wir können das Beste für uns daraus machen und vorbereitet sein. Kräfteverschleiß ist der größte Fehler, den wir begehen können. Darauf warten die. Umso rascher ist der Sack zu.“

Zögernd fragte ich: „Trinken wir einen Whisky?“

„Wenn es ein schottischer ist ...“, entgegnete John, dabei der adretten Kellnerin zuwinkend.

Nachdem er eine für uns wohlschmeckende Sorte herausgesucht hatte, meinte John abschließend gedankenversunken: „Ja, sie tragen ihre Kämpfe auf unserem Boden aus. Wir erkennen durch die rosaroten Brillen nicht, was uns bevorsteht. In der Hauptsache richtet sich alles gegen Deutschland und Frankreich. Sind diese Länder destabilisiert, zerfällt, die gesamte EU. Großbritanien bildet den Brückenkopf.“

Der Whisky, den John bestellt hatte, ging runter wie Öl.

Als wir aufbrachen, witzelte er: „Schade, dass ich ernstlich kein Chrom-Fahrrad habe, hätte dich glatt nach Hause gefahren. Nehmen wir stattdessen das Taxi dort drüben?“

In jener Nacht schlief ich lange nicht ein. Gedanken kreisten um alle möglichen Ereignisse. Hauptsächlich darum, wie ich mit der Lage umgehe. Solange, bis sich ein realistischer Weg für mich auftat. Meine Strategie bestand darin, mir eine Auszeit zu nehmen. Keinen Aktionismus aufkommen zu lassen. Die Liste mit den persönlichen Vorhaben war lang. Am darauffolgenden Tag kündigte ich. Während der Kündigungsfrist erledigte ich ein paar Restaufgaben. Ein neues Projekt fing ich nicht mehr an. Danach entwickelte sich alles, wie ich es nicht plante.“

Tango mit dem Teufel

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