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Der Name Philoktet

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Griechische Eigennamen setzen sich bekanntlich oft aus erkennbaren semantischen Elementen zusammen, die man häufig als eine Art Satz auffassen kann. Die Syntax ist dabei allerdings in gewissem Umfang flexibel. So lässt sich etwa der Name Timo-xena, der die Bedeutungskomponenten ‚Ehre‘ und ‚Fremdheit‘ in sich vereint, einerseits als ‚die Fremde ehrt‘, aber auch als ‚der Fremde Ehre erweisen‘ lesen. Virgilio Masciadri publizierte vor einigen Jahren sehr überzeugende Argumente in seiner Habilitationsschrift, die 2008 unter dem Titel Eine Insel im Meer der Geschichten21 auf Deutsch erschien (auf Basis der französischen Erstfassung Melampous et la langue des animaux). Der Band enthält u.a. Untersuchungen zur bekannten Sagengestalt Philoktet. Eine der wenigen kritischen Stimmen zu Masciadris Studie richtet sich gegen seine Deutung dieses Namens.

Da Philoktētēs „Herr über die Seinen“ bedeuten kann, ist Masciadri zufolge davon auszugehen, dass er vor allem als Adels- und Fürstenname gängig war. „Sprachwissenschaftlich nicht haltbar sind alte Deutungen des Namens […] wie Freund des Erwerbs, der Schatzliebende […] oder der Besitzliebende […], und die daran geknüpften Versuche, Namen und Schicksal des Helden in Bezug zu setzen“, schrieb er. Beschränkt man die Bedeutung des Eigennamens Philoktētēs auf die des Adjektivs philōktemōn (geizig), ergibt dies für die Deutung der Sage deshalb keinen Sinn.

Wie gesagt setzten sich griechische Eigennamen in aller Regel aus semantisch unterscheidbaren Elementen zusammen. So gesehen handelt es sich um ‚sprechende‘ Namen, doch machen sie, wie wir am Beispiel Timo-xena bereits gesehen haben, keine eindeutige Aussage. Man könnte sogar sagen, dass gerade ihre Polysemie und syntaktische Doppeldeutigkeit ihre Stärke ausmachen, und zwar in dem Maße, wie sie eine ganze Reihe von Deutungen zulassen wie beim Eigennamen Ödipus, den wir uns noch genauer ansehen werden. Außerdem geben die Namen griechischer Sagenhelden durchaus nicht immer Aufschluss über die Geschichte des jeweiligen Namensträgers. Auf den ersten Blick finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass Namen wie Philoktet oder Ajax (auf den wir noch zurückkommen werden) als Resonanzkörper für die Geschichte der jeweiligen Person dienen würden. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Studien zu Eigennamen oftmals nicht mit der nötigen Strenge erfolgten oder über das Ziel hinausschossen.

Man braucht jedoch nur den Namen Philoktet in seinem ursprünglichen geografischen Kontext zu betrachten, um ihm eine ganze Reihe von Aussagen zu entlocken. Herkunftsort der Sagengestalt ist nämlich Meliboia, was so viel bedeutet wie „wo man sich um die Rinder sorgt“, einen Ort also, an dem man offenbar stolz auf den sorgfältigem Umgang mit seinem Vieh war. Unterstellt man, dass das zweite Element des Namens Philo-ktêtês sich von ktaomai (erwerben) ableitet, beziehungsweise von ktênos, Plural ktênê, das ‚Viehbestand, Herden‘ bedeutet, weckt Philoktētēs in etwa die gleichen Assoziationen wie Meliboia. In Thessalien, einem Land der Rinderzüchter, würde es demnach denjenigen bezeichnen, ‚der die Herden liebt‘. Dazu passt bereits der Name von Philoktets Vater: Poias lässt sich wörtlich als ‚Grasmann‘ oder ‚Futtermann‘ verstehen.

Eine andere Deutung des Eigennamens Philoktētēs bot sich jedoch dadurch an, dass er in den Besitz der Waffen des Herakles gelangte. Archilochos verwendet jedenfalls das Verb ktaomai an der Stelle, als Philoktet erklärt, er beabsichtige, sich einen neuen Schild zu ‚beschaffen‘, dem er aber keinen sonderlichen emotionalen Wert beimisst.22 Dasselbe Verb ktaomai, oder exakter ektêsamên, verwendet Philoktet in Sophokles‘ Tragödie auch, als er Neoptolemos erzählt, wie er in den Besitz von Herakles‘ Bogen kam: „[…] Drum darfst du ihn getrost ergreifen [thinganein]. Gibst du ihn dem Geber zurück, so rühm‘ dich, du allein auf Erden durftest ihn halten [epipsausai], weil du edel warst – auch mein [ektesamen] ward er für eine Liebestat."23 Anders als bei Archilochos misst Philo-ktetes seinem ktema hier genauso viel Wert bei wie seinem Leben, und die übermäßige Bindung, die er damit zu erkennen gibt, ist genau das Hindernis, das die Achaier überwinden müssen, um sich das Instrument anzueignen, das ihren Sieg in Troja besiegeln soll. Insofern trägt Philo-ktêtês seinen Namen also völlig zu Recht! Schon in Servius‛ Version der Geschichte gilt die Verbundenheit, die Philoktet seiner Waffe gegenüber zeigt, in gewissem Umfang als übertrieben. In dieser Fassung zieht sich Philoktet die Verletzung (noch?) nicht durch den Biss einer Schlange (hydros) zu, die aus dem Opferaltar kriecht, sondern durch einen seiner eigenen Pfeile, die mit dem giftigen Blut der Lernäischen Schlange (Hydra) getränkt waren.24 Die Verletzung könnte also ebenfalls mit dem Namen Philoktētēs zusammenhängen, insofern, als sie von der übertriebenen Bindung des Heros an seine Pfeile herrührt, von denen einer sich schließlich gegen ihn selbst richtet. Und wenn man ktaomai zudem semantisch in die Nähe von ktizō (ich rode/gründe) rückt, wie Pierre Chantraine es vorschlägt,25 bezöge sich sogar der letzte Teil der Sage auf den Namen ihres Heros, denn er gründete Petelia, Krimisa und Chone.26

Wie schon dieser Abriss der diversen möglichen Auslegungen des Namens Philoktet deutlich macht, stellt der Eigenname durchaus ein Element dar, das bei der Analyse der Geschichte des jeweiligen Heros berücksichtigt werden muss, vor allem, wenn es sich um eine strukturale Analyse handelt, wie sie Masciadri vornimmt. Nach Masciadris Meinung jedoch hatten ältere Autoren den Eigennamen allzu viel Wert beigemessen, sodass eine „Schieflage“ entstanden sei. Diese gelte es zu beheben, indem man dem mehr Gewicht gibt, das im Nukleus (Kern) der diversen Versionen einer Sage das „Handlungselement“ bildet. Diesem „Kernstück“ einer Geschichte entspricht nach Masciadris Meinung eine Aussage von Typ „Philoktet und seine Verwundung“, also dem (nominalen) Eigennamen und dem (verbalen) Handlungselement. Der Mythenkern entspricht also der grammatischen Struktur ‚Nominalphrase (noun phrase) plus Verbalphrase (verb phrase). Masciadri gibt jedoch in seiner Analyse der Verbalphrase den Vorzug vor der Nominalphrase, weil letztere – also der Eigenname des Helden – seiner Meinung nach eine „bloße Bezeichnung“ darstellt. Der Eigenname bildet sozusagen ein ‚leeres Fach‘ innerhalb des Mythenkerns, also innerhalb dessen, was nach Ansicht Masciadris das elementare Grundgerüst der Geschichte bildet.

Uns fällt es allerdings schwer zu glauben, man könne griechische Eigennamen einfach wie Masciadri als „bloße Bezeichnung“ abtun, und das insbesondere bei Mythen. Kommen wir noch einmal auf Ödipus zurück. Oidipous bedeutet, wie wir gesehen haben, einerseits ‚Schwellfuß‘ als Verweis auf die genealogische Unordnung, die Ödipus durch die Heirat mit seiner Mutter schafft und für die Lahmheit im alten Griechenland synonym war.27 Andererseits kann Oidipous auch derjenige sein, ‚der das Rätsel der Füße löst‘, was auf sein Zusammentreffen mit der Sphinx anspielt,28 das zwar in den Werken Homers fehlt, jedoch in der Vasenmalerei sehr präsent ist.

Deshalb ist es aus unserer Sicht durchaus legitim zu denken, dass ein Eigenname selbst den „Mythenkern“ bilden kann; als solcher umfasst er bereits eine Nominalphrase (den Eigennamen eines konkretes Individuums) und Verbalphrasen (den Eigennamen, der bei Ödipus nacheinander auf den geschwollenen Fuß, das Hinken, die genealogische Unordnung und das Rätsel der Sphinx verweisen kann). Damit ist man von der Vorstellung des Eigennamens als „bloße Bezeichnung“ weit entfernt.

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