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Lévi-Strauss und die Philologie

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Manche Leser wundern sich vielleicht, dass wir so lange brauchten, um zu einem „eigenen“ Standpunkt zur Mythologie zu gelangen. Zuvor beschäftigten wir uns nochmals eingehend mit Schlüsselelementen der Gedankengänge unserer Lehrer. Auf der einen Seite standen also die aus Dettienes gezogenen Schlussfolgerungen über den Ölbaum sowie, quasi als Kommentar dazu, die Erkenntnisse über agalmata bei Gernet, der den materiellen Gegenstand als ‚Erzeuger‘ des mythischen Berichts ansah. Auf der anderen Seite finden sich Vernants Erläuterungen zum Eigennamen (in diesem Fall dem des Ödipus), der als Ursprung eines Mythos ebenso in Frage kommt wie ein Gegenstand von Symbolwert.

Dass wir so lange brauchten, liegt nach unserer Meinung weniger daran, dass wir besonders langsam denken, als vielmehr an der Schwierigkeit, die Idee eines nicht narrativen Mythos in einem Klima herauszuschälen, in dem die Mythenforschung dem Narrativ einen zentralen Stellenwert einräumte, denn genau in diesem Klima begannen wir zu erforschen, wie antike Mythen ‚funktionieren‘. Besonders problematisch war es, den Stellenwert von Eigennamen in der generativen Vorgehensweise einzuschätzen und vor allem zu verallgemeinern, wie sie Vernant bei seiner Analyse des Namens Ödipus verwendete, in dem er die Matrix für die überlieferten Sagen über den thebanischen Helden sah. Warum?

Ungeachtet der elementaren Rolle, die Lévi-Strauss‘ Arbeiten in unserer Ausbildung zu Mythologen spielten, kamen wir zu dem Schluss, dass unser eigener Ansatz sich ziemlich weit von seinem umfangreichen Mythenstudium entfernt hatte.

In einem bezeichnenden Abschnitt seiner Strukturalen Anthropologie sagt Lévi-Strauss:

Man könnte den Mythos als jene Art der Rede umschreiben, in der der Wert der Formulierung traduttore, traditore praktisch gegen Null strebt. In dieser Hinsicht steht der Mythos auf der Stufenleiter sprachlicher Ausdruckweisen der Poesie genau gegenüber, was man auch gesagt haben mag, um sie einander nahezubringen. Die Poesie ist eine Form der Sprache, die nur unter großen Schwierigkeiten in eine andere Sprache übersetzt werden kann, und jede Übersetzung bringt zahlreiche Deformationen mit sich. Dagegen bleibt der Wert des Mythos als Mythos trotz der schlimmsten Übersetzung bestehen.

Hieran schließt sich ein Passus an, den schon Detienne zitierte und immer wieder hervorhob:29

Unsere Unkenntnis der Sprache und der Kultur der Bevölkerung, bei der man einen Mythos entdeckte, mag noch so groß sein, er wird doch von allen Lesern in der ganzen Welt als Mythos erkannt. Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird.30

Angesichts der Erkenntnisse, die Vernant dem Namen Ödipus entlockte, sind wir im Gefolge Lévi-Strauss‘ sicherlich nicht bereit, die „Unkenntnis der Sprache“ auf die leichte Schulter zu nehmen, und zwar umso mehr, als er seinen Standpunkt 13 Jahre später bekräftigte und wie folgt präzisierte:

Dies bedeutet sicherlich nicht, dass eine Kenntnis der Ursprache, vorausgesetzt, man besitzt den Text, überflüssig ist und dass das philologische Studium nicht dazu beiträgt, Sinngehalte zu präzisieren und zu bereichern, Irrtümer zu korrigieren, Interpretationen zu vertiefen und weiterzuentwickeln: alles Aufgaben für meine Nachfolger. Doch wenn alle diese Fortschritte und Berichtigungen einmal gemacht sind, wird man sicherlich merken, dass das philologische Studium, außer in Sonderfällen, dem Mythos zweifellos zusätzliche Dimensionen hinzufügen, ihm mehr Volumen und Relief verleihen kann, jedoch ohne den semantischen Inhalt wesentlich zu berühren. Ihr Beitrag wird eher literarischer und poetischer Art sein, die ästhetischen Eigenschaften einer Aussage besser erkennen lassen, deren Botschaft jedoch, wenn die Übersetzung den Mythos als Mythos zu erfassen erlaubt, davon kaum verändert werden wird.31

Wir sind sicherlich zu sehr von der Religionsphilologie Hermann Useners32 geprägt, um uns diese Unbekümmertheit zu eigen zu machen, die Lévi-Strauss hier an den Tag legt. Zum anderen kann man sich durchaus fragen, ob seine Einstellung nicht schlicht der Tatsache geschuldet ist, dass er sich mit Mythen beschäftigte, die aus einer solchen Vielzahl verschiedener Sprachen stammten, dass sie kein einzelner Forscher beherrschen kann – mit Mythen, die er zwangsläufig nur aus Übersetzungen kannte. Anders gesagt: Lévi-Strauss machte womöglich aus der Not eine Tugend.

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