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Professor Hicks` Modellbaukasten der Materie

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und Sparlinek der Dozentenschreck

Der Hörsaal war zum Bersten gefüllt. Einige Zuhörer saßen auf den Treppenstufen und sogar auf den Fensterbänken. Das schon frühlingshafte Wetter hatte bei den Anwesenden einen leichten Schweißgeruch erzeugt, der von den Düften der unterschiedlichsten Deos und Parfüms durchsetzt war, die wahrscheinlich hauptsächlich von den überwiegend weiblichen Zuhörern ausgingen, deren Blicke Professor Hicks während seines Vortrags immerwährend leicht verwirrten und irritierten.

Professor Hicks fühlte sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht immer etwas unsicher und verlegen, obwohl er mit seiner verbalen Anschmiegsamkeit sofort ein gutes Echo bei allen Frauen vorfand und dabei seine Theorien geradezu einschmeichelnd vortragen konnte, ohne die Zuhörerinnen damit zu langweilen. Und damit schien er tatsächlich die Herzen der Frauen für seine exponierte kosmologische Theorie zu erobern, wie es die überwältigende Anzahl der Studentinnen hier im Hörsaal zeigte.

Während Professor Hicks von eher unauffälliger und taktierender Art war, aber diesen gewissen diplomatischen, adlig noblessen Charme des feinen älteren Herrn alter Schule besaß, war sein Assistent und Heißsporn Dr. Fitzroy von ganz anderem Naturell. So spöttelte er unter Kollegen im Hinblick auf seinen Chef gern, dass es wohl an der Zeit wäre, ihm den Schüchternheits- und Verlegenheitspreis zu verleihen.

Er gehörte zu jenen Spezies der Sprücheklopfer, die über ihre eigenen Witzchen unbändig lachen können und zwar umso mehr, je öder und hohler diese sind. Hinter seinem vordergründig witzigen und jovialen Getue, verbarg sich seine arrogante Grundhaltung, die ihn im Umgang mit anderen auch schnell bissig werden ließ, indem er die Schwachstellen für sozialen Spott seiner Mitmenschen erkannte und sofort gezielt in diese Kerbe schlug.

Bevor er sich noch mit Professor Hicks auf seine lockere Art über die große Anzahl der Zuhörerinnen unterhielt, hatte er sein Augenmerk bedächtig lange auf einige auffallend reizende Studentinnen gerichtet.

„Ein paar heiße Puppen haben Sie da im Auditorium sitzen. Jetzt machen uns die Weiber sogar in der Physik die Vorherrschaft streitig. Aber das gefällt mir. Da kommt Leben in die Bude. Ja, Frauen kommen langsam aber gewaltig. Mich wundert nur, dass die ausgerechnet bei Ihnen erscheinen, Sie mit Ihren verstaubten Ansichten von vorgestern und Ihrer sachlichen Contenance.“

„Es muss nicht jeder gleich so vordergründig und zügellos wie Sie sein, wie Sie mit Ihrem übertriebenen Temperament und Ihrer überspannten Art. Und wenn wir schon bei dem Thema sind, Herr Fitzroy, Sie sollten mit ihren sexuellen Äußerungen vorsichtig sein und hier keine Sexismusdebatte eröffnen. Das wäre nicht so günstig. Mit Ihrem albernen und vorgetäuschten Machogetue sind wohl eher Sie als ich von vorgestern.

Beim Friseur habe ich im letzten Spiegel gelesen, dass die Forscher einstimmig zu dem Ergebnis gekommen sind, dass Mädchen von Geburt an prinzipiell genauso viel Interesse an Technik haben wie Jungen. Mädchen könnten auch genauso gut Mathe wie Physik. Sie würden sich bloß davor etwas mehr fürchten und würden von Mitmenschen und Medien von klein auf darauf konditioniert, dass Autos, Roboter und Festplatten eher für Jungs seien.

Die Geschlechterklischees bekommt man nur schwer aus den Köpfen. Die Mädchen müssen auf diese Dinge angesprochen werden, bevor geschlechtsstereotypische Zuschreibungen und Kompetenzerwartungen sich verfestigt haben.

Man muss deshalb den Frauen den sanften Einstieg in die Physik ermöglichen. Wenn erst einmal ein bestimmter Pool an Frauen in den physikalischen Instituten präsent ist, dann zieht das weitere an. Das ist eben einmal die Gesetzmäßigkeit der Eigendynamik der Massen, ganz gleich ob Frauen oder Männer. Wir sind eben alle nur Menschen und folgen unserer inneren Gesetzmäßigkeit des Herdentriebs.

Wie sie sehen, so scheint meine philosophisch ausgerichtete Physik bei den Frauen auf mehr Interesse zu stoßen als ihr neumoderner Computerschnickschnack“, parierte Professor Hicks die übliche zu erwartende Breitseite seines Assistenten gleich vorweg und setzte noch einen oben drauf.

„Ich gehe bei der Konzeption meiner Vorlesungen eben nicht nur von den trockenen wissenschaftlichen Grundsätzen der spröden Sachlichkeit und langweiligen formalen Richtigkeit bis zum letzten Komma aus, sondern ich gehe vom Lustprinzip aus.“

„Sie und Lustprinzip, also Herr Hicks, da lachen ja die Hühner, bei Ihrer geistigen Verbalerotik à la Platon.“

„Sie verstehen natürlich unter dem Lustprinzip nur Ihr spezielles Lustprinzip. Ich dagegen rede hier vom allgemeinen Lustprinzip. Einstein meinte einmal, dass die Masse nur über das Rückenmark denkt, höher reicht`s nicht. Doch ich bin davon überzeugt, dass gerade bei den jungen Leuten, und hier insbesondere bei den jungen Frauen, das Denken und Fühlen, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Fitzroy, und vielen jungen Männern, auch vom Kopf ausgeht.

Frauen sind überdies zäher und verfolgen ihre Ziele beständiger als Männer. Darauf basiert das Konzept meiner Vorlesung. Und der Erfolg gibt mir Recht, wie Sie sehen. Geben Sie`s zu, Sie sind doch nur neidisch.“

Und noch bevor Dr. Fitzroy ihm Kontra geben konnte, wandte sich Professor Hicks seinem Rednerpult zu, während sich Dr. Fitzroy auf seinen freigehaltenen Stammplatz im Plenum in der ersten Reihe vor dem Rednerpult hinsetzte.

*

Nachdem Professor Hicks seine Unterlagen für seinen Vortrag zurechtgelegt und seine Lesebrille aufgesetzt hatte, begann er mit seinem Vortrag.

„Sehr geehrte Kommilitoninnen und Kommilitonen, es freut mich außerordentlich, dass Sie so zahlreich zu meiner Vorlesung „Die Erklärung des Higgs-Teilchens und der magische Baukasten der Materie“ erschienen sind. Und ich hoffe, dass ich hier Ihren großen Erwartungen an meine Vorlesung gerecht werden kann.

Der Nachweis des Higgs-Teilchens mit Hilfe des

LHC-Teilchenbeschleunigers am CERN in Genf, das in den Gazetten auch gerne als Gottesteilchen betitelt wird, hat natürlich in der breiten Öffentlichkeit ein großes Interesse an der Teilchenphysik geweckt, was sehr erfreulich ist. Und ich will Ihnen im Verlauf meines Kollegs hier aufzeigen und beweisen, dass die Kenntnis der Prinzipien der Teilchenphysik und damit der Quantentheorie uns nicht nur das Higgs-Teilchen erklären kann, sondern uns auch ermöglicht, den Aufbau der gesamten Welt, des Kosmos oder Universums, wie Sie es auch nennen mögen, zu verstehen. Und das ist schon eine ganze Menge.“

Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf den Mündern der Zuhörer.

Professor Hicks nahm noch einen kleinen Schluck Wasser aus dem bereitgestellten Glas und fuhr dann mit seinem Vortrag fort.

„Die Frage nach dem Ursprung der Welt und damit unseres Daseins berührt uns natürlich zutiefst und beschäftigte bereits alle unsere Vorfahren. Oft wird behauptet, dass es die Religion und die Kunst seien, die den Menschen von allen anderen Wesen dieses Planeten unterscheiden und damit sein geistiges Bewusstsein. Doch unser Bewusstsein ist an unsere körperliche und damit materielle Existenz gebunden.

„MENS AGITAT MOLEM“, der Geist bewegt die Welt, so steht es im Logo der hiesigen Rhein-Neckar-Zeitung.“

„Meist ist es der Ungeist“, warf der Student Sparlinek, der in der ersten Reihe saß, vorlaut ein und erntete damit lauthals Gelächter, insbesondere von jenen Hörern, die lediglich einmal Sparlinek in live erleben wollten.

Dr. Fitzroy, der drei Sitze weiter saß, und schon beim ersten Anblick des Studenten Sparlinek spöttisch grinste, schüttelte abfällig den Kopf. Der sichtbar hochgewichtige und angeblich hochbegabte Student Sparlinek mit der dicken Brille und den ultraweiten Flatterjeans war an der ganzen Uni bekannt für seine spontanen Zwischenrufe in den Vorlesungen.

Zweifellos erblickte Dr. Fitzroy in ihm auch einen Rivalen für das ihm bisher allein zustehende Privileg für angeblich witzige Zwischenbemerkungen in Professor Hicks` Vorträgen.

Doch auch Professor Hicks hatte bereits von Sparlinek, dem Dozentenschreck, gehört und nahm dessen Zwischenruf geschickt in seine Rede auf und konterte amüsiert: „Ja, da haben Sie gleich ein gutes Beispiel dafür abgegeben. Und wie Sie sehen, bewegt Ihr Ungeist hier ihre Kommilitonen zum Lachen.

Aber lassen Sie mich jetzt wieder vom Ungeist zum Geist zurückkommen. Der Geist kann also die Materie, aus der die Welt eben einmal besteht, nur lenken, er kann sie nicht bewegen. Nicht der Glaube kann Berge versetzen, sondern der Gläubige. Wunder, wenn es sie gibt, sind selten, ansonsten wären es keine. Darauf sollte man sich nur im äußersten Notfall verlassen, wenn nichts anderes mehr hilft. Der Geist mag die Materie lenken und leiten, aber er bewegt sie nicht.

Mit dem Menschen trat zum ersten Male in der uns bekannten Weltgeschichte ein Wesen auf, das sich, von seinem Standpunkt physisch und geistig lösen kann, sich über sich selbst und die Welt Gedanken machen kann, und das die Frage nach dem Wie, Was und Warum der Erscheinungen der Welt stellen kann. Und diese Fragen beantwortet die Naturwissenschaft, deren praktisches Ergebnis die Technik ist.

Als Kinder haben wir die Spielzeuge auseinander genommen, um zu sehen wie das Ganze funktioniert. Dann waren sie allerdings kaputt. Doch man kannte nun den Mechanismus und konnte, wenn man geschickt war, das Ganze wieder aus seinen Einzelteilen zusammenfügen und ganz neue, ähnliche Dinge konstruieren und bauen. Das war die Geburtsstunde des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der Menschheit, von dem wir heute alle profitieren. Und sicher hat auch der daraus resultierende wissenschaftliche Fortschritt wie jede Sache einen positiven wie auch negativen Effekt.

Gewiss kann die Naturwissenschaft den Sinn der Welt und unseres Daseins nicht beantworten, aber sie kann beschreiben, wie das alles funktioniert, wie die Welt sich entwickelt. Ob es den Urknall wirklich gab, wie die Kosmologen annehmen, das ist die große und letzte Frage der Physik. Wenn es den Urknall wirklich gegeben hat, dann erhebt sich die Frage, was denn vor dem Urknall war. Vielleicht gibt es den ewigen Kreislauf des Welttheaters durch den Übergang der Endimplosion in die Urexplosion, wie ich meine, oder das Universum kommt aus dem Nichts und verschwindet im Nichts.

Stellen Sie sich einmal das Unmögliche vor, nämlich, dass es die Menschen und damit auch Sie und mich gar nicht gäbe. Dann würde niemand fragen, wozu das ganze Spektakel da draußen im Weltall mit den zahllosen Galaxien und Sternen, unserer Sonne und Erde, wozu dieser ganze Aufwand und worauf das Ganze letztendlich hinauslaufen soll?

Doch die Welt existierte auch vor dem Erscheinen des Menschen und sie wird auch nach dem Erscheinen des Menschen weiterhin noch bestehen.

Die Religion macht es sich mit der Entstehung der Welt recht leicht, sie bezieht ihre Weisheiten aus ihren heiligen Schriften. In der Bibel steht, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschuf und, dass er sich dann am siebten Tage davon ausruhen musste. Das mag vor 2000 Jahren genügt haben, denn viel mehr, wussten die Menschen damals nicht über die Entstehung der Welt, als dass es sie gibt und sie folglich entstehen und vergehen muss, wie wir selbst, denn der Mensch geht bei solchen Überlegungen gerne von sich selbst aus. Wenn in Urzeiten der Blitz vom Himmel niederging, dann glaubte man, dass dies der Zorn der Götter sei. Heute wissen wir, dass dies lediglich auf die elektrischen Entladungen der Atmosphäre zurückzuführen ist. Und auf der Beherrschung des elektrischen Stroms beruht eine Vielfalt unserer heutigen selbstverständlichen Annehmlichkeiten, wie der Waschmaschine, des Kühlschranks, des Telefons und des Fernsehers, ganz zu schweigen vom Computer und dem Handy oder was es da noch so alles gibt.

Angenommen, die Welt sei von Gott geschaffen, so bleibt dennoch für den aufgeklärten, sprich selbstdenkenden Menschen, die Frage nach ihrem Bauplan offen. Schon die alten Griechen kamen auf die Idee, dass man die Vielfalt der Welt auf Allgemeines,

Grundsätzliches und Elementares zurückführen könne. So kamen sie auf die Annahme der sogenannten Urstoffe Erde, Wasser, Feuer und Luft, aus denen sämtliche Stoffe aus Mischungen dieser vier Elemente bestehen sollten. Und schließlich, so nahm man an, sollten auch diese vier Elemente auf einen einzigen Ur-Stoff zurückzuführen sein. Diesen einzigen Ur-Stoff, einem seit Ewigkeit existierenden, unzerstörbaren, unbestimmten und unterschiedslosen Weltstoff nannten sie Materie von lateinisch „materia prima“. Heute jedoch wissen wir, dass es nicht vier Elemente sind, sondern 92 natürliche Elemente, die aus ihren spezifischen Atomen bestehen und, dass die Atome selbst aus Elektronen, Protonen und Neutronen bestehen und es schließlich das Higgs-Teilchen sein soll, das den Teilchen die Masse verleiht. Und aus diesen Elementen des Baukastens der Materie bauen uns heute die Chemiker all diese Stoffe

zusammen, die wir uns wünschen, und in Zukunft werden die Genetiker sogar die Lebewesen nach ihrem Willen aus ihrem genetischen Baukasten nach ihrem Gutdünken neu zusammenbauen. Inwieweit es dabei zu Überraschungen oder Enttäuschungen oder gar Bedrohungen kommt, das wird die Zukunft uns zeigen.

Und damit sind wir bereits beim Thema meiner Vorlesung. Um die Wirkungsweise solcher mit unseren menschlichen Sinnen nicht direkt wahrnehmbaren und komplexen Systemen wie Atome Moleküle und Gene zu verstehen, müssen wir uns ein Modell davon machen. Ein Modell ist eine auf das Wesentliche vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit. Und unser Modell für den Nachbau der Welt ist der magische Baukasten der Materie. Dieser Modellbaukasten der Materie enthält als kleinste Bausteinchen die Elementarteilchen, in dem eben das Higgs-Teilchen noch gefehlt hat.

Der Begriff Baukasten mag Sie sofort verstören, ja er mag Ihnen als lächerlich erscheinen, da Sie zunächst an den Baukasten in den Kinderzimmern denken, wie er zumindest zu meiner Kindheit dort noch anzutreffen war. Doch das Weltgeschehen basiert trotzdem auf dem Modellbaukasten der Materie, den wir jedoch psychisch ablehnen, da es stets ein unangenehmes Gefühl in uns verursacht, dass die Welt und auch wir selbst sozusagen nur das Ergebnis eines raumzeitlichen Puzzle-Spiels sein sollten. Das berührt uns natürlich im Innersten unseres Daseins. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie jetzt sagen, dass der Mensch nicht nur eine Maschine ist, aber er ist eben auch eine Maschine. Greifen Sie sich einmal an Ihre Brust, was Sie dort schlagen hören ist Ihr Herz. Dieses, Ihr Herz, ist physikalisch-technisch betrachtet nichts anderes als eine Pumpe, so wie die Kraftstoffpumpe in Ihrem Auto, mit dem Sie hierhergekommen sind. Und so wie der KFZ-Mechaniker eine kaputte Kraftstoffpumpe im Auto austauscht, so tauscht auch heute der Mediziner ein kaputtes Herz im menschlichen Körper aus.

Wo bleibt da unser Bedürfnis nach dem Gefühl, dem Romantischen, dem Geheimnisvollen und dem Unerklärlichen, werden Sie fragen?

Nun, ich werde Ihnen im Verlauf meines Kollegs zeigen, dass dieser Modellbaukasten der Materie auch dieses Bedürfnis nach dem Geheimnisvollen und Unerklärlichen befriedigen kann, wenngleich es auch dazu keiner Geisterbeschwörung bedarf, als vielmehr des Staunens über die Wunder der Natur, die sich uns in der Welt der kleinsten Klötzchen unseres Modellbaukastens der Materie, in der Welt der Elementarteilchen, auftun. Es ist wie ein Eintauchen in die vielfältige und farbenfrohe Welt eines Korallenriffs, das uns Staunen lässt über das wunderbare und wundersame Werk der Natur. Das ist der Grund dafür, warum ich auch gerne vom magischen Baukasten der Materie rede.

Im weiteren Verlauf meiner Ausführungen werde ich anstatt von Elementarteilchen von Teilchen oder Quanten reden. Das ist kürzer. Wir bezeichnen uns ja auch als Teilchenphysiker. Und damit kommen wir zum Kern unseres Themas, auf das aktuelle, sozusagen Top-Thema der modernen Physik, das in den letzten Jahren selbst in den Boulevardblättern für Schlagzeilen sorgte, das Higgs-Teilchen.

Higgs-Teilchen oder Gottesteilchen, Urknall und Weltformel, Schwarze Löcher, Dunkle Materie und Dunkle Energie das sind die aktuellen Stichworte zur Erklärung der Welt, die Einstein mit seiner Kosmologie ins Leben rief. Und im geistigen Schlepptau der Einsteinschen Theorie ersinnen Physiker ernsthaft utopische Theorien von Wurmlöchern, Antiwelten, vielen Welten, Paralleluniversen, wie sie oft in Science-Fiction-Romanen auftreten und versuchen diese durch formalistische Spielereien als wissenschaftliche Hypothesen darzustellen, in der Hoffnung, dass diese durch Experimente bestätigt werden.

Doch eine realistische und geniale Hypothese stellte der britische Physiker Peter Higgs auf, indem er ein Teilchen vorhersagte und berechnete, dass für die Erzeugung der Masse aller Teilchen zuständig sei. Dafür erhielt er ja auch zusammen mit dem französischen Physiker Francois Englert den Nobelpreis.“

Professor Hicks sah von seinen Vorlagen mit den Stichworten auf dem Rednerpult kurz auf und mit einem gewissen selbstgefälligen Lächeln in das amüsierte Plenum.

„An ihren strahlenden Gesichtern erkenne ich, dass Sie sich über die Namensähnlichkeit von Herrn Higgs und mir amüsieren. Doch ich bin weder verwandt noch verschwägert mit ihm, obwohl ich auch seiner Idee des Higgs-Teilchens anhänge.

Doch die genaue Erklärung und richtige Formulierung des Higgs-Teilchens steht noch aus. Diese werde ich Ihnen am Ende des Semesters geben. Und dann können Sie sich Ihre eigene Meinung dazu bilden, weil Sie sich dann schon ein bisschen auskennen im magischen Baukasten der Materie.

Obwohl man die Teilchen, also zum Beispiel auch das Elektron, nicht direkt sehen kann, lässt sich ihre Bewegung in der Nebelkammer, durch die von ihnen erzeugte Nebelspur, sichtbar machen. Wir besitzen quasi ein analoges Abbild des Teilchens. Das Bild, das wir vom Higgs-Teilchen hier zu sehen bekommen, ist aber kein analoges Abbild des Teilchens, sondern ein quasi digital erzeugtes Bild, das graphische Ergebnis theoretisch errechneter Daten. Wir sehen also eigentlich nur eine Computeranimation des Teilchens. Das zeigt, dass der Computer immer mehr zum verlängerten Arm und erweiterten Gehirn des Wissenschaftlers wird. Mit ihm lassen sich Vorgänge in der Natur, die so schnell und winzig sind, dass sie mit den herkömmlichen, realen Nachweisverfahren nicht mehr überprüft werden können, sozusagen in einem Cyber-Experiment untersuchen und ihre Strukturen und Mechanismen aufdecken.

Wenn ich Sie hier am Ende des Semesters zum Higgs-Teilchen geführt habe, dann werden Sie begriffen haben, dass dieses Teilchen uns im Grundbaukasten der Materie, aus dem die Welt aufgebaut ist, noch gefehlt hat und auch verstehen werden, warum man das Higgs-Teilchen auch als Gottesteilchen bezeichnet. Und Sie werden dabei zu der Einsicht kommen, dass sich der Alte da oben, wie Einstein sich ausdrückte, schon etwas bei der Erschaffung der Welt gedacht hat.

Das war es für heute. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.“

Mit innerer Befriedigung vernahm Professor Hicks dann das akademische Beifallsklopfen der Studentinnen und Studenten auf den alten hölzernen Pultflächen.

Indessen war ihm noch etwas Wichtiges eingefallen so, dass er sich noch einmal den Zuhörern zuwandte. „Gestatten Sie mir noch einen für Sie wichtigen Hinweis, bevor Sie gehen. Denken Sie auch in Ihrer momentanen Begeisterung für meine Ausführungen daran, dass wir zwei Klausuren in diesem Semester über das Thema schreiben. Ich hoffe, dass ich durch diese Bemerkung das massenhafte Interesse für meine Vorlesung nicht gemindert habe.“

*

Der Hörsaal war schon fast geleert und Professor Hicks kramte seine Unterlagen zusammen, um sie in seiner alten, speckigen Aktentasche der Marke Bree, aus Naturleder, die er schon seit seiner Studentenzeit mit sich herumschleppte, zu verstauen.

Neben ihm hatte sich der dickliche Student Sparlinek mit dem Kindergesicht und den großen Augen hinter den ultrastarken Brillengläsern postiert, der ihn schon durch seinen Zwischenruf während der Vorlesung leicht genervt hatte und ihn wohl jetzt noch weiterhin mit seinen vorwitzigen Weisheiten traktieren wollte. „Herr Professor, haben Sie noch etwas Zeit?“

Dr. Fitzroy, der ebenfalls zu Professor Hicks gekommen war, um sich für heute zu verabschieden, da er noch einen wichtigen Termin hätte, womit er den allabendlichen Treff mit seinen Zech- und Klönsbrüdern im berühmt berüchtigten „Weinloch“ in der Unteren Straße meinte, kannte den Studenten Sparlinek bereits vom Sehen und von Erzählungen der Assistenten anderer Fakultäten. Bei diesen Gesprächen identifizierte ihn Dr. Fitzroy in seiner abfälligen Art nur als den „Mehlsack mit den Glasbausteinen“. Und in diesem Sinne antwortete er dem Studenten Sparlinek noch bevor Professor Hicks auf dessen Frage reagieren konnte, kurz und schmerzvoll, wie er es selbst immer gern bezeichnete: „Zeit hat er schon, aber keine Lust“, und verschwand eiligst.

Professor Hicks, den die kaltschnäuzige und flapsige Art seines Assistenten sichtlich störte, bedachte dessen Ausfälligkeiten aber immer nur mit einem missbilligenden Räuspern, da er sich bewusst war, dass er Dr. Fitzroy als Arbeitstier für die ungeliebten Korrekturen, der immer zahlreicher werdenden Klausuren benötigte, die auch immer grausiger wurden, worin sich beide einig waren. Außerdem bewährte sich sein Assistent bestens als Abwehrschild gegenüber ungeliebten äußeren Einflüssen jeglicher Art auf ihn und sein Institut. Doch das provokante Verhalten des Dr. Fitzroy wurde in letzter Zeit immer unangenehmer und peinlicher. Wenn dies so weitergehen sollte, dann könnten die Tage von Dr. Fitzroy als

Assistent am Institut für interdisziplinäre Forschung gezählt sein. Dieser Gedanke verfestigte sich in Professor Hicks Kopf immer mehr.

Außerdem schien sich zwischen Dr. Fitzroy und dem Studenten Sparlinek ein zusätzlicher Konflikt aufzutun, da normalerweise

Dr. Fitzroy bisher die, wie er es rechtfertigte, schwere geistige Kost des Vortrags durch erheiternde Zwischenbemerkungen in Form von Spontisprüchen ab und zu gezielt auflockerte.

Seine Rede war: „Mit trockenen Vorlesungen kann man heute nicht mehr ankommen, man muss ein wissenschaftliches Event und Spektakel bieten, möglichst eine mediale Präsentation und kein ödes Verbalgesülze.“

Doch mit Sparlinek und seinen Lacherfolgen während der heutigen Vorlesung trat plötzlich ein Rivale für sein Privileg als Animateur für Professor Hicks` Hochschulveranstaltungen auf, den er gleich abservieren wollte, bevor dieser sich weiter breit machen sollte.

Im Gegensatz zu seinem Assistenten besaß Professor Hicks aber noch die alte pädagogische Selbstverpflichtung der Dozenten alter Schule, nämlich dem Anliegen seiner interessierten Studenten nachzukommen und sie als Kunden und nicht nur als lästige Störer bei der eigenen Lehr- und Forschungsarbeit zu betrachten. Und in diesem Sinne wandte er sich mit altväterlicher Stimme dem Studenten Sparlinek zu. „Was haben Sie denn auf dem Herzen, mein Lieber?“

„Also Ihr Modellbaukasten der Materie als Weltbild des modernen, gebildeten Menschen, ist das nicht ein bisschen naiv, Herr Professor? Die Teilchenforscher tun ja gerade so, als hätten sie es mit richtigen Teilchen zu tun, als seien das Dinge, wie die Körper rings um uns herum, wie das Pult hier oder die Mappe und setzen aus diesen die ganze Welt zusammen“, sprudelte es vorwurfsvoll aus den wulstigen Lippen des Studenten Sparlinek hervor.

„Da mögen Sie Recht haben, wenn Sie dabei an die Klötzchen des Kinderspielbaukastens denken. Doch die Klötzchen des Baukastens der Materie sind die Teilchen“, gab Professor Hicks dem interessierten Studenten Sparlinek mit einem gewissen Lächeln der Überlegenheit zu bedenken.

Und die Teilchen, wie ich schon angedeutet habe, besitzen eigenartige, ja man kann sagen, magische Eigenschaften, deshalb heißt ja der Untertitel zu dieser Vorlesung auch „Der magische Baukasten der Materie“.

„Ja gut, das ist mir nun bestens vertraut, dass die Teilchen ungewöhnliche Eigenschaften besitzen. Das macht mir keine Schwierigkeiten. Darum geht es mir auch nicht bei der Vorstellung des Baukastens der Materie“, gab der Student Sparlinek mit selbstsicherem Ton zum Besten.

„Worauf ich hinaus will, das ist das Problem, dass die Teilchen des Baukastens der Materie durch irgendwelche Kräfte miteinander verbunden sein müssen, wie sonst sollen sich die Teilchen untereinander organisieren? Ihr Modellbaukasten der Materie ist lediglich ein stationäres und mechanisches System, das sich nicht entwickeln kann.

Schon Aristoteles reüssierte: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Und dieses „mehr“, das müssen die Kräfte sein, und davon ging auch Einstein bei seiner Kosmologie aus, verstehen Sie? Aus Einsteins Kosmologie beziehen doch die Astrophysiker ihr Weltbild und nicht aus dem Modellbaukasten der Teilchenphysiker.“

Die belehrende und brüskierende Art, mit der der Student Sparlinek seine Überlegungen vortrug, entlockten Professor Hicks ein leicht verlegenes Lächeln und bewirkte in ihm eine kleine Denkpause, bevor er darauf antworten konnte.

„Ich bin von ihrem Interesse und ihren Überlegungen sichtlich überrascht. Was Sie da vorbringen ist vollkommen richtig, und diese Überlegungen haben die Physiker seit Aristoteles auch angestellt und weiterentwickelt. Da nehmen Sie schon meine nächste Vorlesung vorweg, in der ich auf die Kräfte und auf Einsteins Kosmologie zu sprechen komme. Schon Goethe lässt seinen Faust gleich zu Beginn in seiner Studierstube aus seinem Volum vorlesen, in dem er das Neue Testament ins Deutsche übersetzte …“

Doch bevor Professor Hicks den Dichterfürst zitieren konnte, sprudelten, zu seiner Überraschung, Fausts Worte aus dem Munde des Studenten Sparlinek nur so hervor.

„Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“, zitierte der Student Sparlinek mit deklamatorischer Stimme und meinte dazu: „Da sieht er die Welt noch mit den Augen der Theologen. Doch am Ende sieht er die Welt mit den Augen der Physiker, indem er sagt: „Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!“[1]

„Bravo, das haben sie schön gesagt. Sie scheinen mir ja so eine Art Universalgenie zu sein. Heutzutage findet man unter den Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer kaum welche, die so allgemeininteressiert sind und dann sich auch noch mit solch alter klassischer Literatur beschäftigen und sie so gut auslegen. Sie sind eigentlich genau der Typus von angehendem Wissenschaftler, den wir an unserem Institut für interdisziplinäre Forschung propagieren.“

Während der Student Sparlinek sich bei diesen Worten leicht geschmeichelt fühlte und sich im Geiste schon in Professor Hicks` Institut ein- und ausgehen sah, war Professor Hicks noch bemüht gegenüber ihm mit seiner aufdringlichen Art, Distanz zu wahren und ging noch einmal auf den Kern der Sache ein.

„Ja, ja, mit Ihrer Ansicht stehen Sie nicht alleine da. Damit befinden Sie sich mit Ihrer Argumentation in guter Gesellschaft. Doch auch Aristoteles und Goethe konnten und sollten sich irren, mein Lieber. Und selbst Einstein tat sich mit der Quantentheorie schwer.“

„Wollen Sie damit sagen, dass nur die Teilchenphysiker unfehlbar sind, so wie der Papst. Sie empfinden sich wohl alle als die Größten, Herr Professor!“

„Keineswegs, mein Lieber, Aristoteles, Goethe und Einstein waren mit diesen Ansichten ihrer Zeit voraus. Doch inzwischen hat die Wissenschaft eben Fortschritte gemacht. Wenn Sie so wollen, dann kann man sagen, dass die Quantenfeldtheorie die fortschrittlichste physikalische Theorie ist, fortschrittlicher und damit grundlegender als die Relativitätstheorie Einsteins. Mit der Quantenfeldtheorie liegt der gelungene Versuch der Verschmelzung der beiden großen Theorien der modernen Physik, der Relativitätstheorie und der

Quantentheorie zu einer einheitlichen, universalen und finalen

physikalischen Theorie, vor. Und diese führt uns auf den magischen Baukasten der Materie mit den Elementarteilchen. Um dies richtig verstehen zu können, müssen wir näher auf die historische Entwicklung des Weltbilds der modernen Physik eingehen.

Dabei gehen wir in der nächsten Vorlesung vom Weltbild der Einsteinschen Kosmologie aus, so wie er sie selbst entwickelt und gesehen hat, um diese dann anschließend durch die Brille der Quantentheorie zu betrachten.

Und das ist ein langer Weg bis dahin, der erst zu Ende des Semesters auf das letzte fehlende Bausteinchen im Gebäude der Welt, das Higgs-Teilchen, führt.

Ob Sie allerdings bis dahin durchhalten und wie viel Sie davon dann verstanden haben, das können Sie in den folgenden Klausuren zeigen“, entgegnete Professor Hicks sichtlich überrascht und leicht pikiert von der ungeniert düpierenden Art des Studenten Sparlinek, der schon bei den Kollegen in fast alle Fakultäten bekannt war, da er fast jedes Semester das Studienfach wechselte, um überall von sich Reden zu machen, ohne je zu einem Abschluss zu kommen.

Und dieser Student Sparlinek setzte zum Abschluss mit einem verschmitzten Lächeln und seiner ungeschminkten Selbstüberheblichkeit noch einen obendrauf: „Na, da freue ich mich schon jetzt drauf, auf Ihre Klausuren. Wenn die so werden, wie Ihre Vorlesung da heute, dann sehe ich dem gelassen entgegen.

Schönen Tag noch, Herr Professor.“

Da Dr. Fitzroy wieder einmal gleich nach der Vorlesung sich in sein geliebtes „Weinloch“ abgeseilt hatte, statt noch einmal mit zurück zum Institut für interdisziplinäre Forschung zu fahren, saß nun Professor Hicks alleine in seinem 38 Jahre alten abgeblassten Polo, der von unzähligen Schrammen und überspachtelten Rostflecken nur so übersät war.

So großartig und großzügig Professor Hicks in geistigen Dingen war, so kleinkariert und sparsam ging er mit materiellen Gütern um, und so genierte er sich nicht, mit diesem alten „Schrotthobel“, wie ihn Dr. Fitzroy nur nannte, solange sich dessen Räder drehen, durch Heidelbergs Straßen zu fahren, die an diesem vorfrühlingshaften Abend von bunten Treiben belebt waren. Nicht nur das aufkreischende Schreien des Getriebes beim Hochschalten mit der maroden Kupplung, sondern auch das knatternde und plärrende Geräusch des schon porösen Auspuffs seines altersschwachen Gefährts ließ so manchen Passanten aufschrecken.

Doch Professor Hicks nahm dies gar nicht zur Kenntnis. Beseelt von dem zweifellos sichtbaren Erfolg seiner heutigen Vorlesung steuerte er sein geliebtes altes Vehikel zurück zu seinem erst kürzlich gegründeten Institut für interdisziplinäre Forschung, dem sein ganzer Stolz galt.

Mit lautem Geknatter fuhr er den steilen Philosophenweg hoch, vorbei am Institut für Experimentalphysik, in dem der Kollege Stemmpfeife, der gerade mit seinen Assistenten mit dem Aufbau eines neuen Experiments beschäftigt war, ohne aus dem Fenster zu blicken meinte: „Da quält sich wieder der Polo vom Hicks den Berg hoch. Da weiß man auch nicht, wer einem mehr leid tut, das Auto oder der Fahrer.“

Professor Hicks erklärt das Higgs-Teilchen

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