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Das Dankeschönfest

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Noch lag Ruhe über dem Wald und Dunkelheit und leichter Nebel, doch unbeirrbar begann das Erwachen, angeregt von den winzigen Quäntchen des Lichtes, die die Leben spendende Sonne verschwenderisch und ohne Unterlass in das Universum hinaus sandte und die eine langsam zur Gewissheit werdende rosige Ahnung des neuen Tages an den östlichen Horizont zeichneten. Nur ein verschwindend geringer Anteil der unermesslichen Energiemenge, die die Sonne seit Äonen Tag für Tag ins All herausschleuderte, traf auf unsere Welt, und auf unseren Wald davon nur ein ganz winziges Kontingent. Und von dieser fast homöopathischen Dosis nur ein einziges, winziges, fast unsichtbares Lichtstäubchen stahl sich, als das erste Leuchten der Sonne es endlich über den Horizont geschafft hatte, in Reginald Eichhorns Kobel zunächst und dann in seine Schnuppernase und ließ ihn schließlich mit einem kräftigen „Haaaa-ruwaschi“ erwachen.

Ach, sagte er sich, nachdem er sich zusammengerappelt, den Schaf aus den Augen gerieben, noch einmal wohlig gegähnt und sich ausgiebig gereckt hatte, ach, was wird das wohl heut wieder für ein wunderschöner Tag. Dann streifte er seinen buschigen Schwanz so oft über den stachelichten Fichtenzweig, den er eigens zu diesem Zweck direkt neben der Kobeltür aufgestellt hatte, bis er mit Genugtuung feststellen konnte, dass sein bestes Stück heute einen so sonnigrotsamtseidigen kupfernen Glanz hatte, wie schon seit langem nicht mehr.

Die Menschen liebten die Eichhörnchen als possierliche, lebendige Tierchen. Aber sie begehrten sie auch ihrer Felle wegen, die sie als Feh oder Fehhaar bezeichneten und die sie sowohl für hochherrschaftliche Mantelbesätze und als auch für Pinselhaare für die Aquarell- und Porzellanmalerei besonders schätzten, und sie veranstalteten solcher buschigen Pelzchen wegen, besonders wegen denen seiner sibirischen Verwandten, die ob der dort vorherrschenden Kälte ganz besonders fein und buschig waren, regelrechte Massaker, die alljährlich vielen seiner Artgenossen zum Verhängnis wurden und ihnen den Garaus machten.

Da er dies allerdings nicht wusste, war seine Freude ungetrübt, und so konnte nichts und niemand seinem Stolz auf die wie patiniertes, poliertes Kupfer glänzende Rute etwas anhaben. Reginald sprang hinaus auf seinen Wohnast und turnte vergnügt und „ke-ke-kek“ seine Freude hinauskeckernd, den Wohnbaum am Stamm hinauf, den er sich mit seinem Freund Enno, dem Adler, und vielen anderen Mitbewohnern teilte.

Hier fragt sich, wer’s nicht besser weiß: Was soll denn das: Ein Eichhorn – eines Adlers Freund? Ja, ja, so kann die Wirklichkeit sein! Kein Räuber jagt so nah beim eignen Nest, dass er die Rache der Opfer fürchten müsste. So mancher alte Förster weiß davon zu berichten, dass die spinnuse Volksweisheit, nach der der Fuchs dem Hasen gute Nacht sagt, keine Lüge ist.

Reginald hatte, als er vor Jahresfrist als junges Eichhörnchen auf der Suche nach einem Revier für sich und seine Zukunft gewesen war, nach langer Wanderung durch eine Welt, die ihm ob ihrer nie zuvor gesehenen Wunder unablässig Staunen abverlangte, seinen neuen Heimatwald gefunden und den allergrößten Baum inmitten dieses wunderschönen Waldes mit seinem Herzen als sein neues Heim erkannt. Großes Glück war dabei im Spiel gewesen. Keinen Gedanken an die Nahrungskette und seine Position darin verschwendend, hatte Reginald sich den Adlerhorst als Wetterschutz auserkoren für die Zeit, in der sein eigener Kobel noch der kunstvollen Vollendung harrte.

Der Adler, der schon vor undenklich langen Jahren seinen Wohnsitz dort hoch oben in der Baumkrone genommen hatte und dieses keinesfalls geduldet hätte, war für einige Tage außer Horst gewesen um seiner Verwandtschaft einen Besuch abzustatten – die Eier seiner Schwester waren getauft worden – und musste bei seiner Rückkehr verblüfft zur Kenntnis nehmen, plötzlich einen neuen Nachbarn zu haben. Eine Grundregel im Reiche des Fressens und Gefressen-Werdens, in der Wildnis also, war, sich in der Umgebung des eigenen Nestes eine Ruhezone, eine Zone des Friedens ohne Feinde zu schaffen, in der jegliche Form der Jagd tabu war. Dass es nun ausgerechnet ein Nager gewagt hatte, ihn während seiner Abwesenheit zu überrumpeln und so vor vollendete Tatsachen zu stellen, war dermaßen ehrverletzend, dass er jedem der dies wissen – oder auch nicht – wollte, vorkrächzte, solche haarigen Wesen wären einerseits von Übel, insbesondere der fusselige Schwanz und dieser wiederum insbesondere für die Verdauung, weswegen man tunlichst von deren Verzehr ablassen möge, andererseits aber doch ein nützliches Utensil für jeden Adlerhorst, zögen sie doch mit ihrem vielen Fell das Ungeziefer geradezu magisch an und damit fort aus jeglichem – und insbesondere seinem eigenen, nun seither überaus reinlichen – Nest. Darüber hinaus sei er ohnehin ein Seeadler, der nur in äußerster Not etwas anderes, als mageren, eiweißhaltigen, fell- und federlosen und daher äußerst bekömmlichen Fisch zu genießen pflegte. Nicht zuletzt auch darum, was er allerdings nicht erzählte, weil der stumm war und Enno – nur ein ganz klein wenig sensibel – schreiendes Futter überhaupt nicht gern mochte.

Schon bald musste Enno zudem erkennen, dass Reginald mit seinem offenen, stets freundlichen Wesen für sein sonst doch oft leeres, manchmal gar trauriges Leben eine Bereicherung war und schließlich eine für die Gemeinschaft des gesamten Waldes. Stets war Enno, Herr der Lüfte und der Nahrungskette, von allen nur ängstlich und ehrfürchtig gegrüßt worden, Reginald aber keckerte immer freundlich und fröhlich und ausgeglichen drauf los, schwärmte davon, wie schön das Leben doch wäre und wie viele und welche guten Taten er doch vollbringen wolle, wohl, ja sicher, auch um selbst glücklich zu sein, vor allem doch aber, um alle anderen zu beglücken.

Wenn Enno seinen kleinen, selbstlosen Freund so aus der Ferne betrachtete, kamen ihm oft merkwürdige Gedanken. Ein anderer Adler an Ennos Stelle hätte nicht lange gefackelt und sich diesen kleinen Nager schon längst einverleibt. Enno war das von Beginn an nicht rechtens erschienen – schlecht erklärlich, warum. Bei keinem Fisch hatten Enno je ähnliche Skrupel befallen. Futter ist Futter, und wenn es noch so zappelt. Basta! Schließlich hatte die Natur ihm seine Natur gegeben, und nach der hatte er ein Jäger zu sein. Demzufolge war es rechtens, sich am Fisch zu laben, und zwar so oft und so reichlich, wie es ihm gefiel, bis nämlich sein Hunger gestillt war. Da gab es überhaupt keine Diskussion. Das war sein naturgegebenes Recht, sein ureigenster Anspruch. Also war es gerecht und also war es auch gut.

Beim Verspeisen seiner Beute hatte er allzu oft erlebt, dass die es zuvor nicht anders gemaulhabt hatte. Im Inneren vieler Fische waren angedaute Reste kleiner Fischlein vorzufinden. Eines seiner Opfer, ein Hecht, hatte sich unmittelbar bevor er ihm in die Fänge geraten war, einen Hecht fast gleicher Größe einverleibt! Dies, so meinte Enno, konnte nun ganz und gar nicht rechtens sein. Obwohl, das wusste er leider, selbst wenn er es vehement zu verdrängen suchte, Brudermord in mageren Jahren selbst auch in adligsten Adlerfamilien von bester Gesellschaft vorkam. War das nun Böse? Wo es doch dem Überleben wenigstens eines der Adlerjungen diente? Oder war es Gut? Weil sonst nämlich die gesamte Brut jämmerlich verhungert wäre?

Der Inbegriff des Bösen, war Enno sich sicher, war er selbst für alle Fische, stoben sie doch in alle Richtungen auseinander, sowie sein Flugschatten über die Wasseroberfläche glitt. Die kranken, die schwachen, die unvorsichtigen blieben als mögliche Beute zurück. War er vielleicht dazu gut? Dass er die Auslese in der Natur unterstützte? Für wen sonst er gut war (Reginald mal ausgeklammert) wusste er nicht so recht, aber zumindest für eine Adlerin war er es einst gewesen. Und für seine Eltern natürlich. Und für sich selbst.

Ist Gut, meinte Enno, also immer das, was dem, der diesen Begriff zu definieren hat, gut tut? Demnach würde also niemand sich selbst für böse halten? Auch der, der mutwillig etwas zerstört, ohne dass er daraus Nahrung zieht? Wer war es überhaupt, der Gut als Gut und Böse als solches und damit Recht und Unrecht definierte? Wer war der Schöpfer der Moral? Und war Moral gleich Recht?

War denn der Storch nicht gut, der einen Frosch von der Wiese auflas, um seine Jungen zu füttern? Und was sagte der Fuchs dazu, der dann und wann auch gern ein Fröschlein vertilgte, und darum den Storch mit Futterneid beargwöhte, ihn nach Möglichkeit gar aus seinem Revier vertrieb? Und was sagte der Frosch dazu? Und waren Storch und Fuchs, aus Sicht der Mücke, die nun den Frosch nicht mehr zu fürchten hatte und sich zudem, je nach Gefallen, am Blut von Vogel oder Säuger laben konnte, nicht geradezu ein Sinnbild höherer Gerechtigkeit?

Nun, Störche, Füchse, Frösche, Mücken unter sich würden dies wohl jeweils ähnlich werten, weswegen es unter den Störchen sicherlich eine stillschweigende Übereinkunft, eine spezifische Moral gab, dass Frösche ihre naturgemäße Nahrung seien. Unter Fuchsens war die Anwesenheit der Storchs im Allgemeinen unbeliebt und deren Vertreibung daher moralisch zulässig. In jeder Familie Frosch wurden die schauerlichsten Geschichten von Fuchs und Storch erzählt, die endeten mit „... und die Moral von der Geschicht: Vertraue Storchs und Fuchsens nicht“, so dass die Jungen, als Quappen bereits, beim Anblick eines jeden nur ähnlich wirkenden Schattens sofort das Weite suchten um sich zu verstecken, oder aber in Totenstarre verfielen.

Lag Gerechtigkeit denn etwa einzig und allein im Auge des Betrachters? Gab es also Gut und Böse gar nicht wirklich? Gibt es da überhaupt eine absolute Trennung? Oder war diese Frage obsolet? Weil einfach nur Ausdruck subjektiver Wertung? Gab es denn dann gar keine höhere Moral? Legte die nur der fest, dem sie selber gut bekam?

Wahrscheinlich. Und so hatte Enno beschlossen, dass dieser kleine, wuschelige Nager seinem Gemüt gut bekam und so war es gekommen, dass Enno sich Reginald insgeheim zu seinem Schützling auserkoren hatte. Immer hatte er ein Auge auf ihn und ein Ohr für seine Stimme und war schon beim kleinsten Anschein von Bedrängnis wie zufällig zur Stelle, so dass Reginald häufig gar nicht einmal bewusst wurde, welche Gefahr über ihm geschwebt hatte.

Hoch hinauf also turnte Reginald eilig am Wohnbaumstamm bis in die Wipfelspitze, die höchste des ganzen Waldes. Oben angekommen betrachtete er wonnig, wie sich die Sonne fast unmerklich aber unaufhaltsam über den Horizont hievte und versank in der ergötzlichen und philosophischen Betrachtung, dass, wenn ein Schöpfer dieses Szenario habe planen können, ohne vorher selbst etwas so schönes je gesehen zu haben, er ja wohl überdies auch noch ein großer Künstler müsse sein.

Nachdem der Sonnenball nun vollkommen und rund geworden war, riss er sich mit einem Glucks-Glücks-Seufzer von diesem Anblick los und ließ seinen Blick das ganze Panorama aufnehmen. Von hier aus konnte er den Blick schweifen lassen und rundum alle Horizonte sehen, alle Baumwipfel des ganzen Waldes und noch viel weiter darüber hinaus und die vielen anderen Wälder und die fernen und die nahen Gewässer und die ganze große weite Welt. Und den ganzen großen Himmel, der die große weite Welt beschützte. Und ganz besonders steigerte seine Freude, was er nicht erblickte. Kein einziges Wölkchen war nämlich zu sehen und der Himmel so blau, dass man einfach vor Wonne vergehen musste, und das nicht nur, wenn man ein Eichhorn war. Dies heute würde wohl der erste richtig warme Tag des neuen Frühjahrs werden und, wenn der Schein und die Wetterregeln nicht trogen, würde es bis hin zum Abend allerschönstes Wetter bleiben. Die Vöglein hatten das anscheinend schon vor ihm bemerkt und jubilierten vor Freude auf den Tag, ein jedes sich selbst übertreffend, um die Wette. Reginald sog geräuschvoll von der aromatischen Frühlingsluft so viel ein, wie er konnte, ließ ein wohliges „Hääächchch“ seiner Kehle entströmen, holte nochmals tief Luft, die wundervoll nach Veilchen, Anemonen und Bärlauch duftete, nahm dann Anlauf und sprang mit einem weithin hallenden Jauchzer und fühlte sich so frei wie die Vöglein und steuerte mit seinem prächtigen Schwanz von Ast zu Ast, nur jeweils ganz kurz aufsetzend um von neuem so weit zu springen, wie es ihm nur irgend möglich war. Unterwegs, etwa auf halber Höhe des Baumes, machte er halt bei Frau Amsel, die ihn zu sich gerufen hatte „Guten Morgen du Eichhörnchen“

„Guten Morgen, Frau Amsel. Aber Bittebittebitteschön, sehen Sie’s denn nicht? Ich bin doch schon groß, ein richti-ke-ke-s Eichhorn und ke-ke-kein Hörnchen mehr. Über den Winter bin ich ke-ke-gaaanz gaaanz groß gewachsen und hab schon Pinsel auf den Öhrchen!“

„Ja, ja, verehrter Herr Eichhorn Reginald, du bist ja völlig aus dem Kobelchen! Möchtest du vielleicht ein Frühstücksei? Aus Versehen hab ich eins zu viel gelegt, und du weißt doch wie der Herr Amsel im Vorjahr genervt war, als wir mehr als sechs Junge hatten, weil er sich doch immer die vielen Namen nicht merken kann.“

„Oh gerne, Frau Amsel, das krönt mein Frühstück, so ein Frühstücksei, wo’s das doch so selten gibt. Das macht aus diesem Silbertag einen richti-ke-ke-ken Goldtag! Ich will eure Jungen dann auch vor der Schlange schützen und ihnen die besten Ke-ke-Käferstellen zeigen, die es im ganzen Wald gibt, und die allerfettesten Würmerchen und die saftigsten Raupen. Und hier“ er griff in seine Futterbackentasche „hier habe ich noch ein paar Fichtensamen. Bitteschön!“

„Bitte“ sagte auch die Amsel und gab Reginald das Ei und „Danke“ sagte Reginald und nun begann das Ritual, das Reginald mit seiner Freundlichkeit im ganzen Wald verbreitet hatte. „Bitteschön“, „Dankeschön“, „Bittesehr“, „Dankesehr“, „Bitteschönsehr“, „Dankeschönsehr“, „Bittesehrschön“ und „Dankesehrschön“ lösten einander ab und sie klopften einander bei jedem Wortwechsel auf die Schultern, bis sie schließlich in unbändiges Gekicher ausbrachen, sich vor Lachen die Bäuchlein halten mussten und so lange Tränen lachten, bis es wieder gut war.

Für den Unkundigen war das allerdings als aufgeregtes Gekecker und Gepiepe zu vernehmen, so dass der annehmen musste, hier sei der allertollste Streit einer beraubten Vögelin mit einem bösen Eierdieb im Gange.

Doch dies war nur das ständige Geben und Nehmen der Natur, die ständig und unaufhaltsam, scheinbar planlos im Überfluss schuf, wo eines, das sich ungehemmt und unvermindert mehrte schon bald so überhand nahm, dass es sich selbst Feind werden musste. Was wohl, würden all die hunderttausenden Fallschirmsamen einer Butterblumenwiese neue Butterblumen mit wieder neuen Fallschirmsamen? Was, würde jede Eichel ein neuer Baum, der wieder Eicheln würfe? Was, würde jede Maus ein Methusalem mit fünf Würfen im Jahr und jeweils fünf Jungen, die ihrerseits schon bald selbst jungen würden?

Nein, nein. Darin lag schon ein Plan. So war der Verlust des einen – hier der des überzähligen Amseleies – das Aufgehen in der Erhaltung und dem Wachstum des anderen – Reginalds Bäuchlein.

Reginald nahm sein Frühstücksei, stopfte es sich in seine Futtertasche und begab sich schwungvoll hinab auf den Waldboden, zu einem der Futterverstecke, die seinem Gedächtnis noch nicht entfallen waren und gönnte sich ein himmlisches, diesem Goldtag angemessenes Frühstück, bestehend aus ein paar Kiefernsamen, zwei Eicheln und einer, weil es doch heute ein so wunder-wunder-schöner Tag zu werden versprach, extra solchen Anlässen vorbehaltenen Haselnuss. Wegen der Vitamine – Reginald lebte gern gesund – stand bei ihm, sofern der Wald dies hergab, ein Salat als Beilage auf dem Speiseplan. Heute ein besonders herzhafter aus scharf duftenden Bärlauchblättchen. Dazu gab es frische Tautropfen mit Anemonengeschmack, was ihn ganz besonders erfreute, weil diese zarten Gewächse den Wald erst seit wenigen Tagen wieder verschönten. Und nun auch noch zudem, als ganz besondere Köstlichkeit, das auserlesene Amsel-Frühstücksei.

Genüsslich nagte er mal an dem einen, knabberte an dem anderen oder schlürfte vom nächsten und freute sich über das Frühstück, über das Sein, über den schönen Tag und darauf, was er heute noch so alles spannendes, lustiges und freundliches würde erleben dürfen. Und ahnte nichts von dem, was bald darauf geschah.

Nach dem Frühstück gab er sich innigst der Lieblingstätigkeit aller Eichhörnchen hin und putzte sich blitzeblank, so dass auch kein einziges Krümelchen oder Flecklein oder Ungeziefer an ihm haften blieb. Gut gelaunt, gesättigt und geputzt legte er auf der nahen, nun schon sonnenbeschienenen Lichtung ein Päuschen ein und träumte, auf dem Rücken liegend, sich zusammen, wie er diesen wundervollen Goldtag zu etwas machen könne, was dieser allerdings seit Anbeginn der Zeit ohnehin schon war, nämlich einzigartig.

Weil nun aber Eichhörnchen so einen klitzekleinen Kopf haben, noch dazu mit so riesengroßen Knopfaugen, bleibt darin nicht viel Platz für ein Gehirn. Und wenn dann das klitze-klitzekleine Gehirn auch noch immerzu damit beschäftigt ist, sich zu freuen und glücklich zu sein, bleibt nicht mehr viel Platz zum Denken und schon gar nicht zum Merken. Deshalb sind die Eichhörnchen nämlich so vergesslich und deshalb fiel Reginald auch nichts Einzigartigeres für diesen einzigartigen Goldtag ein, als das, was er ohnehin schon jeden Tag tat, nämlich sich selbst und alle anderen zu erfreuen.

So hoppelte er denn auf der Suche nach etwas Schönem auf der Waldlichtung umher und fand alsbald ein Gänseblümchen. Da kam der dicke Herr Igel angeigelt, mit einem dicken Schneck im Maul, auch er war guter Dinge. Um sich gegenseitig eine Freude zu machen, beschenkten sie einander mit dem, was ein jeder gerade besaß, und was ihm wert gewesen war, es selber zu besitzen. Das ging natürlich nicht ohne das Waldritual, bei dem dem „Bitte“ das „Danke“ folgte und dem „Bitteschön“ das „Dankeschön“ und dann „Bittesehr“ und „Dankesehr“ und „Bitteschönsehr“ und „Dankeschönsehr“ und „Bittesehrschön“ und „Dankesehrschön“ einander ablösten, und Eichhorn und Igel einander auf die Schultern klopften bei jedem Wortwechsel – Reginald musste sich dabei sehr in Acht nehmen, um sich an den Igelstacheln nicht so doll zu pieken – und in unbändiges Gekicher ausbrachen und sich vor Lachen die Bäuchlein halten mussten und so lange Tränen lachten, und lautes Gekecker und Gefiepe den Wald erfüllte, bis es wieder gut war.

Die Schnecke war dem Eichhorn suspekt – was gäbe es wohl auch daran zu nagen – doch ging es guter Dinge weiter, weil, sicherlich ist dies doch ein irgendwo willkommenes Geschenk, und traf dann auch bald die Ente, verschenkte die Schnecke und bekam dafür ein Kalmuswürzelchen geschenkt, wieder mit gleichem Ritual unter lautem Gekecker und Gegackere. Der Kalmus ging dann an den Hasen, von dem Reginald im Gegenzug einen alten, noch nicht ganz abgeknabberten Maiskolben bekam und Gekecker und Gemuckere schallte durch den Wald. Der Maiskolben ging für eine Nuss an die Maus, wobei Gepiepe und Gekecker die Waldgeräusche belebten und so ging es fort den ganzen lieben, langen Tag. Und Reginald war’s dabei niemals um Gewinn zu tun.

Damals zu Hause, von seiner Mutter, lange war es schon her und in einem fernen, fernen anderen Wald gewesen, hatte er zusammen mit dem Segen den Spruch mit auf den Weg seines weiteren Lebens bekommen:


Zwei Schlüsselchen öffnen dir jedes Herz,

zwei liebliche, kleine, blanke,

bewahre sie gut

und vergiss sie nie.

Gib gut acht auf:


Bitte und Danke.


Schon seit Ewigkeiten war es so gewesen, dass sich die Eichhörnchen-Söhne neue Reviere hatten suchen müssen, wenn sie erwachsen wurden, während die Töchter in der Nähe der Mutter blieben, bis sie selbst einen Horn-Mann gefunden, Hochzeit gehalten und eine Familie gegründet hatten. So war er denn voller Erwartung und ohne Groll losgezogen und hatte nach einer Wanderung von siebeneinhalb Tagen seine neue Heimstatt gefunden und Freunde fürs Leben und wollte sein selbsterwähltes Reich nie, niemals nicht und nimmer mehr, verlassen.

Und so hatte er denn, dem Segen und Wahlspruch seiner Mutter folgend, „Bitte“ und „Danke“ zu seinem Lebensinhalt und zu seinem Markenzeichen gemacht und in die weite Welt hinaus getragen und schließlich in seiner neuen Heimat so für ein neues Ritual gesorgt. Niemand konnte sich seiner Freundlichkeit entziehen.

Und so schenkte Reginald und ließ sich beschenken, keckerte in einem fort und regte alle anderen zum Kichern an. Stets bot er seine Gabe mit der galanten Geste eines Rosenkavaliers längst vergangener Zeiten dar und zu keiner Zeit war es ihm um seinen Vorteil zu tun. Stets war ihm doch nur daran gelegen, ein Bitte oder ein Danke zu verschenken oder als Geschenk zu erhalten und mit diesen beiden kleinen Schlüsselchen Herzen zu öffnen, Freude und Glück in die Türen hereinzubringen, durch die er trat.

Jedes Mal, wenn ihm das gelungen war, hüpfte er vor lauter glucksender Glückseligkeit ein wenig im Kreis herum oder keckerte vor lauter Glück ein bisschen in sich hinein oder kletterte geschwind auf eine der vielen Baumwipfelspitzen, machte an einem Zweiglein in irrsinnigster Höhe ein paar Umschwünge und sprang dann, lauthals jauchzend, mit weiten Sätzen von Ast zu Ast, seiner nächsten guten Tat entgegen und schließlich auf den Waldboden zurück.

Die Waldbewohner übernahmen die Gepflogenheit, Freude miteinander zu teilen und beschenkten einander bei jeder nur möglichen Gelegenheit. Drossel, Fink und Star, Frosch und Eidechse, Hirsch und Reh, Fuchs und Wildschwein, jeder schenkte Freude, und jeder wurde mit Freude beschenkt. Freundliche Geräusche erfüllten weithin den Wald und alle kicherten oder lachten, jauchzten oder jubilierten, alle waren glücklich. Solch ein schöner Tag sollte allen für lange Zeit im Gedächtnis bleiben. Besonders aber, obwohl doch so vergesslich, Reginald Eichhorn.

Weil dies nämlich für lange Zeit sein letzter glücklicher Tag sein sollte.

Mit stolz geschwellter Brust und stolz gewelltem Schwanz tänzelte Reginald seiner nächsten guten Tat entgegen, noch nicht ahnend, welche es wohl sein würde und wie gut sie ihm gelänge.

So aus dem Augenwinkel bemerkte er da, noch ganz entfernt, ein Leuchten, ein kupfernes Glimmen, ein kleines güldenes Nuancchen heller, als sein eignes Kupferrot. Das machte ihn neugierig und aufmerksam und bald ahnte, spürte, fühlte er schließlich die Existenz eines Wesens seiner Art. Und richtig – er wandte sich dem Leuchten zu und sah einen kleinen Eichhörnchenrücken, bebend, wohl, so wie alle hier im Walde, vor Lachen. Hier, dachte er, wächst meine nächste gute Tat heran und ging stracks auf seinen Artgenossen zu. Am Waldesrand sah er da im Sonnenlicht eine einsame Huflattichblüte stehen und pflückte sie geschwind.

Die ist zu beidem gut, meinte er bei sich, als Anblick für die Seele und für den Leib als Tee, als Hustentrunk, und dachte, das wäre doch ein schönes Bitteschön-Dankeschön-Geschenk. So näherte er sich, schnell noch seine Erscheinung einer kritischen Prüfung unterziehend, dem Wesen und war viel mehr als überrascht, als er sich einem kleinen, zuckend weinenden Eichhörnchenmädchen gegenüber sah, das so voller Unglück war, dass es sein Herz erbarmte.

„Oh, schönstes Fräulein, mit dem ke-ke-güldnen Ke-ke-Glanz“ bei seiner Verbeugung übertraf er sich selbst um ein etliches, einen solch schönen Katzbuckel hatte der ganze Wald noch nicht gesehen „ist’s Herzelein ke-ke-gebrochen? Ich mach’ es wieder ke-ke-ganz!“ und überreichte ihr die Huflattichblüte mit einer Grazie, als wenn’s das allerschönste Waldorchideen-Bukett sei und sagte dazu „Bitte“ und reckte ihr, als ihm die Antwort versagt blieb, das rechte Ohr entgegen. Als er dann noch immer nichts als Schluchzen vernahm, blickte er sie wieder an und artikulierte, deutlich und laut „Bitteschön“. Doch auch das blieb ohne Erfolg. Als ihm aber dann, nach seinem dritten Anlauf, dem schon sehr deutlich akzentuierten „Bitteschönsehr“, noch immer nichts anderes als Schluchzen und Tränen zuteilwurde, schwand ein ganz kleines Bisschen das Glucksen aus seinem Bauch und machte einem ganz kleinen bisschen Groll Platz. Das Mädchen weinte noch immer bitterlich und wollte damit gar nicht aufhören. Schließlich war’s für Reginald nicht mehr auszuhalten, vor lauter Neugier und aus Entrüstung, wie denn nur jemand das Ritual nicht würdigen könne und so fragte er, ganz den Galan in sich vergessend „ Was heulste’n so?“

Nun endlich fasste sich das Mädchen etwas und gab zur Antwort „Ich..., ich weiß..., ich weiß nicht...“ und schon war die mühsam gewonnene Fassung wieder dahin und brach sich in einer erneuten Sturzflut Bahn.

„Nu ke-ke-komm man schon“ sagte Reginald ganz gesetzt und, angesichts dieses Häufleins wirklichen Unglücks, wieder einigermaßen mit sich und seinem Stolz im Reinen. „Bis zur Hochzeit wird alles wieder gut“ tätschelte er ihr die Backe „das wird schon bald“ häkelte sich ihren Vorderlauf unter und ging mit ihr im Kreis spazieren. „So, Fräulein, tief Luft holen, Einatmen, Ausatmen, wird schon alles wieder. Das nehmen wir jetzt alles Mal ganz feste in die Pfoten, ke-ke-kek“ und trug so tatsächlich zur Beruhigung des Mädchens bei.

Schließlich erzählte sie ihm, sie sei, weil ihr Vater früh am Morgen ganz fürchterlich geniest habe – das kam dem Reginald doch irgendwie bekannt vor – vor Schreck aus ihrem Kobel gefallen und hätte sich, statt brav wieder nach oben zu klettern, auf eigene Faust auf den Weg gemacht, um an diesem schönen Tag den Wald zu ergründen, und habe aber dabei eine der Grundregeln der Wildnis nicht bedacht, nämlich nur ja auf den Weg zu achten. So habe sie sich denn verirrt, sei in einen ganz fremden Wald gelangt, würde nie wieder nach Hause finden und stattdessen in der finsteren, finsteren Nacht, die nun ganz gewiss bald käme, ganz bestimmt von einem Drachen oder einem sonstigen, noch viel fürchterlicheren Getier, vielleicht sogar einer Eule, gefressen werden, wie das ihre Großmutter ihr und ihren lieben Geschwisterchen aus dem dicken Gutenachtgeschichtenbuch immer wieder vorgelesen hatte.

Hier nun war Reginalds große Stunde für eine neue gute Tat gekommen. Oh ja, ganz gewiss würde das junge Fräulein den großen, starken Reginald für immer als einen Helden in ihrem Innersten bewahren. „Nichts“ sagte er mit leicht nach links versteiftem Hals, heruntergezogenen Schultern, aufwärts geöffneten Pfotenflächen, links hochgezogener Augenbraue und rechts angehobenem Mundwinkel „ke-ke-kleines Fräulein, nichts leichter, als das“ und stieß einen kurzen Pfiff aus. Augenblicklich ertönte ein lang gezogener, grauenvoller von A zu Gis abgleitender Pfeifton, der von allen Nagetieren dem dräuenden Weltenende gleichgesetzt wurde. Es verdüsterte sich der Himmel über ihnen und ein grausiges Rauschen hub an, ein fürchterlicher Sturm brach los, das Mädchen drückte sich an Reginald...

...und Enno Adler war gelandet. Das Mädchen verging vor Angst und hatte vor lauter Schreck das Weinen ganz vergessen, starrte wie hypnotisiert offenen Mundes auf den riesigen Schnabel, der sie nun bestimmt zuerst zerhacken, als nächstes zerfetzen, dann zerfleischen und schließlich verschlingen würde, stattdessen aber nur krächzte „Eh, hallo Regi, haste dir ’ne Krume angelacht?“

„Quatschkopp, Enno, alter Geier. Bin doch nicht pädophil, man, mit solchen Ke-ke-Kinkerlitzchen geb’ ich mich doch nicht ab. Das ist ein ke-ke-kleines Mädchen, fast noch ein Baby, ich hoffe, das ke-ke-kannst du mit deinen Adleraugen auch noch ohne Lesebrille er-ke-ke-kennen, oder wirst du langsam alt, Alter? Also, das Mädchen braucht Hilfe, und das sollte doch für dich ein Ke-ke-Klacks sein. Du ke-ke-kennst doch alle Wälder hier in der Gegend und ke-ke-kannst bestimmt alle Eichhornkobel ausmachen. Was meinst du, machen wir fix eine gute Tat?“

Das Mädchen ließ sich in der winzigen Hoffnung auf ein Überleben und mangels besserer Chance überreden und stieg mit Reginald dem Adler ins Genick. Dem Sturm dort oben während des Fluges waren sie gewachsen, weil sie bei ihren Ast-zu-Ast-Sprüngen ganz ähnliche Geschwindigkeiten erreichten, und so genossen sie schon bald den Flug. Der Adler kreiste scheinbar endlos lange in immer größer werdenden Kreisen über den Wald und die angrenzenden Waldgebiete und irgendwann, die Sonne drohte bereits unterzugehen, erkannte das Mädchen einen kleinen Weiher, der ganz in der Nähe ihres Kobels gelegen sein musste. Dort gingen sie nieder und fanden alsbald den Wohnbaum und den Kobel der Familie des Mädchens. In der Gewissheit, dass es ein großes Dankeschönfest zu Ehren des Retters geben würde, wollte Reginald seinen Freund Enno nach Hause schicken, damit der noch bei Tageslicht Heim käme. Er würde hier sicherlich bis spät in die Nacht hinein als Held gefeiert werden, mit Sicherheit würde man ihn dann bitten, doch über Nacht zu bleiben, und morgen würde er in einer vergoldeten, mit Samt und Seide ausgeschlagenen Sänfte nach Hause getragen werden – oder, nun ja, einen ausgiebigen Spaziergang nach Hause machen.

Reginald sagte zu seinem Adlerfreund „Weißt du eigentlich, Enno, wie schön das ist, einen Freund zu haben? Ich meine, Enno, so einen, wie dich. Auf dich ist ke-ke-kek immer Verlass, ich danke dir, mein Freund“

„Bitte“ sagte Enno und das „Danke“ folgte auf dem Fuße. „Bitteschön“, „Dankeschön“, „Bittesehr“, „Dankesehr“ und Kichern und „Bitteschönsehr“ und „Dankeschönsehr“ sowie „Bittesehrschön“ und „Dankesehrschön“ lösten einander ab, und Eichhorn und Adler klopften einander auf die Schultern dass die Federn stiebten, wobei Reginald sich wie eine Kegel-Kugel fühlte, weil die leichten Adlerschwingenklapse ihn immer wieder aus dem Gleichgewicht brachten und ihn einer davon sogar durch die Gegend kullern ließ, und sie brachen in unbändiges Gekicher aus und mussten sich schließlich vor Lachen die Bäuchlein halten und lachten so lange Tränen, und lautes Gekecker und Adlerpfiffe erfüllten den Wald, bis es wieder gut war.

Enno flog.

Reginald las eine wunderschöne Adlerfeder auf, steckte sie sich verwegen hinter sein linkes Pinselöhrchen und fühlte sich wie ein richtiger Indianerheld und so voller Glück, dass nichts und niemand ihm jemals etwas anderes als etwas Gutes würde antun können. Er nahm das Mädchen bei der Hand und gemeinsam gingen sie zum Eichhörnchenwohnbaum.

Doch: Was für traurige Hörner erblickte Reginald da! Eine verweinte Eichhornmutter mit gebrochenem Herzen, einen Eichhornvater, dem sein Liebstes abhandengekommen war, klitzekleine Eichhörnchengeschwister mit hängenden, noch pinsellosen Öhrchen, die ihr Schwesterlein vermissten und eine Eichhörnchengroßmama, die vor Sorge ganz gram und um die Schnauze grau geworden war.

Und wie war die Freude innig und groß, als sie alle ihr Töchterchen, Schwesterlein und Enkelchen wieder sahen.

Reginald, der große Retter, kam sich als genau das vor und wollte gerade mit dem Vater das übliche Ritual beginnen, indem er „Bitte“ sagte, dem Alten auf die Schulter klopfte und „ke-ke-ke“ loskeckerte, als er ganz verdutzt zur Kenntnis nehmen musste, dass sich nun seinerseits der Vater völlig in Tränen auflöste und sagte „Hab Dank, doch ist für das was du getan hast, jeder Dank zu ke-ke-klein. Es wäre doch eigentlich als Vater meine Aufgabe gewesen, über meine Familie zu wachen und ihr Sicherheit zu geben, unser allerliebstes Töchterlein zu suchen, sie aufzuspüren und vor dem ganz gewissen Tod zu retten. Aber nein, dafür war ich zu dumm, zu schwach und auch zu feige. Wir stehen für immer in deiner Schuld! Besonders ich!“ und er neigte vor Reginald den Nacken so, als böte er ihn in Demut dem Schwerte eines Henkers dar.

In ähnlicher Weise äußerten sich die Mutter, die meinte, selbst eine rechte Rabenmutter ließe ihr Kindchen nicht auf solche Weise im Stich, die Geschwister, die am Vorabend nach einem Streit mit dem Schwesterlein zu Bett gegangen wären, ohne sich vorher miteinander ausgesöhnt zu haben, die Großmutter, die sich selbst die Schuld für alles gab, weil sie doch das Mädchen mit ihren Geschichten so neugierig gemacht hatte auf das Leben, auf den Wald und auf die große, weite Welt. Sie alle fühlten sich gegenüber Reginald in einer unsühnbaren Schuld. So auch das Mädchen selbst, denn sie selbst sei schließlich Anlass zu all dem Ungemach gewesen.

Ringsum war ein großes Weinen statt eines großen Dankeschönfestes. Das machte Reginald ratlos. Warum waren sie nicht einfach voller Freude, jetzt, wo doch alles wieder gut und ausgestanden war? Warum fühlten sie sich so sehr in seiner Schuld? Was war hier falsch gelaufen? Oder dachte er nur falsch?

Mehrere Male setzte er erneut an, um zu erklären, dass es für ihn doch überhaupt nicht der Rede wert gewesen sei, dass ihm ein einfaches Danke gereicht hätte, dass ihm nur darum zu tun gewesen war, zu helfen und Freude zu schenken, eine gute Tat zu tun. Er kicherte und keckerte – ohne sich allerdings recht wohl dabei zu fühlen, denn niemand wollte das hören. Falscher Bescheidenheit würden sie nicht auflaufen, mit einem einfachen Dank wäre es nicht getan, so dass ihm schließlich vor lauter Fassungslosigkeit sein „ke-ke-kek...“ im Halse stecken blieb.

Hier konnte er sich nicht wohl fühlen, obwohl er das so gern gewollt hätte, war er doch hier mal endlich unter seinesgleichen. Doch nein, hier konnte er nicht bleiben, obwohl er so gern zu dem Dankeschönfest, auf das er sich so sehr gefreut hatte, geblieben wäre. An Feiern dachte jedoch niemand hier und so nahm er schließlich seinen Abschied, freundlich zwar, jedoch entschieden und bestimmt, und ging.

Er wanderte los und gab sich den Anschein frohen Mutes. Anfänglich gelang es ihm auch noch, die bösen Gedanken wegzupfeifen, jedoch: Sie waren beharrlicher als seine guten und so kam es, dass er sich Unterwegs sein klitze-klitzekleines Gehirnlein zermarterte, sein Gehirnchen, in dem nun ein wenig mehr Platz geworden war, weil: Die Freude war jetzt fort. Und so breiteten sich die Marterqualen aus. Er lief die ganze Nacht. Ein kleines Glück war es, dass der Vollmond ihm leuchtete und den Weg wies und ihn vor größerem, leiblichem Schaden bewahrte. Er ging, nein, sein Vorankommen glich schon nach kurzer Zeit in nichts mehr seinem freudigen Umhergehoppel von hier nach da, nach überall, war vielmehr ein unausgesetztes Stolpern, eine schnurstracks vorwärts, heimwärts gerichtete Reihe von Stürzen, die er, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, absolvierte mit hängendem Kopf und hängenden Ohren, hängenden Schultern und hängendem Schwanz während er grübelte.

Nein. Auf eine Lösung kam er nicht. Auf eine einfache nicht und nicht auf eine komplizierte. Musste denn, wer etwas geboten bekam, wirklich eine Rechnung aufmachen und sich verschulden? Statt sich nur einfach zu bedanken? Sollte das wirklich so sein? Und wenn ja, konnte denn dann, wer sich selbst einmal etwas wünschte, die Erfüllung dieses Wunsches auch nur gegen eine Schuld erlangen? Statt gegen ein von Herzen kommendes „Bitte“? Müsste man denn dann nicht bereits schon vor dem Wunsch aus Angst vor dieser großen Schuld ganz üblen Gewissens sein und lieber gleich von vornherein und ganz und gar darauf verzichten? War er, waren mit ihm alle in seinem Wald einfach zu sorglos? War es das? War seine Welt verkehrt? Waren die Schlüsselchen nicht mehr blank? Hatten sie Rost angesetzt? Waren vielleicht die Schlösser eingerostet? Oder waren die Schlüsselchen auch nur eines dieser Klein-Eichhörnchen-Märchen gewesen, die nur so lange für wahr genommen werden durften, wie die Hörnchen selbst daran glaubten?

Endlich, kurz vor dem neuen Morgen am Wohnbaum angelangt, der Körper entkräftet, das Hirn zermartert und der Schwanz verschmutzt so wie noch nie, legte er sich in seinem Kobel nieder. Aber der Schlaf wollte nicht recht kommen. Immer wieder dachte er bei sich, ich hab’s doch aber auch für mich getan. Immer hab ich mich so wohl gefühlt nach einer guten Tat. Und wenn mir einer eine gute Tat getan hat, hat er sich selbst dafür gefreut. Und dafür hab ich mich gefreut. Und das war Hörnchenkram, ein Märchen, falsch.

War das falsch?

Kann das so falsch gewesen sein?

Er schlief zwar ein, fiel aber nicht in den erfrischenden Schlaf wie sonst, nach glücklichen und ausgefüllten Tagen, sondern in einen fiebrigen, mit schlimmen Träumen um die große Last der schweren Schuld. Und Tag um Tag verging so ohne Besserung. Er aß nicht und er trank nicht. Der Glanz wich von seinem Fell, der schmutzige Schwanz wurde zunächst struppig und dann räudig und die Haare wurden immer spärlicher. Reginald verließ seinen Kobel nur ganz selten, wenn es vor Hunger oder Durst nicht auszuhalten war, und dann meist in der Dunkelheit, damit ihn auch ja niemand sah.

Einzig Enno, sein Freund durfte bisweilen seinen Schnabel in den Kobel stecken und dem klagte Reginald dann sein ganzes großes Leid.

Enno wusste, dass Seelenpein so schnell niemanden umbrachte. Bisweilen ging einer daraus gestärkt hervor, so mancher andere geläutert, die meisten jedoch nur geschwächt. Alle aber waren nachher anders als zuvor. Eins war ihm klar: Das einmal verlorene Paradies konnte er Reginald nicht wiedergeben. Jedoch, was Enno ganz und gar nicht gegeben war – und auch niemand anderem auf dieser ganzen großen Welt: Es war ihm schlicht unmöglich, sich wirklich in Reginald hinein zu versetzen, sich vorzustellen, welch einen Sturm die Erlebnisse in ihm ausgelöst hatten und was für Verheerungen dieser Sturm in Reginalds Seelchen angerichtet hatte.

Doch er ahnte das. Und deshalb versuchte er mit der Fürsorge des väterlichen Freundes und mit der Weisheit des Erfahreneren Reginald zu trösten und ihm die Welt und das Leben zu erklären. „Unser Wald ist eine Gemeinschaft verschiedenster Wesen“ sagte er „Guck nur zum Beispiel erst einmal dich an und dann mich. Wie würdest du wohl mit meinen Schnabel aussehen, oder ich mit deinen Pinselöhrchen. All diese verschiedenen Wesen bilden eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat sich über lange Zeiträume entwickelt, hat ihre Regeln, Rituale und Gesetze aufgestellt, ohne die sie nicht das wäre, was sie heute ist und damit ist sie unsere Welt geworden. Auch das Bitteschön-Dankeschön-Ritual, das du mitgebracht und hier eingeführt hast, gehört dazu. Und auch in jedem anderen Wald gibt es solche Gemeinschaften, mit Regeln, Ritualen und Gesetzen. Nur eben mit anderen.

Und so ist jeder andere Wald auch eine andere Welt.

Die Kunst des Reisenden ist es, die anderen Welten einerseits zu akzeptieren und andererseits die eigene sich selbst zu wahren, sich selber und den Seinen immer treu zu sein.“

Immer wieder, aber nur wenn er ganz alleine war, musste Reginald ein ganz kleines Bisschen weinen vor lauter Unglück und Verzweiflung, und darüber, dass alles auf einmal so ganz anders geworden war und davon wurden seine großen, sonst immer so blitzeblanken Knopfäuglein ganz matt.

Er verließ seinen Kobel schließlich gar nicht mehr. Schlecht hätte er sich gefühlt, hätte er jemanden um etwas bitten sollen, übel, würde er um etwas gebeten werden, abscheulich, würde er etwas verschenken und furchtbar, würde ihm etwas geschenkt.

Erdrückend wie eine uneinlösbare Hypothek, ein geplatzter Wechsel, ein ungedeckter Scheck, wie Falschgeld waren alle Freundschaftsbezeugungen, wenn sie nicht mit einem einfachen Bitte oder Danke zu begleichen waren. Und das war ihm nun nicht mehr möglich.

Die Familie des Mädchens hatte ihm gezeigt, dass Dankbarkeit eine Schuld aufmachen kann. Und das konnte er einfach nicht verstehen, nicht auf sich nehmen. Und doch musste es gültig, wichtig und richtig sein. Wie sonst wäre es möglich, dass erwachsene Eichhörner danach handelten und ihr Leben danach einrichteten. Wie sonst, dass es ihn dermaßen verunsichert hatte und er sie nicht hatte von seiner, doch um so vieles einfacheren Ansicht überzeugen können.

Immer war es seine Ansicht gewesen, der Wald gäbe doch so viel her, dass alle davon leben könnten. Und wenn alle einander dabei halfen, dann doch nur umso besser. Dies würde doch das Leben nur noch schöner machen.

Manchmal, so wie ein Schlaglicht, kam ihm der Schimmer einer Erinnerung an einen wunderschönen, fernen Tag, der begonnen hatte mit einem vorwitzigen, klitzekleinen Sonnenstäubchen. Einen Tag, der so betörend begonnen hatte, mit einem Himmelsblau, als Goldtag – und geendet mit einer alle Zukunft überschattenden Erkenntnis, schwarzer Nacht.

Ach, seufzte er, wie dumm bin ich doch nur gewesen, wie unwissend und, trotz meiner großen Äuglein, blind.

Und wie glücklich.

So siechte er dahin.

Die Waldbewohner begannen ihn zu vermissen. Das ständige Kichern und Lachen im Wald, das Jauchzen und das Jubilieren verebbte bald, von Tag zu Tag ein bisschen mehr und versiegte schließlich ganz.

Das Glück hatte den Wald verlassen.

Schließlich fragten sie Enno, den Adler, was denn wohl mit Reginald Eichhorn geschehen sei, aber Enno, der Älteste von allen und der Weiseste und der am weitesten Gereiste, krächzte nur:

„Nun ja, der wird schon wieder. Ein bisschen anders, wohl, wohl wahr, wie sollte es auch anders sein.

Tja, er wird wohl nie wieder der sein, der er uns immer war. Ja, jammerschade ist’s.

Eigentlich.

Jedoch, was wollt ihr denn: Ist doch ganz menschlich!

Das eine wie das andere:

Das Rechnen wie das Grübeln.

Man nennt das auch: Entwicklung.

Oder: Erwachsenwerden.“

Reginald

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