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Das Lebensgeflecht

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Dunkel war’s, kalt, nass und ungemütlich. Einsam, kahl die Welt, verlassen und hoffnungslos. Kein klitzekleinster Schimmer einer klitzekleinen Hoffnung. Weit und breit kein Lichtblick. Vorbei die Zeit des unbeschwerten Frohsinns und des puren, strahlend-leuchtenden Glücks. Alles war so trostlos und so leer, so ohne jeden Sinn. Und klamm war’s hier, im einst so trauten Kobel, unheimlich und beklemmend. Und still.

Reginald kam sich genauso verloren, vergessen und von aller Welt verlassen vor, wie zu fühlen er bei sich beschlossen hatte. Seine erhofft, erträumt, erwünschte Welt gab es nicht mehr. Sie wollte einfach nicht so sein – was also sollte er sich um die Welt scheren? Nein, er wollte keine Hilfe, keinen Trost, keine Hand, die ihm sanft über das Köpfchen strich, keinen Arm, der ihn an sich drückte, keine Brust, an der er seinen Tränen freien Lauf lassen konnte. Nein, er wollte unerschütterlich in seinem Unglück sein und verharren – bis an den jüngsten Tag.

Viele Tage lang schon war seine Kobeltür verschlossen geblieben. Niemanden rief er zu sich herein und niemand getraute sich, den sich der Einsamkeit Hingebenden in seiner selbst gewählten Askese zu stören. Die Tiere des Waldes mieden die Gegend um den Wohnbaum von Reginald, denn sie meinten, ihn, den so tief Getroffenen, in seinem Unglück nicht stören zu dürfen. Einige glaubten auch, der Anblick fremden Glückes könnte den Freund früherer Tage noch tiefer in Einsamkeit und Unglück stürzen. Andere wiederum waren der Ansicht, dass ihr eigenes kleines bisschen flüchtiges, instabiles Glück sich im Angesicht eines solchen Häufleins Unglück verflüchtigen könne und in sich selbst zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Einig hingegen waren sich alle in ihrer Fassungslosigkeit über diesen Wandel des sonst so herzerfrischend fröhlichen Gemüts von Reginald Eichhorn und der bangen Frage, wie dies um alles in der Welt nur habe geschehen können und schlugen kopfschüttelnd einen weiten Bogen um den Baum, sowie sie seines auch nur von Ferne ansichtig wurden.

So kam es, dass sich dieses Gefühl des Verlassen-Seins in Reginald immer mehr verfestigte, ja immer mehr verfestigen musste, wie das diese Vorhersagen so an sich haben, die man sich selber macht und die sich dann auch wie von selbst erfüllen. Und weil es immer stiller wurde rundherum um ihn. Fern waren Käfergesumm und Vogelgezwitscher, kein Spechtklopfen drang an sein Ohr. Nicht auch nur ein einziges noch so kleines Tier ließ sich vernehmen. Kein Geräusch, außer dem bangen Klopfen seines ungetrösteten Herzens. Weil sie alle seine Nähe mieden.

Bis auf einen. Doch der verhielt sich still, wartete ab, zunächst, weil: Zeit, so meinte er, heilt Wunden. Ja, je, das tut sie, wohl. Jedoch die Narben bleiben. Immer.

Ganz selten verließ Reginald nur seine Bleibe. Zuhause wollte er es gar nicht mehr nennen. Die Freude, die er empfand, als er geglaubt hatte, seinen Wohnwald mit dem Herzen erkannt zu haben, war dahin, ebenso der Stolz, der seine Brust hatte schwellen lassen, als er seinen eigenen, kunstvoll geflochtenen Kobel im schönsten, größten und würdevollsten Baum des Waldes mit eigener Pfote fertiggestellt und eingeweiht hatte, mit einem Fest, zu dem sie alle geladen waren. Damals waren alle Waldbewohner gekommen, um ihn zu beglückwünschen und in ihrer Gemeinschaft willkommen zu heißen. Und alle waren sie seine Freunde geworden. Hirsch und Hase, Igel und Egel, Laus und Maus, Reh und Regenwurm, einfach alle. Alle hatte er geliebt, von allen war er geliebt worden, und so hatte er sich aufgenommen gefühlt im Bündnis der Bewohner des Waldes, seiner neuen, selbst gewählten Heimat.

Wenn Hunger und Durst ihn allzu sehr quälten, stahl er sich in der späten Dämmerung des Abends oder der frühesten des Morgens verstohlen aus dem Kobel heraus und in den Wald hinein, wo er von den verbliebenen Resten seiner im vergangenen Herbst angelegten Speicher zehrte. Keinen Blick hatte er für all das Schöne, was ihn umgab, stets nur hängenden Kopfes hoppelte er auf schnurstracksem Wege vom Wohnbaum zu einem seiner Verstecke um dort ein Weniges zu fressen und einige Vorräte mit in den Kobel zu nehmen, dann zur Tränke, nur darauf bedacht, dass ihm auch ja niemand über den Weg liefe, und schließlich auf kürzestem Weg zurück.

Wer ihn dabei beobachtete, verhielt sich still und hielt sich fern. Und es stahl sich die eine oder andere Träne beim Anblick dieses jämmerlichen, gebrochenen Geschöpfes aus dem einen oder anderen Auge. So manche Schwingenspitze und so manche Pfote wischte diese Träne ohne Scham und in tief empfundenem Mitleid um dieses arme, einsame Wesen fort. So mancher Blick verschleierte sich und wandte sich voller Trauer ab, und bar jeder Hoffnung zuckte so manche Schulter unter machtlosem Erbeben.

Vollmond war gewesen, als das Unglück über Reginald hereingebrochen war. Inzwischen hatte der Mond abgenommen, war gänzlich fort gewesen, zu einer schmalen Sichel neu erwacht, hatte sich zusehends wieder gefüllt und gerundet. Enno hatte seinen Freund von seiner hohen Warte aus zu keiner Zeit aus den Augen gelassen. In der Nacht, als der Mond wieder seine ganze Fülle erreicht hatte, wurde es ihm dann doch zu bunt und er meinte, es sei nun endlich an der Zeit etwas zu unternehmen. So konnte, sollte, durfte es nicht weitergehen. Wenn Reginald sein Schicksal nicht selbst in die Pfote zu nehmen gedachte, dann durfte, ja musste er als sein bester Freund dies wohl tun. Nun ja, nicht in die Pfote, schon klar, in die Klaue, aber dafür umso fester und endgültig.

So schwang sich Enno denn heimlich und auf leisen Schwingen auf den Ast, in dessen Gabel Reginalds Kobel verankert war und begann einen leisen Monolog.

„Schon lange vor dem Beginn allen Seins, kurz nach dem Anbeginn der Zeiten, lange noch bevor die Welt, der Wald und überhaupt auch nur ein Wesen existierte, gab es nur ein ES. Und weil es so gar nichts zu tun gab, machte sich das große ES so seine Gedanken, was es den tun könne, um seine Langeweile zu vertreiben. Nichts war um ES herum als nur leere Ödnis und öde Leere, durch die der Wind ungehindert hindurch pfeifen konnte. Stets machte er Fff, Fff, Fff, und dieses Fff, Fff, Fff füllte die gesamten Gedanken des ES aus. Das ging ihm furchtbar auf die Nerven. Da dachte sich das ES, es könne ja vielleicht eine Welt, einen Wald und auch ein paar Wesen schaffen, die zum einen den Wind bremsten, dass ihn dieser nicht mit seinem ewigen Fff, Fff, Fff bis in alle Ewigkeit nerven würde. Zum anderen könne ES mit der Welt, dem Wald und den Wesen auch etwas Kurzweil haben, die ihm die Langeweile vertriebe.“

Zunächst hatten Reginalds krummbeinige Gedanken sein ganzes kleines Gehirnchen bevölkert und waren darin rumorend hin und her und rundherum gehumpelt und hatten für nichts anderes mehr, schon gar nicht für die kleinste freundliche Wahrnehmung, auch nur den geringsten Platz gelassen. Nicht das Ausschlagen der Bäume hatte er gehört, nicht das Aufbrechen der Knospen vernommen, nicht den betörenden Duft der daraus hervorbrechenden Blüten erschnuppert, nicht verspürt, wie die wohltuende Wärme der Frühlingssonne immer stärker geworden war, wie sich das Grün Bahn brach und siegreich das Grau des Winters verdrängte, wie das Blätterdach des Waldes sich schloss und wie frisches Grün mit Blüten in Hülle und Fülle die schwere Pracht eines nahenden Sommers angekündigt hatte. Doch die leise, sanfte, eindringliche Stimme seines Freundes forderte leise, sanft und eindringlich Zutritt zu seinem Unbewussten und fand ihn und wand sich, wie ein unsichtbarer Nebel zunächst, zwischen, durch und über das unholde Gedankengezücht, legte sich, wie ein leiser, leichter Schleier darüber und begann es zu umgarnen und schließlich, dichter werdend, festzuhalten und nicht mehr loszulassen, wie ein Fischernetz seinen Fang. Reginalds Gehirnchen begann wieder ganz von selbst zu arbeiten und kleine Bildchen zu Ennos Geschichte zu malen, von der er zunächst glaubte, dass sie sein eigener Traum sei. Die Bildchen begannen sich zu bewegen, begannen laufen zu lernen und schließlich setzte sich die Geschichte wie ganz von selber fort.

„Das ES hatte sehr viel Zeit und noch viel mehr Geduld. Schließlich war ES die Ewigkeit selbst und so kam es ihm auf ein paar Äonen nicht an. Gewissenhaft also überlegte es, was es denn schaffen wolle. Und da strömten ihm viele Ideen zu. Alles, was heute die Welt bevölkert und vieles andere, was schon seit langem vergangen ist und anderes, was in ferner Zukunft sein wird, nahm in seinen Gedanken Gestalt an.“

Ein um das andere Tier des Waldes hielt beim Vernehmen von Ennos Stimme in seinem Tun inne, wandte sein Haupt der Quelle seiner Worte zu und schritt, flog, hoppelte, kroch oder wand sich, wie von einem bezaubernden Banne gezogen, dem Wohnbaum in möglichster Stille entgegen. Uhu, Eule und Kauz machten es sich auf einem Baum gegenüber bequem, wo sie auf einem Ast, dicht aneinander gedrängt wie die Orgelpfeifen, Ennos Vortrag lauschten. Nicht weit von ihnen ließ sich eine Rabenfamilie nieder und an dem Zweig darüber hängten sich die Fledermäuse Hufeisennase und Glattnase einverträglich kopfunter dicht nebeneinander auf.

„Statt aber gleich drauflos zu formen, überlegte das ES, was denn das eigentlich Wichtige an alldem sein solle, was es zu schaffen gedachte, denn: Ohne Sinn soll gar nichts sein. Und der Wind brauste dazu immerfort sein Fff, Fff, Fff. Zwei oder drei Zeitalter vergingen in denen das ES Gedanken wälzte, Lösungen gefunden zu haben glaubte und doch wieder verwarf. Nein, dies war nicht richtig, jenes war falsch, immer wieder spielte es alle Möglichkeiten durch und fand an allem und jedem einen Makel. Hämtäm.“

Hier musste sich Enno räuspern. Er war doch eigentlich kein Freund vieler Worte, weshalb er an solch lange Reden nicht gewohnt war. Nur seinem lieben Freund zuliebe beanspruchte er seine Stimme heute so sehr, dass ihm sein Hals ganz trocken geworden war.

Reginald kam es komisch vor, dass sein Traum sich auf einmal räusperte. Träume räuspern sich doch nicht! Wo gibt’s denn so was? Notgedrungen, sozusagen gezwungenermaßen, musste nun Reginald also aufwachen, um nachzusehen, was mit seinem Traum nicht stimmte. Als er sich in seinem Kobel wieder fand, erkannte er auch die Stimme seines besten Freundes, die durch die Flechtwand seines Zuhauses nur schwach gedämpft an sein Ohr drang. Der fuhr gleich mit dem Erzählen fort. Regi aber blieb weiterhin muckseichhörnchenstill und spitzte seine Lauscherchen, damit ihm auch nicht die kleinste Kleinigkeit entginge.

„Hämtäm. Makel also. Keinen einzigen wollte das ES zulassen, und mochte er auch noch so klein sein – makellos sollte seine Schöpfung werden, in sich selbst einen Sinn finden und so alles im Ganzen und jedes für sich im Einzelnen an seinem sinnvollen Sein sich erfreuen können. Und so saß es denn noch so einige illionen Dezennien da und kratzte sich gedankenverloren den Kopf. Und immer wieder umbrauste der Wind es mit seinem Fff, Fff, Fff.

Da durchdrang plötzlich die lang ersehnte Erkenntnis sein Wesen. ES sprang ungeduldig auf, wanderte, von Unrast getrieben, hin und her. Wie gewohnt examinierte ES die Idee und suchte nach einem Fehler in seinem neuen Gedanken, suchte den Makel, den klitzekleinen, der sich doch sonst immer hatte finden lassen, beäugte sein Gedankenwerk von allen Seiten, belauschte und beklopfte es, hielt auch die Nase dran, ob da nicht doch etwas zu stinken begänne, und befand schließlich, nach eingehender Prüfung, dass es gut war.

So erhob das ES sich selbst zu seiner vollen Erhabenheit und Größe und verkündete schließlich leuchtenden Auges, dem Winde zugewandt, den Finger hoch erhoben und sprach: Ich hab’s! Und danke dir, lieber Geselle Wind, denn das, was Allem einen Sinn gibt, das sagst du mir schon seit dem Anbeginn der Zeit. Fff, Fff und Fff!“

Tiefste Nacht war es inzwischen geworden, mondhell zwar, denn der stand im Zenit und voll und rund und nur kleine, hauchzarte Schäfchenwölkchen schwammen dann und wann durch sein Gesicht, doch die Schlafenszeit für die meisten aller Tiere war längst heran. Erstaunt war Enno, wer alles sich um den Wohnbaum herum versammelt hatte und mit den Blicken an seinem Schnabel hing. Groß und Klein, Tag- und Nachtgetier, Räuber und Bejagte, Friedensstifter und Streitsucher waren einträchtig versammelt, um stille Ennos ausgedachter Geschichte zu lauschen, die doch eigentlich nur für seinen armen, einsamen Freund Reginald gedacht war.

Zaghaft drang eine Stimme aus dem Kobel an Ennos Ohr. „Und weiter? Wie geht die Geschichte weiter? Was waren das für Fff’s?“ fragte Reginald. Mit Genugtuung nahm Enno wahr, dass sich nun nicht nur die Kobeltür einen Spalt weit geöffnet hatte, sondern dass endlich auch die Kruste, die um Regis Herz gewachsen war, kleine Risse bekam.

Da beschied sich Enno selbst: Genug für’s erste. Für heute reicht’s. Und sagte für alle vernehmbar „Schlafenszeit. Gute Nacht und träumt recht schön. Morgen erzähle ich, wenn alle artig sind, den Rest der Geschichte.“

Ein vielstimmiges „Oooooch!“ versuchte ihn umzustimmen, „Nur noch ein kleines bisschen!“ doch er blieb konsequent „Nur noch fünf Minuten!“.

„Nein!“ blieb Enno hart „Schlaft jetzt. Und wenn ihr brav seid, geht die Geschichte morgen weiter. Gute Nacht!“

Manch einer murrte, manch anderer knurrte noch, doch trappelte, glitt, flatterte denn schließlich alles und jedes seinem Heim, seinem Erdloch oder Nest, seiner Sasse oder Suhle zu, um sich zur Ruhe zu begeben.

Einzig Reginald fand sie nicht, die Ruhe. Neugierde und Fantasie ließen ihn kein Äuglein schließen. So viele Fragen bemächtigten sich seiner. Was waren das nur für geheimnisvolle Fff’s? Waren die wirklich dem Wind abzulauschen? Konnte ein Eichhörnchen überhaupt jemals in seinem kleinen Leben hinter die Lösung eines solchen Rätsels kommen, wo doch dass ES bereits mehrere Äonen, zudem einige Zeitalter und dann noch Illionen von Dezennien dafür gebraucht hatte? Wie schade, dass es heute Nacht so windstill war! Wie gern hätte Regi dem Wind dessen Geheimnis abgelauscht!

Gedanke um Gedanke jagten einander in Regileins Köpfchen und drohten ihn ganz wirr zu machen, aber bei aller Gefahr hatten sie doch ein Gutes: Sie warfen die bösen, garstigen, hinterlistigen hinaus, die sich so in einem Kopf hatten festsetzen wollen, dass schließlich gar nichts anderes mehr hineinzupassen drohte. Sie packten die sich in dem feinmaschigen, festen Netz der Geschichte windenden und zappelnden Hirngespinste, wirbelten sie so behände herum, dass sie, plötzlich losgelassen, wie eine Sternschnuppe im fernsten Himmel auf Nimmer-Nimmerwiedersehen verschwanden. Von diesem inneren Kampf völlig entkräftet, fand Reginald erst kurz vor Anbruch des neuen Morgens einen Schlaf, der so tief und fest und kräftigend war, dass er am folgenden Tag erst gegen Abend wieder erwachte.

Als er erwachte rief er sogleich lautstark nach Enno „Enno, Ääääännoooo! Wo bist du? Äähäähäännoohoohoo! Enno, ke-ke-kek, so antworte doch!“

Wie hüpfte da das Ennoherz vor Freude! Endlich, endlich hatte Regi wieder aus der Düsternis in sich selbst herausgefunden. Diese Freude wollte Enno genießen. Ein kleines Bisschen noch verhielt er darum still in der Ferne und beobachtete voll Wonne das Geschehen. Aber er war sich klar darüber, dass Reginalds Gemüt bei weitem noch nicht wieder so fest war, wie ehedem. Deshalb ließ er ihn auch nur drei Mal noch rufen, und als ihm der dritte Ruf seines Namens, dieses „Enno???“, schon doch ein wenig zaghaft schien, setzte er sich mit einem schrillen Adlerschrei in Bewegung, direkt auf seinen lieben Freund zu, der ihn ganz aufgeregt empfing.

„Enno, Enno, Enno, wo bleibst du denn nur? Na, endlich bist du wieder da. Ke-ke-kaum schlafen konnte ich letzte Nacht, weil die Geschichte so spannend war und so mittendrin aufgehört hat. Das ke-ke-kannst du doch nicht mit mir machen, Enno, bitte, bitte erzähle sie weiter, bitte jetzt ke-ke-gleich sofort!“

„Äh, ja, Geschichte also. Wo war ich gleich stehen geblieben?“

„Na da doch, wo das ES die Lösung ke-ke-gefunden hat und dem Ke-ke-Gesellen Wind gesagt hat, dass sein Fff, Fff, Fff schon seit dem Anbeginn der Zeit die Lösung in sich trug.“

„Ach so, nun gut, dann lass es uns uns gemütlich machen“ entgegnete Enno, plusterte sich auf und ließ Reginald sich in sein Federkleid hineinkuscheln. Mit lauter Stimme rief er in den Wald hinein „Fff, Fff und Fff! Es geht weiter! Wer hören will, der höre!“

Urplötzlich war die Luft von Flirren und Flattern erfüllt, am Boden wurde emsiges Getrappel laut, trockenes Geäst knackte und Blätter raschelten im Gesträuch. Und so plötzlich, wie die Geräusche begonnen hatten, so rasch wurde es wieder still. Nur ein seichter Wind strich durch die Zweige, ließ dann und wann sein Fff, Fff, Fff hören und alle Ohren im Walde lauschten gespannt, wie die Geschichte weitergehen und wie sie schließlich enden würde.

Da hub Enno an „Da setzte sich das ES dann nieder und ergriff die verschiedensten Materialien aus dem Nichts und schuf die Welt, den Wald und alle Wesen. Alles schuf es, was wir kennen und vieles mehr, was uns unbekannt ist und verflocht es auf das Feinste miteinander. Jedes bekam seinen Platz im Gefüge des Ganzen, jedes eine Wurzel, dass es wusste, woher es kam, und Sprossen, die es streben ließen, der Sonne und der Zukunft entgegen. Und Gefährten an seine Seite bekam ein jedes, die es von der Wurzel bis zum Spross geleiteten und ihrerseits gleich ihm in Wurzeln gründeten und mit ihren eigenen Sprossen strebten.

Keine Ästelung eines noch so filigranen Baumes, kein noch so spinnefein gewebtes Spinnennetz, kein noch so seidenfeines Kokon, nicht die zarteste Äderung eines Ahornblattes kann offenbaren, wie fein das Gespinst des Lebens vom ES gewebt worden ist. Immer nur murmelte es leise vor sich hin ‚Hier fehlt noch ein Fff, dort gehört ein Fff noch hin, hier ist noch ein Fff vonnöten’ und so strickte, webte, klöppelte, flocht, spann und häkelte es und so murmelt es noch immer vor sich hin und so strickt und webt, klöppelt und flicht, spinnt und häkelt es noch heute. Und auch morgen noch. Und bis in alle Zukunft. Und wenn der Wind am ES vorbei streicht, dann nimmt er ein ums andere Fff von seinen Lippen mit und trägt es bis zu uns, damit wir es hören und immer daran denken.

Und nur diesen geheimnisvollen Fff’s verdanken wir, nur sie geben uns, dass wir sind, was wir sind.

Dass wir unseren Platz in unserem Leben finden, die Rolle in der Gemeinschaft, dass Keines von uns fehlen darf in diesem kunstvollen Gespinst, denn dann wäre das Jetzt nicht das Jetzt und das Ist nicht das Ist und das Hier nicht das Hier.

Diese drei Fff’s, das sind die drei Geheimnisse unseres Lebens. Und wer diese Geheimnisse kennt, der erkennt den Sinn im Ganzen und kann sich an seinem eigenen sinnvollen Sein erfreuen.“

Hier endete Ennos Geschichte und Stille senkte sich über den Wald. Vor gespannter Erwartung hingen aller Blicke an Ennos mondbeschienenem quittengelben Schnabel, dachten sie doch, dass nun die Erklärung der drei Geheimnisse käme. So warteten sie und warteten und der Mond und die Sterne rückten weiter und weiter im Gezweig. Doch Enno schien eingeschlafen zu sein. Niemand, so verzagt sie auch waren, wagte es ihn zu wecken. Und einer um den anderen senkte seinen Blick, weil es ihm nicht vergönnt war, die Geheimnisse der drei Fff’s zu ergründen, wandte sich ab und wandte sich heim, reicher um eine schöne Geschichte und wegen der Unkenntnis um diese drei neuen, so bedeutenden Geheimnisse um so vieles ärmer.

Noch bevor der erste jedoch seine Heimstatt erreicht hatte, frischte der Wind auf und ließ ein gewaltiges Fff durch die Bäume des Waldes fauchen, zu dem Enno mit gewaltiger Stimme intonierte „Fff-Familienbande“. Ein zweites Fff durchfuhr Busch und Tann. „Fff-Freundschaften“ sandte Enno ihm volltönend hinterher. Und ein drittes und letztes Mal erhob sich machtvoll der Wind in dieser Nacht, bevor er sich zur Ruhe begab, mit einem dritten Fff und Enno setzte ihm mit ebenbürtiger Stimme „Fff-Vorbilder“ hintan.

Regi, eingekuschelt in Ennos Federflaum, ließ die Geschichte mit dem geheimnisvollen Ende auf sich einwirken, sank aber unter der Macht der drei Fff-Worte in einen tiefen, traumlosen Schlummer, in dem ihn sein mächtiger, weiser Freund liebevoll umhütete, indem er sich ganz stille verhielt und kein kleinstes Bisschen muckste.

Ganz leise erzählte Enno weiter. Was folgte, galt nur seinem schlafenden Freund, aber er wusste, dass alle Sinne des Schlafenden durch die vorangegangene Erzählung so geschärft waren, dass er alles in sich aufnehmen und verinnerlichen würde.

„Weißt du, Regi, es gab Zeiten der Not, in denen ich glücklich war, eine Familie zu haben. Es gab Zeiten des Trübsals, aus dem mir Freunde heraushalfen und Zeiten der Hoffnungslosigkeit, in denen ich ohne Vorbilder verzagt wäre.

Die Familie ist dir, was dem Baum seine Wurzel ist. Unentrinnbar bist du ihr verbunden. Sie zeigt dir deine Herkunft, sie gibt dir Halt, Geborgenheit und Fürsorge. Sie verlangt aber auch vieles von dir: Verantwortung, Treue, Unterordnung, Gehorsam. Egoismus ist in der Familie fehl am Platze. Nie darfst du sie verleugnen, immer musst du zu ihr stehen. Wenn du fest mit ihr verbunden bist, wirst du Trost finden in tiefster Verzweiflung, eine Stütze wenn du schwach wirst, Hilfe in jeder Not. Die Familie wird dir immer das Nest aus deinen Kindertagen bleiben.

Freunde, Reginald, wenn du ein Vogel wärest, ich würde sagen, Freunde sind Flügel. Da weiß ich, wovon ich spreche. Flügel sind die Freunde, die dich aus dem Nest forttragen. Freunde helfen dir, ohne deine Familie zurecht zu kommen. Sie können dir die Familie aber nie ersetzen. Sie werden dir helfen, selbstständig zu werden, werden dir helfen, dich selbst auszuloten und dich zurechtweisen, wenn das Lot allzu tief zu versinken droht. Sie werden dich gerade dort unterstützen, wo dich allzu große Fürsorge einer Familie in deiner Entwicklung hemmte. Sie teilen deine kleinen Geheimnisse, von denen die Familie nicht unbedingt wissen muss. Nicht zuletzt werden gute Freunde dir aber immer helfen, wie eigene Flügel, in dein Nest zurück zu finden, zu deiner Familie. Und sie werden dich dein Leben lang begleiten.

Und Vorbilder. Man nennt sie auch Ideale. Einmal warst du ein klitzekleines Hörnchen. Heute bist du ein Eichhorn. Ausgewachsen, ein Männchen, wie es in manchen Bilderbüchern steht. Nun gut, im Moment bist du etwas verwahrlost, hast dich gehen und hängen lassen. Aber denke noch zurück an jenen wunderschönen Frühlingstag, als ich dich mit dem kleinen Eichhörnchenmädchen auf der Suche nach ihrem Heimatkobel durch die Lüfte getragen habe. Was warst du da ein Bild von einem Hörnchen! Mit seidigem Fell, buschigem Schwanz und blitzblank-weißem Kullerbäuchlein. So wärst du ein Vorbild für dich selbst! Ein Vorbild ist ein Ideal, ein Ziel nach dem du strebst. Ohne solch ein Ziel würdest du verharren, dich nicht weiter entwickeln und schließlich verwahrlosen. Hättest du nie eines gehabt, du wärest noch immer ein hilfloses Hörnchen. Vielleicht gar verhungert. Oder hat nicht deine Mutter auch dich gefüttert mit den Worten ‚Mach auf, dein Schnäbelein, und iss, damit du groß und stark wirst, wie dein Papa’? Meine hat das getan.“

In Ennos Bauch regte sich etwas. Er blickte hinab und große Knopfäuglein blickten aus seinen Federn hervor. Er lächelte hinab. „Nun Regi, geht’s dir etwas besser?“

Ein leises Lächeln zeigte sich auf den blinzelnden Knöpfen und Reginald erwiderte „Ach Enno, du bist meine Freunde und meine Vorbilder!“ Das Lächeln schwand. „Aber eine Familie habe ich nun nicht mehr. Ich habe den Weg vergessen, woher ich ge-ke-ke-kommen bin und würde ihn wohl niemals wieder finden!“

Gerade noch rechtzeitig, bevor sich eine Träne aus seinem Auge quetschen konnte, drückte Enno ihn an sich und sagte „Familie kann so vieles sein. Ein Bild in deinem Herzen. Oder auf deinem Nachttisch. Eine liebe Erinnerung, wie zum Beispiel der Spruch mit den beiden Schlüsselchen Bitte und Danke, den dir deine Mutter auf den Weg gegeben und ins Herz gepflanzt hat. Eine in den Fels geritzte Spur kann Familie sein. Ein Ritual. Ein Blick über die Baumwipfelspitzen hinweg in die aufgehende Sonne.“ In diesem Moment stemmte sich der Sonnenball über den Horizont und zauberte rosiges Leuchten und seliges Lächeln auf die Gesichter von Reginald und Enno. „Ein lieber Ort, der einstmals von Glück und gemeinsamem Lachen erfüllt war, und an den du immer wieder gern zurückkehrst. Oder ein Baum, den ein Ahn einst für die Zukunft pflanzte. Selbst ein kühles Grab, dem du dich zuwendest um zu gedenken. Das alles kann Familie sein, wenn es dein Herz erreicht.“

„Ach Enno, was bin ich froh, dass ich dich hab! Ke-ke-keinen besseren besten Freund ke-ke-könnte ich mir wünschen!“

„Oh, Regi, das ehrt mich. Aber sieh dich nur um! Überall hast du Freunde und überall kannst du neue Freunde gewinnen. Und das sollst du auch. Je mehr Freunde du hast, desto besser. Aber mein bester Freund, das bist auch du!“

„Aber Enno, eins verstehe ich noch nicht: Wofür braucht denn jemand ein Vorbild? Ich meine, warum soll denn einer so sein wollen, wie ein Anderer? Ich meine, der Andere ist doch schon da, und wenn man dann selbst auch noch so wird, dann gibt es ja gleich zwei Andere. Also, weißt du was ich meine? Andere gibt es doch schon genug. Nur mich selbst gibt es nur einmal, alle Anderen sind Andere. Und wenn ich denn dann auch noch ein Anderer wäre, gäbe es ja nur noch Andere, und mich gar nicht mehr! Also, wofür ist denn dann ein Vorbild gut?“

„Nun, du hast Recht. Ganz einfach zu verstehen ist das nicht. Wenn nämlich jemand ganz genau in Allem so sein wollte, wie sein Ideal, nicht besser und nicht schlechter, genau so eben, dann wäre er zum Schluss nur eine Kopie.

In den meisten Fällen sind es aber einige ganz besonders herausragende Eigenschaften, die ein Vorbild zu einem Ideal machen. Und nicht zuletzt ist es auch wichtig, bei der Wahl seines Vorbildes realistisch zu sein. Wenn du dir zum Beispiel vom Uhu die Weisheit wünschst, ist das ein – vielleicht – erreichbares Ziel. Wünschtest du dir allerdings seinen krummen Schnabel, dürfte das kein Ideal mehr sein, sondern ein Idol. So nennt man unerreichbare Ziele.“

Und so verging der liebe, lange Tag und so war wieder einmal Abend und schließlich Nacht geworden. Heute fiel es Reginald gar nicht schwer, sich von seinem Freund zu trennen, als der sagte, es wäre an der Zeit, in Horst und Kobel zu steigen, morgen sei ja immerhin auch noch ein Tag.

Früh am nächsten Morgen, Nebelschwaden hingen noch im Wald, senkten sich aber bereits, um den Pflanzen feuchten Tau zu spenden und einem schönen Sonnentag Platz zu machen, keckerte Reginald schon ganz aufgeregt auf Ennos Horstrand herum und lief Runde um Runde und rief „Aufstehen Enno, du weißt doch: Morgenstunde hat doch Ke-ke-Gold im Munde. Los, ke-ke-komm, wir wollen alle unsere Freunde besuchen“.

Verschlafen rieb sich Enno den Schlaf aus den Augen. „Auch dass noch. Was hab ich mir da nur elendiges eingebrockt“ sagte er scheinbar vergnatzt mit knarzender Stimme und knurrendem Magen. „Wie hab ich doch schön und lange an jedem Morgen in den letzten Mondvierteln ohne diesen nervigen Vogel, äh, nee, Säuger, oder Nager besser gesagt, ausschlafen können.“ Innerlich grinsend dachte er jedoch bei sich, wie gern er darauf verzichtet hätte und für immer darauf verzichten würde, wenn es seinem lieben Freund nur immer so gut gehen möge und er an jedem Morgen so aufgeregt und fröhlich keckerte, wie gerade jetzt. Indessen rappelte er sich auf und stiebte sein zu diesem Zweck weit abgesträubtes Gefieder, dass es nur so staubte, räkelte sich noch einmal so richtig ergiebig, indem er seine Schwingen drei Mal kräftig durchschwingen ließ und sagte dann „Los, Kleiner, aufsitzen. Ab durch die Lüfte!“. Das ließ Regi sich nicht zweimal sagen, sprang „Juhuuu“ dem Ader ins Genick, raufte sich ein Federbüschel zusammen, an dem er sich festhielt, murmelte so etwas wie „Ready for take off“ und ab ging es. Mit seinen gewaltigen Schwingenschlägen hatte Enno im Nu an Höhe gewonnen, und der Wald breitete sich unter ihnen aus. Sie kreisten so segelnd einige Runden über den Wald und um ihn herum, dass sie ihn in aller seiner Schönheit in sich aufnehmen konnten. „Sieh dich nur um, Reginald Eichhorn, hier ist dein Platz, hier ist alles, was du brauchst und hier sind auch alle, die dich brauchen. So wie ich“.

Sie sahen den Wohnbaum, der alle anderen Bäume überragte, die Lichtung, wo so gern die Rehe ästen, die Wildschweinsuhle und den Weiher mit der Biberburg. Sie sahen Tannen, Fichten, Kiefern und Lärchen, sie sahen Eichen, Birken und Buchen, Ahorne, Erlen und Eschen und Ulmen, sie sahen Hagebutten, Schlehen, Haseln, Rotdorn und Holunder. „Ach“ seufzte Reginald „dass ich mir das so lange habe entgehen lassen.“ und gemeinsam freuten sie sich, dass die schwere Zeit nun endlich vorbei war.

Langsam ließ Enno sich zum Weiher hinab gleiten, an die Tränke, wo schon einige Tiere versammelt waren, die allesamt Reginald freudig begrüßten und keine Zweifel daran ließen, wie wichtig ihnen ihr kleiner Freund war. Nachdem sie ausgiebig getrunken hatten, legte sich Regi rücklings ins Gras, knabberte genüsslich an einer Eichel, von denen er sich einen kleinen Vorrat aus einem seiner Verstecke ausgegraben und neben sich gelegt hatte, und Enno drückte sich eine gemütliche Kuhle ins Gras.

„Du, Enno, ke-ke-kann ich dich mal was fragen? Was wegen der Geschichte? Wegen dem ES?“

„Nur zu, Regi, frag nur immer zu. Wenn ich dir antworten kann, will ich das gern tun.“

„Ja, also, das ES, gibt es das wirklich?“

„Nun, du weißt doch sicher, dass es Dinge gibt, die gibt es einfach. Obwohl wir sie nicht sehen.“

„Ja? Und was soll da sein?“

„Grab mal hier ein Loch.“

„Wozu denn das?“

„Wirst du schon sehen“ erwiderte Enno „grab nur zu.“

Regi erhob sich und begann mit seinen Vorderpfoten ein Loch zu graben. „Halt an“ rief Enno „guck mal in dein Loch. Hast du das schon mal gesehen?“

„Natürlich nicht. Ist doch ke-ke-klar. Habe ich doch eben erst gerade aufgegraben!“

„Siehst du. Aber was du da freigegraben hast, war schon vorher da. Grab weiter.“

Regi grub weiter bis Enno erneut rief „Halt an“.

„Ja, ja, schon ke-ke-klar, das habe ich auch noch nicht gesehen. Meinst du vielleicht, ich sollte das ES hier ausgraben?“

„Nun, das gerade nicht, aber was denkst du, wie lange, wie tief kannst du hier graben?“

„Ganz schön tief ke-ke-kann ich graben!“

„Und dann? Noch tiefer?“

„Na ke-ke-klar kann ich noch tiefer!“

„Und dann? Oder ist irgendwann Schluss?

„Naja“ Reginald kratzte sich am Kopf. „Sicher, irgendwann ke-ke-kann ich dann nicht mehr tiefer. Weil ich ja auch irgendwohin muss mit dem Abraum.“

„Und was meinst du, ist dann nichts mehr da drunter?“

„Na ke-ke-klar ist dann auch noch was darunter!“

„Also Dinge, die wir nicht zu erkennen vermögen? Dinge, die da sind, zu denen wir aber nicht vordringen können, weil wir die Möglichkeit dazu nicht haben? Entweder weil wir nicht tief genug graben können? Oder weil uns die Sinne dazu fehlen?“

„So meinst du das! Ja, ke-ke-klar. Sowas gibt es.“

„Und so ist das auch mit dem ES. Es ist uns einfach nicht gegeben, das ES zu erkennen. Wir können nicht wissen, was es ist, weil uns die Sinne dazu fehlen, weil wir nicht zu ihm vordringen können. Aber irgendeine ordnende Hand muss es doch geben, die unsere schöne Welt, den schönen Wald und all die rätselhaften Wesen geschaffen hat. Und geben muss es diese Hand auch heute noch, die das Geflecht des Lebens weiterhin strickt und webt, klöppelt und flichtt, spinnt und häkelt. Irgendetwas, was dafür sorgt, dass alles ist, wie es ist. Manche nennen es Zufall. Andere nennen es Schöpfung, Schicksal, Karma. Oder Gott.“

Eine lange Pause trat ein. Enno beobachtete seinen Freund, und schon bald wurde ihm klar, dass dieses, junge, kleine Wesen das Wesen eines übergeordneten Wirkens nicht erfassen, nicht begreifen konnte. Woher denn auch. Wer konnte das schon?

Aber Regis Gedanken blieben nicht verzweifelt bei diesem Gott, Zufall oder ES hängen. Zu vieles beschäftigte ihn, so dass er Enno schließlich fragte „Und sag mal, Enno, hattest du auch ein Vorbild? Ich meine, du bist doch der größte und stärkste im ganzen Wald, alle haben Respekt vor dir, achten und ehren dich und außerdem bist du auch noch so klug und weise. Bist du so geworden, weil du ein Vorbild hattest?“

Enno versank in seiner Erinnerung, aber nur für einen Moment, und begann dann mit verklärtem Blick zu schwärmen. „Ach ja, mein erstes Vorbild, das war mein Vater. Was war der groß und stark und mächtig! Und sein Federkleid war prächtig! Sobald er in Sichtweite kam, verstummte der Wald. Wenn er seinen Adlerschrei ertönen ließ, suchten alle Feinde das Weite. Ja, auch Adlerhorste haben Feinde, wenn sie unbewacht sind. Aber nie, nicht ein einziges Mal hat sich einer der Nesträuber in die Nähe unseres Horstes gewagt. Wenn er auf das Nest zugeflogen kam, verdunkelte sich der Himmel, finster wurde alles weit und breit und ein Brausen hub an! Alles starrte vor Ehrfurcht und vor seiner Macht und Stärke! Ach ja, was war er groß!“

„Enenenenno, ke-ke-kek, nu halt aber mal an. Bleib mal auf dem Moosteppich! So maßlos übertreiben musst du wirklich nicht. Viel ke-ke-größer als du ke-ke-kann er ja nun wirklich nicht gewesen sein!“ holte Reginald seinen großen Freund in die Wirklichkeit zurück.

„Tja, je nun, hast ja Recht, aber bei den meisten ist es doch wohl irgendwie so, dass die Eltern die ersten und wichtigsten Vorbilder sind. Und, nun ja, ich war eben damals noch klein und zart und schutzbedürftig. Ein Küken eben.“

„Ein Ke-ke-Küken, ich ke-ke-kek lach’ mich ke-ke-kaputt“ kugelte sich Reginald.

„Lach nicht! Was denkst denn du, wo ich herkomme? Oder hast du schon mal ein Ei gesehen, das groß genug für mich wäre? Na, nichts für ungut. Woher solltest du das auch besser wissen. Ja, und später hatte ich dann auch andere Vorbilder. Andere Adler, andere Vögel, zum Beispiel den Storch und die Eule, auch andere Waldtiere wie Fuchs, Biber und Ameise...“

„Ja, aber Enno, du ke-ke-kannst doch nicht so viele auf einmal werden wollen. Das ke-ke-geht doch schon praktisch nicht. Eine Ameise mit deinem Schnabel würde ja schließlich nicht nur irgendwie ke-ke-komisch aussehen, sondern höchstwahrscheinlich den großen Schnabel gar nicht tragen können.“

„Nein, Regi, so ist das auch gar nicht gemeint. Wie ich schon sagte, geht es bei Vorbildern nicht darum, etwas zu kopieren, sondern bestimmten herausragenden Eigenschaften nachzueifern. So war zum Beispiel ein Onkel von mir der beste Jäger weit und breit! Der elegante Segelflug der Störche ist mir Vorbild, die Weisheit der Eule, die unverdrossene Emsigkeit der Ameisen, der Fleiß der Biber, die List der Füchse und vieles, vieles mehr.“

„Wie ke-ke-kann denn so vieles Vorbild sein?“

„Nun Regi, nimm nur die Eichhörnchen: Sie können klettern, springen, Kobel bauen, Vorräte anlegen und, und, und. Ein Floh kann bestimmt hundert Mal so weit springen, wie sein Körper lang ist. Wäre das nicht ein Vorbild für dich? Und die fest gewebten Nester der Webervögel sind bestimmt ein gutes Vorbild für den Kobelbau. Das wären Eigenschaften, denen du nacheifern könntest – auch wenn du sie vielleicht nicht erreichen wirst, dieses Nacheifern wird deine Fertigkeiten auf jeden Fall verbessern. Andere Eichhörnchen suchen sich vielleicht andere Vorbilder und werden damit andere ihrer Eigenschaften verbessern. Und daran kannst du ganz leicht erkennen, dass Vorbilder nicht zu Uniformität führen, sondern zu einer größeren Vielfalt in der Natur. Auf diese Weise wird jedes Wesen wirklich einzigartig.“

„Also gut, das verstehe ich. Ich kann also mehrere Vorbilder gleichzeitig haben. Aber auch nacheinander?“

„Ja, natürlich auch das. Wenn du eine erstrebte Eigenschaft erreicht hast, wenn andere, neue erstrebenswerte Eigenschaften dir wichtig werden, kannst du auch deine Vorbilder austauschen oder neue wählen. So ist es mir im letzten Jahr geschehen, als du hier eingezogen bist. Seitdem bist nämlich auch du mein Vorbild!“

„Ich? Ke-ke-kek, ich, dein Vorbild? Enno, jetzt machst du dich wohl über mich lustig. Wie ke-ke-kann denn ich dein Vorbild sein?“

„Durch deine unbesorgte Lebensfreude.“

„Och, da habe ich dich wohl in der letzten Zeit enttäuscht! Will ich auch nicht wieder tun! Versprochen! Aber kann es auch sein, dass jemand irgendwann gar ke-ke-kein Vorbild mehr hat?“

„Das kann schon sein, Regi. Erinnere dich, hast du nicht auch ziellos vor dich hinvegetiert? Wer sich treiben lässt, hat meist keine Vorbilder. Oder, wer alles erreicht hat. Wenn du alles erreicht hast. Dann, Reginald, dann bist du angekommen.“ Enno war bewusst, dass Reginald auch dies nicht verarbeiten konnte. Aber: Musste er wirklich alles wissen und alles verstehen? War er nicht um vieles besser dran, wenn auch für ihn einiges im Verborgenen blieb...

„Und, Enno, wenn man sich wünscht, was nicht erfüllbar ist? Wie hast du das ke-ke-genannt? Idol? War denn vielleicht meine Vorstellung von der Welt so ein Idol? Wo alle immer nur glücklich sind?“

Lange Zeit sagte Enno nichts. Nach Regis Vorstellung war das Leben ein einziges Schenken und Beschenkt-Werden gewesen, wo alles und jedes mit einem einfachen Bitteschön oder Dankeschön abgegolten war. Er hatte auf diese einfache Frage keine Antwort parat – weil er sie sich nie gestellt hatte.

Was ist das eigentlich, Dankbarkeit? Wo hat sie ihren Ursprung, und welchen Sinn hat sie?

Enno, mit seinem sicheren Platz am oberen Ende der Nahrungskette, hatte sich immer selbst bedient, wenn er es für richtig hielt und dafür keiner Hilfe bedurft. Nie hatte er freiwillig etwas abgegeben, und wenn Füchse, Dachse, Fischadler oder andere Beuteräuber sich an seinem Fang bedient hatten, nie hatte er ein „Dankesehr“ von denen erwartet. Eher noch hatten sie um sich geschlagen, gekratzt, gebissen, am liebsten ihren Wirt gewürgt. Und anders, wenn er die Reste seiner Beute freiwillig den Möwen und Krähen hinterlassen hatte, dann keineswegs mit einem „Bitteschön“ und auch nicht, weil er eines Dankes bedurft hätte, sondern einfach nur, weil er bereits genug für sich selbst hatte und gesättigt war. War er deswegen undankbar? Alles hatte er seiner eigenen Kraft und Geschicklichkeit zu verdanken. Was also hatte Dankbarkeit für einen Wert?

Doch halt. Ja, es hatte da einmal eine Zeit gegeben, in der er völlig hilflos gewesen war. Seine Eltern hatten ihn versorgt und dunkel konnte er sich erinnern, dass es immer die besten Bissen gewesen waren, mit denen sie ihn verwöhnt hatten. Und er hatte Unmengen davon verschlungen. Aus der Rückschau war ihm bewusst, dass sie manches Mal seinetwegen gedarbt, trotzdem aber glücklich gelächelt hatten, während er Filet um Filet in sich hineinstopfte. Der heiße Sommer, in dem er aufgewachsen war, war nicht gerade fruchtbar gewesen. Ein großes Fischsterben hatte die Seeadler ihrer Beute beraubt, und nicht wenige Familien ihrer Bekanntschaft hatten ihre Nachkommenschaft aufgeben müssen. Da hätte er eigentlich Dankbarkeit empfinden müssen. Hatte er aber nicht.

Was ließ Wesen solches Verhalten annehmen, dass sie ihr eigenes Wohlergehen in den Hintergrund rückten? In der Natur stand stets das eigene Überleben im Vordergrund. Wer sich nicht um sich selbst kümmerte, musste zwangsläufig vergehen.

Nun, in diesem Fall hatten sich seine Eltern um ihr Junges gesorgt. Ja, das konnte er sehr gut verstehen, dass die Liebe zwischen seinen Eltern auf die daraus entstandene Frucht übergesprungen war. Insofern war die Zuneigung, die er erfahren hatte, so ganz selbstlos doch nicht gewesen. Bei einem fremden Adlerjungen hätten seine Ernährer wohl anders gehandelt und ihr eigenes Überleben vorgezogen. Erwuchs also diese Selbstlosigkeit aus Zuneigung, aus Liebe? Mochte sein. Aber: Die forderte keine Dankbarkeit.

Wenn er an den so lebensfrohen Reginald mit seinen Bitteschön-Dankeschön-Spielchen dachte, musste noch etwas anderes dahinter stecken. Irgendwie erfreute es ihn einfach, diesem kleinen Fellbündel zuzusehen, wie er so hooophoophophophop hoppelte, an einem Kienapfel knusperte, mit den anderen Tieren schwatzte oder sich zu verstecken suchte.

Und das war es wohl:

Dass er einfach etwas Schönes erleben durfte, ohne dass es für seine Existenz unbedingt erforderlich war. Dass ihn irgendetwas Freude empfinden ließ, was über seine gewöhnlichen Bedürfnisse und Instinkte hinausging. Dass jemand da war, der ihm diese Freude von sich aus und ohne Gegenleistung bereiten wollte.

„Äh, ja, also, hämtäm, Regi. Deine Vorstellungen von der Welt sind sehr schön, und ich glaube, wenn das ES oder Was-Auch-Immer nur eine, eine einzige, eine winzig kleine Möglichkeit gesehen hätte, die Welt so zu gestalten, dann hätte es das auch genau so getan. Aber die gab es anscheinend nicht. Insofern war es ein Idol, ja. Dafür, für diese von dir ausgedachte Welt, gibt es übrigens auch ein Wort: Das Paradies.

Stattdessen ist das Leben ein ständiges Geben und Nehmen, und das zumeist gegen den Willen des Gebenden. Wenn du eine Nuss aufknabberst, verwehrst du ihr damit, zu einer Pflanze zu werden. Sie wird dafür wohl kaum dankbar sein. Meinem Futter, den Fischen, geht es da nicht anders. Das ES hat in seinem Lebensgeflecht aber allem seinen Platz gegeben. Und dadurch, dass die Nuss aufhört zu existieren, lebst du weiter und kannst im Geflecht des Lebens weiter wirksam werden. Und so hat alles seinen Sinn. Auch, wenn der sich uns mitunter nicht einfach erschließt.“ Und weiter dachte Enno, wie schade, dass diese Frage so oft in uns bohrt und sich der Sinn uns genau so oft in nichts erschließt.

Reginald dachte dagegen, wozu soll sich so etwas Unsicht-, Ungreif-, Unbegreif-, Unfassbares wie dieser Sinn erschließen? Und sagte „Das Leben ist doch so schon schön genug! Nur umsehen musst du dich, die Augen aufmachen und das Herz und die Seele! Enno, und wenn du dann die drei Fff’s noch hast?


Kann es was Schöneres geben?“


Und sooft der Wind rauschte und

– Fff, Fff, Fff –

ihre Köpfe umbrauste,

glaubten sie, dass sie wüssten,

worin der Sinn von Allem lag.

Reginald

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