Читать книгу Meditation ist nicht, was Sie denken - Jon Kabat-Zinn - Страница 8
ОглавлениеEinführung
Die Herausforderung eines Lebens – und eine lebenslange Herausforderung
Vielleicht ist es so,
dass wir dann zu unserer wahren Arbeit gelangt sind,
wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen,
und dass wir dann unsere wirkliche Reise angetreten haben,
wenn wir nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen.
WENDELL BERRY
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber meinem Eindruck nach sind wir auf diesem Planeten an einem kritischen Punkt angelangt. Von hier aus könnte sich unser aller Leben in ganz unterschiedliche Richtungen entwickeln. Die Welt scheint in Flammen zu stehen, und es sieht ganz danach aus, als hätten auch unsere Herzen Feuer gefangen – sie sind vielfach entflammt von Furcht und Ungewissheit, sie kennen häufig keine Überzeugungen mehr, und oft sind sie von einer leidenschaftlichen, aber unklugen Intensität erfüllt. Wie wir an diesem kritischen Punkt auf uns selbst und die Welt blicken, wird für unsere weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung sein. Was uns als Individuen und als Gesellschaft in der Zukunft widerfahren wird, hängt in beträchtlichem Ausmaß davon ab, ob und wie wir die uns von Natur aus innewohnende Gabe des Gewahrseins in diesem Augenblick nutzen. Es wird entscheidend darauf ankommen, was wir tun, um das Unbehagen, die Unzufriedenheit und das deutliche Unwohlsein, die unser Leben und unser Zeitalter durchdringen, zu heilen und gleichzeitig alles in uns und in der Welt zu nähren und zu beschützen, was gut, schön und gesund ist.
Die Herausforderung besteht meiner Ansicht nach darin, zur Besinnung zu kommen, als Individuen und auch als Spezies insgesamt. Man kann wohl sagen, dass es weltweit eine beträchtliche Bewegung in diese Richtung gibt, bestehend aus bislang nur wenig beachteten und noch weniger verstandenen kleinen Strömen und Flüssen menschlicher Kreativität, Güte und Fürsorge, die zu einem stetig wachsenden Strom der Wachheit, des Mitgefühls und der Weisheit zusammenfließen, selbst angesichts der vielen Herausforderungen in der Welt. Aber wohin dieses Abenteuer uns als Spezies und als Individuen führen wird, ist noch völlig ungewiss, selbst von einem auf den nächsten Tag. Die Endstation dieser kollektiven Reise, der wir uns nicht verweigern können, ist weder festgelegt noch vorherbestimmt. Es gibt kein Ziel, nur die Reise selbst. Das, was wir jetzt erleben, und wie wir diesen Augenblick verstehen und damit umgehen, prägt das, was im nächsten Augenblick auftaucht, und im übernächsten, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht festgelegt ist, die letztlich unbestimmbar und geheimnisvoll bleibt.
Doch eines ist sicher: Wir alle befinden uns auf dieser Reise, ein jeder auf diesem Planeten, ob es uns nun gefällt oder nicht, ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht, ob die Reise nach Plan verläuft oder nicht. Es geht dabei um nichts weniger als unser Leben, und die Herausforderung besteht darin, es so zu führen, als käme es wirklich darauf an. Wir haben in dieser Hinsicht immer eine Wahl. Wir können uns entweder von Kräften und Gewohnheiten mitreißen lassen, die zu hinterfragen wir uns beharrlich weigern und die uns in verstörenden Träumen und potenziellen Albträumen gefangen halten, oder wir können unser Leben in die Hand nehmen, indem wir darin erwachen und es aktiv mitgestalten, unabhängig davon, ob uns das, was gerade geschieht, gefällt oder nicht. Nur wenn wir aufwachen, wird unser Leben real, und nur dann haben wir eine Chance, uns von unseren individuellen und kollektiven Verblendungen, Krankheiten und Nöten zu befreien.
Vor vielen Jahren fragte mich ein Meditationslehrer während eines zehntägigen, fast vollständig in Stille stattfindenden Meditationsretreats zu Beginn einer Einzelunterweisung einmal: „Wie behandelt die Welt dich denn so?“ Ich murmelte etwas wie, es sei „schon ganz in Ordnung“. Dann fragte er mich: „Und wie behandelst du die Welt?“
Ich war ziemlich verblüfft. Dies war die letzte Frage, mit der ich gerechnet hätte. Es war offensichtlich, dass sie nicht in einem allgemeinen Sinn gemeint war. Schließlich war das hier nicht bloß eine nette Plauderei. Der Lehrer wollte wissen, wie ich genau hier, während des Retreats, an diesem Tag und in Angelegenheiten, die mir damals vielleicht banal oder gar trivial vorkamen, mit „der Welt“ umging. Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde mich während des Retreats mehr oder weniger aus der „Welt“ ausklinken. Diese Bemerkung machte mir jedoch klar, dass es nicht möglich ist, sich aus der Welt auszuklinken, und dass die Art und Weise, wie ich in jedem einzelnen Augenblick mit ihr umging, selbst in jener künstlich vereinfachten Umgebung, wichtig, ja sogar wesentlich war für das, weswegen ich letztlich da war. In diesem Augenblick verstand ich, dass ich noch viel darüber herauszufinden hatte, warum ich überhaupt hier war, also worum es bei der Meditation ging und, alldem zugrunde liegend, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte.
Im Laufe der Jahre erkannte ich dann allmählich das Offensichtliche, nämlich dass diese beiden Fragen lediglich zwei Seiten einer Medaille sind. Schließlich stehen wir in jedem Augenblick in einer intensiven Beziehung zur Welt. Diese Beziehung, in der wir geben und nehmen, bestimmt und definiert unser Leben sowie auch eben diese Welt, in der wir uns befinden und in der sich unsere Erfahrungen entfalten. Allerdings betrachten wir diese beiden Aspekte – wie die Welt uns behandelt und wie wir sie behandeln – meist als voneinander unabhängig. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie leicht wir von der Vorstellung eingenommen werden, wir seien Akteure auf einer ansonsten leblosen Bühne, so als sei die Welt nur „dort draußen“ und nicht genauso „hier drinnen“? Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir uns oft so verhalten, als gäbe es eine eindeutige Trennung zwischen „da draußen“ und „hier drinnen“, auch wenn unsere Erfahrung uns sagt, dass da nur eine ganz dünne Membran sein kann, im Grunde also keine wirkliche Trennung? Selbst wenn wir uns der engen Beziehung zwischen innen und außen bewusst sind, kann es sein, dass wir nur wenig Gespür dafür haben, auf welche Weise unser Leben die Welt und wie die Welt wiederum unser Leben in einem symbiotischen Tanz der Gegenseitigkeit und Interdependenz beeinflusst und gestaltet. Das reicht von der intimen Beziehung zu unserem Körper und unserem Geist bis hin zu den Beziehungen zu unseren Familienmitgliedern, von unseren Kaufgewohnheiten über das, was wir von den Fernsehnachrichten halten, bis hin zu der Art und Weise, wie wir uns im größeren Kontext der politischen Welt verhalten.
Dieser Mangel an Gespür wird dann besonders beschwerlich, ja sogar zerstörerisch, wenn wir versuchen, die Dinge so hinzubiegen, wie wir sie gern hätten. Dabei kümmert es uns nicht, dass ein solches Verhalten, mit dem wir ihren natürlichen Rhythmus unterbrechen, etwas Gewalttätiges hat, so subtil es auch sein mag. Früher oder später leugnet ein solches Erzwingen die wechselseitige Abhängigkeit, die Schönheit des Gebens und Nehmens und die Komplexität des Tanzes selbst. Am Ende treten wir damit gewollt oder ungewollt vielen Menschen auf die Zehen. Wenn wir derart unsensibel geworden sind und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben, isoliert uns das von unseren eigenen Möglichkeiten. Wenn wir uns weigern anzuerkennen, wie die Dinge tatsächlich sind, und versuchen – aus Angst, dass unsere Bedürfnisse sonst nicht befriedigt werden –, eine Situation oder eine Beziehung gewaltsam so zu manipulieren, wie wir sie haben wollen, dann vergessen wir dabei, dass wir gewöhnlich ohnehin kaum wissen, was wir wirklich wollen. Wir glauben nur, es zu wissen. Und wir vergessen, dass dieser Tanz von einer außerordentlichen Komplexität und zugleich Einfachheit ist und Neues, Interessantes geschieht, wenn wir nicht vor unseren Ängsten kapitulieren und, statt etwas erzwingen zu wollen, einfach unsere Wahrheit leben. Das, was dann geschehen kann, geht weit über unsere begrenzten Möglichkeiten hinaus, die Welt kurzfristig zu kontrollieren.
Als Individuen und als Spezies können wir es uns nicht länger leisten, die Tatsache unserer wechselseitigen Verbundenheit und Abhängigkeit zu ignorieren. Ebenso wenig dürfen wir übersehen, welche neuen Möglichkeiten sich aus unseren Sehnsüchten und Intentionen ergeben, wenn wir, jeder auf seine eigene Weise, hinter ihnen stehen, so mysteriös oder undurchsichtig sie uns zeitweise auch erscheinen mögen. Die Naturwissenschaften, die Philosophie, die Geschichte und die spirituellen Traditionen haben uns gelehrt, dass unsere individuelle Gesundheit, unser Wohlergehen und unser Glück davon abhängen, wie wir unser Leben gestalten, solange wir die Gelegenheit dazu haben – und sogar unser Fortbestehen als menschliche Spezies, dieser Lebensstrom, in dem wir nicht viel mehr sind als eine vergängliche Blase, in dem wir das Leben an die kommende Generation weitergeben und ihre Welt erschaffen, abhängig davon, welches Leben wir zu führen wählen, während wir es leben.
Gleichzeitig wird uns, als eine Kultur, langsam klar, dass diese Erde, auf der wir zu Hause sind, ganz zu schweigen von all den anderen Kulturen und Lebewesen darauf, wesentlich beeinflusst wird von ebendiesen Entscheidungen, die durch unser kollektives Verhalten als soziale Wesen noch viel deutlicher zutage treten.
Um nur ein Beispiel zu nennen, das inzwischen so gut wie jeder kennt und anerkennt, wenn es auch ein paar namhafte Ausnahmen gibt: Die globalen Temperaturen lassen sich mindestens 400000 Jahre ziemlich exakt zurückverfolgen, und es zeigt sich, dass sie zwischen extremer Hitze und extremer Kälte fluktuieren. Wir befinden uns in einer relativ warmen Phase, die bis vor Kurzem nicht wärmer als andere Wärmephasen war, die die Erde bereits durchgemacht hat. Doch zu meinem Erstaunen erfuhr ich bei einem Treffen zwischen dem Dalai Lama und einer Gruppe von Wissenschaftlern im Jahr 2002, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre in den vergangenen 44 Jahren sprunghaft um 18 Prozent angestiegen ist – auf das höchste Niveau der letzten 160 000 Jahre, gemessen am Kohlendioxidgehalt in Schneeproben in der Antarktis. Und der Spiegel steigt weiter, mit stetig zunehmender Geschwindigkeit.* Jahr für Jahr werden Hitzerekorde gebrochen.
Die dramatische und alarmierende jüngste Zunahme des CO2-Gehalts in der Atmosphäre ist einzig und allein auf menschliches Handeln zurückzuführen. Wenn diese Entwicklung anhält, wird sich der Anteil an Kohlendioxid in der Atmosphäre nach Vorhersage des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) bis zum Jahre 2100 verdoppelt haben, und in der Konsequenz dürften die globalen Durchschnittstemperaturen weltweit dramatisch ansteigen. Wie wir wissen, hat der Temperaturanstieg unter anderem zur Folge, dass es bereits jetzt im Sommer offenes Wasser am Nordpol gibt, dass das Eis beider Polarkappen immer mehr abschmilzt und die Gletscher weltweit rasch verschwinden. Die potenziellen Konsequenzen in Form einer Auslösung chaotischer Fluktuationen, die das Klima weltweit destabilisieren, sind besorgniserregend, wenn nicht gar erschreckend, und wir sehen die Folgen dieser Destabilisierung in den zunehmend schweren Stürmen, die auch auf unsere Städte treffen. Selbst wenn diese Prozesse an sich nicht vorhersehbar sind, so ist doch wahrscheinlich, dass es in relativ kurzer Zeit zu einem dramatischen Anstieg des Meeresspiegels kommen wird und die bewohnten Küstenregionen und Küstenstädte weltweit überflutet werden.
Wir könnten diese Temperaturveränderungen und Wettermuster als eines von vielen Symptomen einer Art „Autoimmunerkrankung der Erde“ bezeichnen, bei der ein Aspekt menschlichen Handelns das dynamische Gleichgewicht des „Körpers der Erde“ als Ganzes ernsthaft unterminiert. Ist uns das bewusst? Kümmert es uns? Ist es das Problem von irgendjemand anderem? Ist es „deren“ Problem, wer auch immer damit gemeint sein mag … die Naturwissenschaftler, die Regierungen, die Politiker, die Versorgungsbetriebe, die Autoindustrie? Ist es möglich, dass wir alle als Teil eines einzigen Körpers in Hinblick auf dieses Thema kollektiv zur Besinnung kommen, um wieder ein dynamisches Gleichgewicht herzustellen? Können wir das auch in Bezug auf andere Verhaltensweisen, mit denen wir als Spezies unser Leben und das der kommenden Generationen sowie auch das Leben vieler anderer Spezies auf Spiel setzen?
Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir dem Aufmerksamkeit schenken, was wir bereits wissen oder spüren – nicht nur was die äußere Welt unserer Beziehungen zu anderen und zu unserer Umwelt angeht, sondern auch was unsere eigenen Gedanken und Gefühle, Wünsche und Ängste, Hoffnungen und Träume betrifft. Wir alle, ganz gleich, wer wir sind und wo wir leben, haben einiges gemeinsam. Die meisten von uns eint der Wunsch, in Frieden zu leben, unseren eigenen Sehnsüchten und kreativen Impulsen nachzugehen und auf sinnvolle Weise zu einem größeren Zweck beitragen zu können. Wir möchten Zugehörigkeit empfinden, Wertschätzung dafür bekommen, wie wir sind, und als Individuen sowie Familien ein gutes Leben führen. Wir möchten in einer Gesellschaft leben, in der Sinnhaftigkeit und gegenseitige Achtung herrschen, wir wollen als Individuen in einem dynamischen Gleichgewicht leben, das man „Gesundheit“ nennt, und auch in einem kollektiven Gleichgewicht, das man früher „Gemeinwohl“ nannte. Es sollte ein Gleichgewicht sein, das unserer Verschiedenheit Rechnung trägt, unsere jeweiligen kreativen Potenziale fördert und uns die Möglichkeit eröffnet, frei zu sein von willkürlicher Gewalt und von dem, was unsere wichtigsten Lebensgrundlagen bedroht.
Ich glaube, dass sich ein solches kollektives dynamisches Gleichgewicht fast so anfühlen würde, als seien wir im Himmel – oder zumindest wie in einem behaglichen Zuhause. So fühlt sich Frieden an, wenn wir wirklichen Frieden erleben, im Innen wie im Außen. So fühlt es sich an, gesund zu sein. So fühlt sich wahres Glück an. Es ist, wie zu Hause zu sein, und zwar im tiefsten Sinne des Wortes. Ist es nicht das, was wir alle auf die ein oder andere Art wirklich wollen?
Ironischerweise ist ein solches Gleichgewicht jederzeit zum Greifen nah: in den „kleinen Dingen“, die in Wirklichkeit gar nicht so klein sind und nichts mit Wunschdenken, starrer oder autoritärer Kontrolle oder Utopien zu tun haben. Eine solche Balance ist bereits vorhanden, wenn wir uns auf unseren Körper und unseren Geist einstimmen, auf die Kräfte, die uns durch die Tage und Jahre vorwärtstragen, also auf unsere Motivation und unsere Vision dessen, wofür es sich zu leben lohnt und was getan werden muss. Sie ist vorhanden in den kleinen guten Taten des Alltags – innerhalb der Familie, aber auch unter Fremden, und in Kriegszeiten mitunter sogar unter angeblichen Feinden. Sie ist auch immer dann vorhanden, wenn wir unseren Müll recyceln, wenn wir Wasser sparen, mit anderen daran arbeiten, unsere Nachbarschaft lebenswerter zu machen, oder die vom Aussterben bedrohte Wildnis oder eine Spezies schützen, mit der wir die Erde teilen.
Wenn wir also unter einer Autoimmunerkrankung des Planeten leiden und die Ursache dieser Autoimmunerkrankung in den Taten und Bewusstseinszuständen der Menschheit zu suchen ist, dann sollten wir in Erwägung ziehen, was die Pioniere der modernen Medizin über den wirkungsvollsten Umgang mit solchen Erkrankungen zu sagen haben. In den letzten vierzig Jahren hat es umfangreiche Forschungen und klinische Erfahrungen im Bereich der sogenannten Geist-Körper-Medizin gegeben, in der Verhaltens-, der psychosomatischen, der integrativen und der Komplementärmedizin. Aus ihnen wird deutlich, dass das geheimnisvolle dynamische Gleichgewicht, das wir „Gesundheit“ nennen, sowohl vom Körper als auch vom Geist abhängt (wenn wir das Vokabular der merkwürdigen und künstlichen Spaltung, durch die wir diese beiden voneinander trennen, benutzen wollen) und dass es möglich ist, dieses Gleichgewicht durch spezifische Aufmerksamkeitsqualitäten, die unterstützend, erholsam und heilend wirken können, zu verbessern. Wie sich zeigt, haben wir alle tief in unserem Inneren das Potenzial zu einem dynamischen und lebenserhaltenden inneren Frieden und Wohlsein, zu einer vielseitigen, uns angeborenen Intelligenz, die weit über unser begriffliches Fassungsvermögen hinausreicht. Wenn es uns gelingt, diese Kapazitäten zu mobilisieren und weiterzuentwickeln, dann sind wir körperlich, emotional und spirituell gesünder. Und dazu noch glücklicher. Selbst unser Denken wird klarer, und wir werden weniger von Stimmungsschwankungen geplagt.
Diese Fähigkeit, aufmerksam zu sein und intelligent zu handeln, lässt sich mit der nötigen Motivation weit über unsere kühnsten Vorstellungen hinaus entwickeln. Es ist traurig, dass wir diese Motivation oft erst dann finden, wenn wir bereits lebensbedrohlich erkrankt sind oder einen Schock erlitten haben, der enorme körperliche und seelische Schmerzen hervorruft. Sie entsteht vielleicht erst, wie es bei so vielen der Patienten im MBSR-Programm unserer Stress Reduction Clinic der Fall war, wenn wir uns durch einen solchen Schock unsanft der Tatsache bewusst werden, dass die Möglichkeiten der sich auf moderne Technologie stützenden Medizin trotz ihrer bemerkenswerten Fortschritte doch äußerst begrenzt sind und vollständige Heilung eher selten vorkommt, dass Behandlungen oft bloß dazu dienen, den Status quo wiederherzustellen, falls es überhaupt eine wirksame Behandlung gibt, und dass selbst die Diagnose des Problems eine wenig exakte und nur allzu oft eine kläglich unzulängliche Wissenschaft ist.
Wie neuere Entwicklungen in der Medizin, der Neurowissenschaft und der Epigenetik gezeigt haben, kann man ohne Übertreibung sagen, dass es uns Menschen möglich ist, tiefe innere Kraftquellen anzuzapfen, die uns von Natur aus zu eigen sind: Ressourcen des Lernens, des Wachsens, der Heilung und der Transformation, die uns während unseres gesamten Lebens zur Verfügung stehen. Diese Fähigkeiten sind in unseren Chromosomen, Genen und Genomen angelegt, in unseren Gehirnen, Körpern und Geistern und auch in unseren Beziehungen zueinander und zu der Welt. Zugang zu ihnen bekommen wir immer nur von dem Punkt aus, an dem wir uns gerade befinden, nämlich „hier“, und in dem einzigen Augenblick, der uns zur Verfügung steht, nämlich „jetzt“. Wir alle haben das Potenzial zu Heilung und Transformation, ganz gleich, in welcher Situation wir uns befinden und ob diese Situation schon lange anhält oder erst kürzlich entstanden ist, ob wir sie als „gut“, „schlecht“, „unschön“, „hoffnungslos“ oder „hoffnungsvoll“ betrachten, ob wir die Gründe im Inneren oder im Außen vermuten. Diese inneren Ressourcen sind unser Geburtsrecht. Sie stehen uns während unseres ganzen Lebens zur Verfügung, da sie in keiner Weise etwas von uns Getrenntes sind. Es liegt in unserer Natur als Spezies, zu lernen, zu wachsen, heil zu werden und mehr Weisheit in unserer Sichtweise und in unseren Handlungen sowie mehr Mitgefühl mit uns selbst und anderen zu entwickeln.
Dennoch müssen diese Fähigkeiten erst einmal entdeckt, entwickelt und genutzt werden. Darin liegt die Herausforderung unseres Lebens: die Chance zu nutzen, aus den Augenblicken, die uns gegeben sind, das Beste zu machen. Nur allzu leicht vergeuden wir die kostbaren Momente unseres Lebens mit allem möglichen Kram, sei es beabsichtigt oder unabsichtlich. Doch es ist ebenso leicht, uns bewusst zu werden, dass uns im Leben nun einmal nicht mehr zur Verfügung steht als ebendiese Augenblicke, dass es ein Geschenk ist, wirklich darin gegenwärtig zu sein, und dass interessante Dinge geschehen, wenn wir es sind.
Diese lebenslange Herausforderung – die Entscheidung für das Lernen, Wachsen, Heilen und die Transformation in genau diesem Augenblick – ist zugleich auch das Abenteuer des Daseins. Hier beginnt der Weg zur Erkenntnis dessen, was wir wirklich sind, und dazu, unser Leben so zu führen, als käme es wirklich darauf an. Es zählt tatsächlich – viel mehr, als wir glauben mögen oder uns vorstellen können, und zwar nicht bloß im Hinblick auf unser eigenes Vergnügen oder unsere Leistung, auch wenn diese Erkenntnis unserer Freude, unserem Wohlbefinden und unserer Leistungsfähigkeit ebenfalls zugute kommt.
Dieser Weg zu mehr Gesundheit und geistiger Klarheit beginnt damit, dass wir die Ressourcen, die wir bereits besitzen, mobilisieren und weiterentwickeln. Die wichtigste davon ist unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein, insbesondere für jene Aspekte unseres Lebens, um die wir uns bisher wenig gekümmert haben, von denen wir vielleicht sagen würden, dass wir sie schon eine gefühlte Ewigkeit ignorieren.
Wenn wir aufmerksam sind, kommen wir unserem Bewusstsein näher, jenem Aspekt unseres Daseins, der neben der Sprache das Potenzial unserer Spezies zum Lernen und zur Transformation ausmacht. Wir entwickeln und verändern uns, wir lernen und werden uns gewahr durch die direkte Wahrnehmung mittels unserer fünf Sinne in Verbindung mit der Kraft des Geistes, der im Buddhismus als ein eigenständiger Sinn betrachtet wird. Wir sind fähig wahrzunehmen, dass jeder einzelne Aspekt unserer Erfahrung innerhalb eines unendlichen Geflechts von Beziehungen existiert, von denen einige für unser unmittelbares und langfristiges Wohlergehen von großer Bedeutung sind. Zwar mögen wir viele dieser Beziehungen nicht sofort erkennen, und vielleicht handelt es sich dabei um bislang eher verborgene Dimensionen im Gefüge unseres Lebens, die noch der Entdeckung harren. Aber dennoch sind diese verborgenen Dimensionen – oder das, was wir „neue Grade der Freiheit“ nennen könnten – uns potenziell zugänglich, und sie werden sich nach und nach enthüllen, wenn wir unsere Fähigkeit zum bewussten Gewahrsein kultivieren und darin verweilen, indem wir unsere Aufmerksamkeit staunend und liebevoll auf das verblüffend komplexe und doch grundlegend geordnete Universum gerichtet halten, auf das Terrain – sei es die Welt, das Land, den sozialen Kreis, die Familie, den Körper, den Geist –, innerhalb dessen wir uns befinden und orientieren. All das ist auf allen Ebenen in einem ständigen Wandel und Fluss, ob wir uns dessen nun bewusst sind oder nicht, ob es uns gefällt oder nicht, und gibt uns somit unzählige und unerwartete Möglichkeiten, aufzuwachen und klarer zu sehen. Dann können wir wachsen, in unseren Handlungen mehr Weisheit verkörpern und das quälende Leid in unserem aufgewühlten Geist lindern, der für gewöhnlich so weit von seiner Heimat, von innerer Ruhe und Frieden, entfernt ist.
Diese Reise hin zu Gesundheit und geistiger Klarheit ist nicht weniger als die Einladung, zur Fülle unseres Lebens zu erwachen, solange wir noch Zeit dazu haben, statt dies erst, wenn überhaupt, auf unserem Totenbett zu tun. Davor hat uns schon Henry David Thoreau so eindringlich gewarnt, als er in Walden schrieb:
Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewusst zu leben, es nur mit wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben.
Zu sterben, ohne wirklich gelebt zu haben, ohne zu unserem Leben erwacht zu sein, stellt eine stetige und ernste Gefahr für uns alle dar angesichts unserer automatisierten Gewohnheiten und des gnadenlosen Tempos, in dem sich die Dinge heutzutage entwickeln, viel schneller als noch zu Thoreaus Zeiten. Dazu trägt auch die Achtlosigkeit bei, die so oft unsere Beziehungen zu dem prägt, was uns vielleicht das Allerwichtigste im Leben, zugleich aber auch das am wenigsten Offenkundige ist.
Doch wie schon Thoreau uns rät, können wir lernen, uns in der uns innenwohnenden Fähigkeit zu weiser und offenherziger Aufmerksamkeit zu verankern. Er weist darauf hin, dass es sowohl möglich als auch äußerst erstrebenswert ist, das weite Gewahrsein in Herz und Geist zunächst zu kosten und dann darin zu verweilen. Wenn wir dieses Gewahrsein auf die richtige Weise kultivieren, kann es die Schleier unserer zur Routine gewordenen Gedankenmuster, Sinneswahrnehmungen und Beziehungen durchdringen und uns von ihnen sowie auch von den häufig sehr turbulenten und destruktiven Bewusstseinszuständen und Emotionen befreien, die mit ihnen einhergehen. Solche Gewohnheiten sind stets von der Vergangenheit bestimmt, nicht nur von unserem genetischen Erbe, sondern auch von unseren Erfahrungen: von Traumata und Ängsten, vom Mangel an Vertrauen und Sicherheit, von Gefühlen der Wertlosigkeit, die daher rühren, dass wir nicht gesehen und wertgeschätzt wurden, sowie von lange gehegtem Groll aufgrund alter Kränkungen, Ungerechtigkeiten oder ganz offensichtlichen und überwältigenden Verletzungen. Es sind diese Gewohnheiten, die heute unsere Sicht einschränken, unser Verständnis verzerren und uns, wenn wir uns ihnen nicht zuwenden, daran hindern, zu wachsen und heil zu werden.
Um zur Besinnung zu kommen, im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne, sowohl im Großen und Ganzen als Spezies als auch im Kleinen als Individuum, müssen wir als Erstes zum Körper zurückkehren, zu jenem Ort, an dem unsere biologischen Sinne und das, was wir den „Geist“ nennen, lebendig sind. Der Körper ist etwas, was wir meist ignorieren, mitunter bewohnen wir ihn kaum, wir schenken ihm zu wenig Aufmerksamkeit und achten ihn nicht genug. Unser eigener Körper ist seltsamerweise eine Landschaft, die uns sowohl vertraut als auch erstaunlich fremd ist. Manchmal fürchten wir uns vor ihm oder verabscheuen ihn geradezu, je nachdem, was wir erlebt haben oder zu erleben fürchten. Dann wiederum sind wir völlig eingenommen von ihm; wir sind besessen von seiner Größe, seiner Form, seinem Gewicht, seinem Aussehen und laufen Gefahr, in unbewusste und anscheinend endlose Selbstverlorenheit und Narzissmus zu verfallen.
Wie wir aus den zahlreichen Studien wissen, die in den letzten vierzig Jahren im Bereich der Geist-Körper-Medizin durchgeführt wurden, ist es auf der Ebene des Individuums möglich, zu einem gewissen Ausmaß Frieden in Körper und Geist zu finden – und damit mehr Gesundheit, Wohlbefinden, Glück und Klarheit, selbst inmitten großer Schwierigkeiten und Herausforderungen. Mittels des MBSR-Ansatzes sind bereits Tausende zu dieser Reise aufgebrochen und haben berichtet, wie viel sie für sich selbst, aber auch für ihre Mitmenschen daraus gewinnen konnten. Es hat sich gezeigt, dass Aufmerksamkeit ein Weg ist, auf dem wir Zugang zu diesen verborgenen Dimensionen und diesen neuen Graden von Freiheit finden können, ein Weg, der nicht bloß einigen wenigen Auserwählten offensteht. Jeder kann sich auf diesen Pfad begeben und dort sehr vieles finden, was ihm nützlich ist und ihm wohltut.
Zur Besinnung kommen ist etwas, was keinerlei Zeit erfordert, einzig und allein unsere Präsenz und Wachheit hier und jetzt. Paradoxerweise ist es zugleich eine lebenslange Aufgabe. Man könnte sagen, dass wir uns dieser Aufgabe „für unser Leben“ widmen – in jedem denkbaren Sinne.
Wollen wir auf allen nur möglichen Ebenen zur Besinnung kommen, dann besteht der erste Schritt darin, dass wir Intimität mit unserem Bewusstsein an sich entwickeln. „Achtsamkeit“ ist ein Synonym für „Gewahrsein“. Meine Arbeitsdefinition von Achtsamkeit lautet: „das Gewahrsein, das entsteht, wenn man absichtsvoll aufmerksam ist, im gegenwärtigen Moment und ohne zu urteilen“. Sollten Sie einen weiteren guten Grund brauchen, ließe sich dem noch hinzufügen: „im Dienste der Weisheit, des Verständnisses für uns selbst und des Erkennens unserer intrinsischen Verbundenheit mit anderen und der Welt und somit auch im Dienste von Güte und Mitgefühl“. Achtsamkeit hat eine intrinsische ethische Dimension, wenn man versteht, was „ohne zu urteilen“ wirklich bedeutet. Ganz sicher bedeutet es nicht, dass Sie keine Urteile mehr haben sollen – Sie werden weiterhin jede Menge Urteile haben. Es ist vielmehr eine Einladung, sich mit den Urteilen zurückzuhalten, so gut Sie können, und sie einfach zu erkennen, wenn sie auftauchen, aber dann auch das Urteilen selbst nicht zu verurteilen.
Unsere Fähigkeit zu Gewahrsein und Selbsterkenntnis könnte man als die „ultimative Gemeinsamkeit auf dem Weg zu unserem eigentlichen Menschsein“ bezeichnen. Durch die Kultivierung von Achtsamkeit bekommen wir Zugang zu der Kraft und Weisheit unseres Gewahrseins. Und mittels Achtsamkeitsmeditation kann man Achtsamkeit als Praxis und als Seinsweise sorgsam und systematisch kultivieren, entwickeln und verfeinern.
Die Achtsamkeitspraxis hat sich in den letzten vierzig Jahren – nicht zuletzt aufgrund der stetig steigenden Zahl an wissenschaftlichen und medizinischen Studien zu ihren vielfältigen Wirkungen – rasch in der ganzen Welt ausgebreitet und ist zu einem Bestandteil der westlichen Kultur geworden, und in verschiedensten Bereichen ist ein explosionsartig ansteigendes Interesse zu verzeichnen, sei es an weiterführenden Schulen und Hochschulen, in der Geschäftswelt, im Sport, in der Justiz, im Militär und in Regierungsinstitutionen, von Psychologie und Psychotherapie ganz zu schweigen. Wie bereits erwähnt: Falls Sie allerdings zu den Menschen gehören sollten, die bereits ein seltsames Gefühl beschleicht, wenn sie den Begriff „Meditation“ auch nur hören, oder falls Sie aufgrund Ihrer Vorstellungen davon denken, das sei ohnehin nichts für Sie, dann ziehen Sie in Betracht, dass Meditation, und ganz besonders Achtsamkeitsmeditation, nicht das ist, was Sie denken.
An Meditation ist überhaupt nichts Außergewöhnliches oder Seltsames. Es geht im Wesentlichen nur darum, dass wir in unserem Leben so aufmerksam sind, als käme es wirklich darauf an – denn wie ebenfalls schon gesagt wurde: Es kommt darauf an, und zwar mehr, als Sie vielleicht denken mögen. Trotzdem kann es hilfreich sein, wenn wir im Gedächtnis behalten, dass Meditation zwar nichts Außergewöhnliches, zugleich aber etwas ganz Besonderes und Transformierendes ist, auf eine Weise, die man sich nicht wirklich vorher vorstellen kann – was uns aber nicht davon abhält, es uns dennoch vorzustellen.
Wenn man Achtsamkeit entwickelt und sie immer feiner werden lässt, kann sie auf jeder Ebene des Lebens eine positive Wirkung entfalten, auf der privaten und der beruflichen, der gesellschaftlichen, politischen und globalen. Allerdings setzt das voraus, dass wir motiviert sind herauszufinden, wer wir wirklich sind, und unser Leben in dem Bewusstsein zu leben, dass es einen Unterschied macht, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die anderen und die Welt. Denn wenn wir aufwachen, realisieren wir, dass die Realität an sich und damit auch die Welt, die wir bewohnen, zutiefst von Verbundenheit durchzogen ist. Nichts ist wirklich von irgendetwas anderem getrennt. Und diese Verbundenheit wird umso offensichtlicher, je mehr wir uns darin üben, wach und bewusst zu sein.
Dieses lebenslange Abenteuer beginnt genau dann, wenn wir unseren ersten Schritt machen. Indem wir diesen Pfad beschreiten, wie wir es mit diesem Buch und den folgenden drei Bänden gemeinsam tun, werden wir sehen, dass wir mit unseren Bemühungen nicht allein sind, ebenso wenig wie mit unseren Schwierigkeiten im Leben. Denn wenn Sie mit der Praxis der Achtsamkeit beginnen, dann werden Sie Teil einer wachsenden, immer stärkeren globalen Gemeinschaft, die sich darum bemüht, absichtsvoll und offen zu leben, und die letztendlich uns alle mit einschließt. Eine Sache noch, bevor wir uns auf den Weg machen. Soviel wir auch an uns arbeiten mögen, um durch die Kultivierung von Achtsamkeit zu lernen, daran zu wachsen und das zu heilen, was der Heilung bedarf: Völlige Gesundheit ist unmöglich in einer Welt, die in vielerlei Hinsicht zutiefst ungesund ist und in der es offensichtlich so viel Leiden und Not gibt, sowohl bei denen, die uns nahestehen, als auch bei jenen, die wir gar nicht kennen, sei es gleich nebenan oder auf der anderen Seite der Erde. Da wir mit allem verbunden sind, ist das Leiden der anderen zugleich unser eigenes Leiden, selbst wenn wir uns manchmal gern davon abwenden würden, weil es so schwer zu ertragen ist. Dies muss jedoch kein Problem sein; es kann vielmehr zu einer starken Motivation für innere und äußere Transformation in uns selbst und in der Welt werden.
Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Welt an einer ernsthaften und fortschreitenden Krankheit leidet. Ein Blick zurück in die Geschichte überall und zu jeder Zeit, auch auf das heutige Leben, zeigt ganz deutlich, dass unsere Welt immer wieder von Krämpfen des Irrsinns geschüttelt wird, von Phasen, die wie eine Art kollektiver Wahnsinn wirken, in denen Engstirnigkeit und Fundamentalismus das Ruder übernehmen und großes Elend, Verwirrung und die Gesellschaft zersetzende Kräfte den Status quo beherrschen. Diese Eruptionen sind das genaue Gegenteil von Weisheit und Gleichgewicht. Nicht selten gehen sie mit einer arroganten Verherrlichung der eigenen Position und der schamlosen Ausbeutung anderer einher, und fast immer beruhen sie auf einer Ideologie politischer, kultureller, religiöser oder wirtschaftlicher Überlegenheit, selbst wenn diese sich sprachlich hinter der Fassade von Humanismus, wirtschaftlicher Entwicklung und Globalismus versteckt sowie des allzu verführerischen Köders des zu eng gefassten materiellen „Fortschritts“ und der Demokratie nach westlichem Vorbild. Unter der Oberfläche haben diese Kräfte oft eine kulturelle Gleichschaltung und die Zerstörung der Umwelt zur Folge, ebenso wie die grobe Missachtung der Menschenrechte, was zusammengenommen tatsächlich einer Krankheit gleichkommt. Das Pendel scheint immer schneller auszuschlagen, sodass es kaum Zeiten gibt, in denen der Irrsinn zumindest vorübergehend aussetzt und wir tatsächlich einmal zu innerer Ruhe und einem Gefühl tiefen Friedens finden können.
Im 20. Jahrhundert gab es bekanntlich mehr systematisches Morden im Namen des Friedens und der Beendigung von Kriegen als in allen Jahrhunderten davor zusammengenommen, wobei die große Mehrheit davon, vielleicht ironischerweise, in Europa und dem Fernen Osten stattfand, in den damaligen großen Zentren der Bildung und der Hochkultur. Und im 21. Jahrhundert geht es gerade so weiter, selbst wenn dies in anderen, nicht minder verstörenden Erscheinungsformen geschieht. Wer auch immer die Protagonisten sind und um welche rhetorischen und konkreten Themen der Streit sich auch dreht, werden Kriege, zu denen ebenso verdeckte und Antiterrorkriege gehören, auf allen Seiten stets im Namen überaus hehrer Ideale und Prinzipien ausgetragen. Selbst wenn die Auseinandersetzungen unvermeidbar erscheinen, führen sie stets zu einem mörderischen Blutvergießen und schaden am Ende sowohl den Angegriffenen als auch den Aggressoren. Und sie gehen immer auf Störungen im menschlichen Geist zurück. Doch wenn wir uns zur Lösung von Problemen der Anwendung von Gewalt bedienen, statt auf andere, kreativere Mittel zurückzugreifen, macht uns das blind für die Tatsache, dass Krieg und Gewalt selbst Symptome jener Autoimmunerkrankung sind, unter der unsere gesamte Spezies zu leiden scheint. Es macht uns blind dafür, dass andere Wege zur Wiederherstellung von Harmonie und Balance möglich sind, wenn diese durch ganz reale, sehr gefährliche und sogar virulente Kräfte unterbrochen werden, an deren Erstarken und Verbreitung wir vielleicht unfreiwillig mitwirken, selbst wenn wir sie ansonsten verabscheuen, ihnen entschlossen entgegentreten und sie bekämpfen.
Es ist heutzutage sehr viel leichter, einen Krieg zu „gewinnen“, als in den Wirren, die auf den Krieg folgen, wirklichen Frieden zu erreichen, wie beispielsweise die Vereinigten Staaten im Irak und in Afghanistan erfahren mussten. Denn dazu ist eine völlig andere Art des Denkens, des Bewusstseins und der Planung erforderlich, eine Denkart, die nur daraus erwachsen kann, dass wir uns selbst besser verstehen und ein mitfühlendes Verständnis für andere entwickeln, die vielleicht nicht nach dem streben, was wir für das Wichtigste halten, die ihre eigene Kultur haben, ihre eigenen Gebräuche und Werte und die dieselben Ereignisse vielleicht ganz anders wahrnehmen als wir, so schwer es uns manchmal fallen mag, das zu glauben. De facto ist dies den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa mit dem Marshallplan und seinem mitfühlenden Geist sowie seiner Weisheit auf bemerkenswert vorausschauende Weise gelungen.
Dennoch müssen wir immer wieder erkennen, dass sowohl die Wahrnehmung als auch die Beweggründe, welche die Wahrnehmung prägen und aus ihr resultieren, subjektiv, selektiv wie auch relativ und bedingt sind, dass sie zudem in engen Schleifen gefangen sind, die einer weiteren, integrativeren und sicherlich realistischeren Sichtweise im Weg stehen. Angesichts des Zustands der Welt ist es vielleicht an der Zeit, dass wir Zugang zu den tieferen Dimensionen der menschlichen Intelligenz und Verbundenheit finden, die unseren unterschiedlichen Weltanschauungen zugrunde liegen. Das legt die Vermutung nahe, dass es höchst unklug ist, einzig und allein nach unserem individuellen Wohlergehen und unserer eigenen Sicherheit zu streben. Sind doch unser Wohlergehen und unsere Sicherheit in dieser zunehmend kleiner werdenden Welt ganz eng an das Wohlergehen und die Sicherheit aller anderen Menschen gekoppelt. Zur Besinnung kommen bedeutet unter anderem, dass wir ein umfassendes Bewusstsein all unserer Sinne entwickeln, einschließlich unseres Geistes und seiner Begrenztheit, und dass wir, wenn wir verunsichert sind oder über viele Ressourcen verfügen, der Versuchung widerstehen, alle Variablen in der äußeren Welt so weit wie nur möglich kontrollieren zu wollen. Das ist ein aussichtsloses Unterfangen, das in sich gewaltsam ist, letztlich unsere Kräfte aufzehrt und sich selbst erschöpft.
Auch was die Gesundheit des Planeten Erde angeht, müssen wir ein Bewusstsein für den Körper erlangen, in diesem Fall für den „politischen Körper“, der aus verschiedenen Gruppen, Unternehmen und Nationen besteht, die jeweils ihre ganz eigenen Sorgen, Anfälligkeiten und besonderen Perspektiven pflegen. Im Rahmen ihrer jeweiligen Tradition und Kultur verfügen sie aber auch über Ressourcen zur Förderung von Selbstgewahrsein und Heilung, und nicht zuletzt ergeben sich aus dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Traditionen – eine der Besonderheiten der heutigen Welt – ganz neue Möglichkeiten.
Eine Autoimmunerkrankung bedeutet, dass das Immunsystem, das eigentlich für die Sicherheit des Körpers sorgen soll, Amok läuft und der Körper seine eigenen Zellen, sein Gewebe und somit sich selbst angreift. Kein Körper, auch kein politischer Körper, kann unter solchen Bedingungen lange weiter bestehen, ganz gleich, wie gesund und vital er sonst sein mag. Genauso wenig kann es einem Land auf lange Sicht in der Welt gutgehen, wenn seine Außenpolitik zu weiten Teilen von einer allergischen Reaktion bestimmt wird, eines der Symptome für ein entgleistes Immunsystem – auch nicht unter der Entschuldigung, selbst wenn etwas dran sein mag, dass wir kollektiv unter schwerem posttraumatischem Stress leiden, wie etwa durch die Angriffe am 11. September 2001, der Entstehung des IS sowie des globalen Terrorismus. Das Erblühen verschiedener Strömungen von toxischem und rassistischem Populismus lässt da nicht lange auf sich warten. Solche Bedingungen können wohlmeinende wie auch zynische politische Führer dazu verführen, die Ereignisse für bestimmte Zwecke auszubeuten, die wenig bis gar nichts mit Heilung, tatsächlicher Sicherheit oder authentischer Demokratie zu tun haben.
Wie es bei Menschen der Fall ist, die durch einen Herzanfall oder eine unerwartete Diagnose ganz plötzlich auf den Weg der Suche nach mehr Gesundheit und umfassenderem Wohlergehen gestoßen werden, kann ein solcher Schock, wie schrecklich er auch sein mag, zu einem Weckruf werden, wenn man ihm mit Fürsorge und Aufmerksamkeit begegnet. Auf diese Weise können tiefe und machtvolle Ressourcen der Heilung und Neuorientierung mobilisiert werden, durch die wir unsere Energien und Prioritäten neu ausrichten können, die wir vielleicht für lange Zeit vernachlässigt oder sogar ganz vergessen haben, und zugleich können wir achtsam und entschlossen handeln, um uns für unsere Sicherheit und unser Wohlergehen einzusetzen.
Die Heilung der Welt als Ganzes ist das Werk zahlreicher Generationen. An vielen Stellen hat sie bereits begonnen, indem Menschen sich bewusst geworden sind, welch enormes Risiko wir eingehen, wenn wir die lebensbedrohliche Erkrankung des „Patienten Erde“ weiterhin ignorieren, wenn wir der Geschichte des Patienten keine Aufmerksamkeit widmen, also dem Leben auf dem Planeten und insbesondere dem menschlichen Leben, da das Handeln des Homo sapiens in der heutigen Zeit das Schicksal der Lebewesen auf dieser Erde für viele kommende Generationen bestimmt, und auch wenn wir der so offensichtlichen Diagnose Autoimmunerkrankung keine Beachtung schenken, weil wir uns schwertun, sie zu akzeptieren, und uns nicht um eine mögliche Heilung bemühen, solange noch die Möglichkeit dazu besteht, was mit einschließen würde, unsere tiefste und beste Natur als lebendige und daher fühlende Wesen zu integrieren.
Die Heilung unserer Welt, und sei es auch nur im Ansatz, verlangt, dass wir unsere vielfältige Intelligenz in den Dienst des Lebens, der Freiheit und des Strebens nach wahrem Glück stellen, für uns selbst und für zukünftige Generationen – und nicht nur für die Amerikaner und die anderen Menschen des Westens, sondern für alle Bewohner dieses Planeten, auf welchem Kontinent oder welcher Insel auch immer, und nicht nur für Menschen, sondern auch für alle anderen Kreaturen, die im Buddhismus oft „fühlenden Wesen“ genannt werden.
Denn am Ende ist das Fühlen der Schlüssel, wenn wir zur Besinnung kommen und zu dem erwachen wollen, was möglich ist. Wir müssen lernen, wie wir unsere Bewusstheit sowie unser Vermögen zur klaren Sicht der Dinge und zum selbstlosen Handeln nutzen, entwickeln und uns zu eigen machen, sowohl als Individuen wie auch in unseren Institutionen – zum Beispiel in Unternehmen, Regierungsinstitutionen und größeren internationalen Zusammenschlüssen wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union. Ansonsten verdammen wir uns selbst zur Autoimmunkrankheit unserer Unbewusstheit, aus der endlose Kreisläufe von Illusion, Verblendung, Habgier, Angst, Grausamkeit, Selbsttäuschung und letztlich auch willkürlicher Zerstörung und Tod resultieren. Die menschliche Spezies selbst ist die Autoimmunkrankheit des Planeten Erde. Wir sind sowohl der Krankheitserreger als auch ihr erstes Opfer. Aber das ist keineswegs das Ende der Geschichte, zumindest noch nicht, nicht jetzt.
Solange wir atmen, ist noch Zeit, dass wir uns für das Leben entscheiden und darüber nachdenken können, was eine solche Wahl von uns verlangt. Diese Wahl ist etwas ganz Konkretes, von Augenblick zu Augenblick, nicht irgendeine gewaltige und einschüchternde Abstraktion. Sie ist ganz nah an der Substanz und dem Substrat unseres sich entfaltenden Lebens, im Inneren in unseren Gedanken und Gefühlen und im Äußeren in unseren Worten und Taten, in einem jeden Moment.
Die Welt braucht all ihre Blumen genauso, wie sie sind, selbst wenn sie nur für einen ganz kurzen Augenblick erblühen, die wir „Lebenszeit“ nennen. Es ist unsere Aufgabe, für jeden Einzelnen und als Kollektiv, herauszufinden, was für eine Art Blume wir sind, in der kostbaren Zeit, die wir haben, unsere einzigartige Schönheit mit der Welt zu teilen und unseren Kindern und Enkeln ein Vermächtnis von Weisheit und Mitgefühl zu hinterlassen, das wir durch unseren Lebensstil verkörpern, durch unsere Institutionen, und in Anerkennung unserer Verbundenheit, zu Hause und auf der ganzen Welt. Warum sollten wir es nicht riskieren, uns für geistige und seelische Gesundheit in unserem eigenen Leben und in der Welt einzusetzen, in der das Innen und das Außen sich gegenseitig und unser Genie als Spezies widerspiegeln?
Dabei kommt es auf die kreativen Bemühungen und Handlungen eines jeden von uns an, und es steht nicht weniger auf dem Spiel als die Gesundheit unseres Planeten. Man könnte sagen, dass die Welt – buchstäblich und metaphorisch – für uns als Spezies stirbt, damit wir zur Besinnung kommen. Darum ist es jetzt an der Zeit, dass wir ganz zu unserer Schönheit erwachen, dass wir das Werk unserer Selbstheilung, der Heilung unserer Gesellschaften und der Erde angehen, es vorantreiben und dabei auf alles Wertvolle aufbauen, was bereits da ist und jetzt zur Blüte kommt. Keine Absicht ist zu klein und keine Bemühung zu unbedeutend. Jeder Schritt auf diesem Weg macht einen Unterschied. Und wie Sie sehen werden: Jeder Einzelne von uns zählt. Wie im Vorwort beschrieben, ist dieses Buch der erste von vier Bänden, die jeweils in zwei Teile gegliedert sind. In alle vier Bände habe ich hier und da Geschichten aus meiner eigenen Erfahrung eingewoben. Damit möchte ich Ihnen einen Eindruck von dem Paradoxon vermitteln, dass Meditation einerseits etwas ganz Persönliches und Individuelles ist, andererseits aber sehr unpersönlich und universell jenseits all der selbstbezogenen Skripte über „mein“ Leben und „meine“ Erfahrung, die von der ichbildenden Gewohnheit des Geistes unablässig ausgeheckt werden. Ich möchte ein Gefühl dafür vermitteln, wie wichtig es ist, die eigene Erfahrung zwar ernst, nicht aber persönlich zu nehmen und ihr mit einem gesunden Maß an Unbekümmertheit und Humor zu begegnen, gerade angesichts des ungeheuren Leids, in das wir unentrinnbar verwickelt sind, und im Lichte der Vergänglichkeit all jener Zerrbilder, die wir „unsere Meinungen und Ansichten“ nennen und an denen wir verzweifelt festhalten, um der Welt und unserem Dasein irgendeinen Sinn abzugewinnen.
Im ersten Teil dieses Bandes geht es darum, was Meditation ist, was sie nicht ist und wie die Kultivierung von Achtsamkeit aussehen kann. Im zweiten Teil werden die ursprünglichen Quellen unseres Leidens und unseres „Un-Wohlseins“ untersucht. Und es wird gezeigt, dass Aufmerksamkeit an sich eine befreiende Wirkung hat, wenn wir sie bewusst und ohne zu urteilen einsetzen, wie Meditation in die Medizin integriert wird und wie sie neue Dimensionen unseres Geistes und unseres Herzens offenbart, die zutiefst heilend und transformierend sein können.
Der erste Teil des zweiten Buchs Wach werden und das Leben wirklich leben ist der Erkundung der „Sinneslandschaften“ gewidmet und geht der Frage nach, wie bewusstere Sinneswahrnehmung unser Wohlergehen fördern und unser Leben bereichern kann. Im zweiten Teil erhält der Leser detaillierte Anleitungen zur Entwicklung von Achtsamkeit durch die verschiedenen Sinne. Dabei wird ein Spektrum unterschiedlicher Meditationsmethoden vorgestellt und ein Geschmack für ihren außerordentlichen Reichtum vermittelt, der uns in jedem Moment zugänglich ist.
Im dritten Buch Das heilende Potenzial der Achtsamkeit geht es im ersten Teil darum, wie die Entwicklung von Achtsamkeit zu Heilung und größerem Glück führen kann, und zwar durch eine „orthogonale* Rotation im Bewusstsein“ in der Weise, wie wir die Welt begreifen und uns in ihr verhalten. Der zweite Teil befasst sich vertiefend mit der Kultivierung von Achtsamkeit und gibt Beispiele dafür, wie sie in verschiedene Aspekte unseres täglichen Lebens hineinwirken kann. Das reicht vom echten Erleben des gegenwärtigen Augenblicks über ganz und gar weltliche Aspekte bis dahin, zu „sterben, bevor wir sterben“.
Das vierte Buch Achtsamkeit für alle befasst sich im ersten Teil aus der Perspektive der Geist-Körper-Medizin mit der Welt der Politik und den Belastungen, denen die Welt ausgesetzt ist, und bietet einige Vorschläge dazu, wie Achtsamkeit helfen könnte, die Gesundheit des politischen Körpers und der gesamten Erde zu verbessern und zu transformieren. Der zweite Teil stellt unser Leben und die Herausforderung, mit der wir heute konfrontiert sind, in den größeren Kontext der Evolution der menschlichen Spezies und enthüllt verborgene Dimensionen dessen, was möglich ist, damit wir unser Leben von Augenblick zu Augenblick und von Tag zu Tag in dem Bewusstsein leben können, dass es wirklich darauf ankommt.
Wie bereits angemerkt gibt es eine Abfolge durch die vier Bände, von dem „Was“ und dem „Warum“ der Achtsamkeit darüber, „wie“ wir sie in unserem Leben kultivieren können, über die Gründe, die uns dazu motivieren mögen – in anderen Worten das „Versprechen“ der Achtsamkeit –, bis zu deren Verwirklichung darin, wie wir von Moment zu Moment unser Leben leben. Ich hoffe, dass Sie darin viel Wertvolles für sich entdecken werden!
* Steven Chu, Stanford University, Physiknobelpreisträger, Mind and Life Institute, Dialogue X, Dharamsala, Indien, Oktober 2002.
* Lassen Sie sich von dem Begriff „orthogonal“ nicht einschüchtern. Er bedeutet einfach „um neunzig Grad“ im Verhältnis zu dem verwendeten Koordinatensystem. Er soll eine neue Dimension jenseits der konventionellen beschreiben, mit denen wir vertraut sind, um uns eine neue Perspektive auf das Ganze zu geben, die auf dieser größeren Dimensionalität beruht.